Alle Vorwürfe der Anklage hätten sich in der Beweisaufnahme bestätigt, schickte der Oberstaatsanwalt voraus. Der 40-Jährige sei erfahren und habe gute dienstliche Beurteilungen. Im Stellwerk Bad Aibling sei er zu 70 Prozent ausgelastet gewesen: »Alle halbe Stunde kommt ein Zug. Eine Kreuzung auf einem Bahnhof muss vollzogen werden. Das ist eine einfache Tätigkeit. Er kann das fast im Schlaf. Ihm ist langweilig.« 2015 habe der Angeklagte ein Smartphone gekauft und mit dem Online-Spiel »Dungeon Hunter V« begonnen. Vom 1. Januar bis zu dem Unglück habe er an 17 Tagen im Dienst gespielt.
Das Stellwerk bezeichnete Branz als technisch »etwas älter, jedoch bewährt, sicher und zuverlässig«. Die gesamte Technik bis zu Zugfunk und den Triebfahrzeugen neuester Bauart sei überprüft worden: »Wir haben keinen Fehler gefunden, der ursächlich war für das Unglück.« Die Zugführer hätten sich korrekt verhalten.
Der Oberstaasanwalt skizzierte den Geschehensablauf und berief sich auf die Sachverständigen. Jeder habe einen »Zeitstrahl«, eine genaue Abfolge der Ereignisse, erstellt. Alles sei aufeinandergelegt worden. An jenem Morgen habe der Fahrdienstleiter morgens zweimal kurz »Dungeon Hunter V« gespielt, dann ab 5.11 Uhr eine über eineinhalbstündige Spielesitzung gestartet, die bis fast zum ersten Notruf dauerte.
Die beiden Züge aus Holzkirchen und Rosenheim hätten sich am Bahnhof Kolbermoor kreuzen sollen. Der Angeklagte sei von einem Kreuzen der Züge in Bad Aibling ausgegangen. Der Ankläger weiter: »Irgendwann bemerkt der Fahrdienstleiter seinen Irrtum. Er korrigiert den Fehler. Dann versucht er, eine normale Fahrstraße für den zweiten Zug zustellen – was ihm nicht gelingt. Dann nimmt das Unheil seinen Lauf.« Beim zweiten, wiederum falsch gewählten Notruf waren die Züge schon kollidiert.
»Ich war selbst am Unglücksort. Was ich dort gesehen habe, hat sich in meiner Seele festgesetzt. Die Folgen dieses Unfalls waren verheerend«, fuhr Jürgen Branz fort. Der Angeklagte hätte sicherstellen müssen, dass kein Gegenverkehr kommen kann. Er habe den Zugverkehr »gedankenlos« geregelt: »Man hat das Gefühl, wie nebenbei.« Die Frage sei, warum er alle Vorsichtsmaßnahmen außer Acht gelassen habe.
»Hier liegt der Grund für die Fehlhandlungen«
Bei den Ermittlungen sei man auf das Smartphone gekommen. Das Spiel auf dem kleinen Bildschirm müsse beidhändig bedient werden. Einer der Sachverständigen habe von »72 Prozent Überdeckung zwischen Spiele- und Zuglenkungshandlungen« berichtet. Die entscheidende Phase sei zwischen 6.38 und 6.40 Uhr gewesen: »Da wurde auf dem Handy noch herum gedrückt. Hier liegt der Grund für die Fehlhandlungen«, so Branz gestern.
Ein Mitverschulden Dritter wie der Bahn schloss der Ankläger aus. Kausal sei das kopflose Agieren des 40-Jährigen gewesen: »Ob die Vorschriften richtig waren, spielt wahrlich keine Rolle.« Maßgeblich bei der Strafzumessung seien das Ausmaß der Fahrlässigkeit, die Höhe der Pflichtverletzungen und die Folgen. »Zwölf Menschen mussten wegen eines Computerspiels sterben. Von den 85 schwerer Verletzten geht es vielen besser. Andere leiden noch stark unter den Folgen. Nicht berücksichtigt sind die traumatisierten Ersthelfer. Es waren über 800 Retter. Einige können den Beruf nicht mehr ausüben. Sie waren an vorderster Front.«
Die Nebenkläger schlossen sich weitgehend an. Die Anwälte hoben das Leid der Angehörigen hervor. Bei diesen Worten griff der sichtlich erschütterte 40-Jährige zum Taschentuch. Einige Nebenkläger stellten die Frage, ob die Katastrophe durch bessere Technik nicht hätte verhindert werden können. Mehrere informierten, ihre Mandanten hätten die Entschuldigung des Angeklagten vom ersten Verhandlungstag angenommen. Persönlich anwesend war gestern nur eine Nebenklägerin.
Zu den Fehlern des Angeklagten standen die Verteidiger aus München. Die Vorwürfe seien zutreffend. Der Prozess habe gezeigt, wie der »ideale Fahrdienstleiter« hätte handeln müssen, führte Ulrike Thole aus. Die Praxis sei aber oft eine andere. Sie warf in den Raum, ob das Handyspielen wirklich ursächlich war für das Unglück. In den letzten Minuten vorher habe der 40-Jährige nicht mehr gespielt, habe vielmehr versucht, seine Fehler zurückzunehmen.
»Ist sicher, dass das Spielen die alleinige Ursache war?«
Unter Beachtung des Grundsatzes »Im Zweifel für den Angeklagten« müssten drei Parameter aus den Gutachten hinterfragt werden: der Bremsweg der Züge, das Wetter an dem Wintertag und die menschliche Reaktionszeit, argumentierte Thilo Pfordte. Ausgangspunkt der Fehlerkette sei ein Ablesefehler im Fahrplan gewesen. Die Handynutzung könne zu einem Aufmerksamkeitsdefizit führen. »Aber wo liegt der kausale Zusammenhang? Ist ohne jeden Zweifel sicher, dass das Spielen die alleinige Ursache war?«, gab Pfordte zu bedenken.
Fehler seien manchmal nachvollziehbar, manchmal nicht. Er verwies am Beispiel von Zeugen auf »das Problem der selektiven Wahrnehmung«. Das Thema Videospiele sei noch kaum erforscht. Der Gutachter stütze sich auf Unterlagen, die zum gleichen Ergebnis gelangten.
Der Verteidiger weiter: »Es mag verführerisch sein, die Handynutzung als alleinige Ursache anzusehen. Das Handy hat sicher mitgewirkt – aber alleine?« Beim Mitverschulden Dritter griff Pfordte bewusst die Bahn nicht an, fügte aber hinzu: »Es wäre wünschenswert, endlich alles sicherer zu machen. Es mahnen die Toten und Verletzten.«
Zur Strafhöhe für den 40-Jährigen, der bislang ein Leben ohne Tadel geführt habe, verwies der Verteidiger auf die eintönige Arbeit im Stellwerk: »Seit vielen Jahren macht er das Selbe – Knöpfe bedienen, sitzen, Knöpfe bedienen, sitzen. Das Gefahrenbewusstsein lässt nach.« Thilo Pfordte berief sich auf Urteile zu vielen verheerenden Zugunglücken, sei es in Bad Tölz, Enschede oder Rüsselsheim: »Überall gab es schlimmes Fehlverhalten. Alle Verantwortlichen sind zu Strafen mit Bewährung verurteilt worden.«
Der Angeklagte meinte im »letzten Wort«, er stehe bis heute unter dem Eindruck der Ereignisse. Er habe durch den Prozess Erkenntnisse gewonnen, die ihm weitergeholfen hätten: »Ich hoffe, dass sie den Angehörigen auch weiter helfen.« kd