Eines stellt der Autor Volker Ronge im Gespräch mit dem Traunsteiner Tagblatt gleich anfangs klar: »Ich will keine Tourismuswerbung für den Chiemgau betreiben.« Schöne Bilder von Bergen und Seen hätten in seinen Artikeln nichts verloren. Das Ziel des 69-Jährigen ist ein ganz anderes: »Ich will erreichen, dass die Menschen in Petuschki sehen, wie der Alltag woanders aussieht – und dass sie dadurch beginnen, über ihr eigenes Leben nachzudenken.«
Über den eigenen Tellerrand blicken
Schon seit annähernd 30 Jahren hat der frühere Rektor der Bergischen Universität Wuppertal eine Theorie, wie Lokaljournalismus aussehen müsste: Die Zeitungsschreiber dürften sich nicht nur mit den Gemeinden in ihrem eigenen Verbreitungsgebiet beschäftigen, sondern müssten mindestens eine andere, weit entfernte Kommune unter die Lupe nehmen. Bei den Lesern soll das zur »kritischen Reflexion über die eigenen Verhältnisse« führen – und im Idealfall zu einer Verbesserung der Lebenssituation.
Jetzt, wo er pensioniert ist, ist es dem pensionierten Soziologieprofessor gelungen, eine Redaktion zu finden, die sich zusammen mit ihm auf das Experiment einlässt. Nicht ohne Grund sitzt die in Russland: Volker Ronge hat seit mehr als 20 Jahren feste Verbindungen nach Moskau. In den frühen Neunzigern, als die Sowjetunion Geschichte war und in Russland Chaos herrschte, fungierte er mehrmals als Berater des damaligen Präsidenten Boris Jelzin. Seine Wuppertaler Universität hatte fünf Partnerhochschulen in Russland; als Rektor hielt er dort regelmäßig Gastvorträge. Noch heute organisiert er einmal im Jahr eine sogenannte »Sommerschule« für deutsche und russische Studenten. »Ich kenne Russland besser als viele Russen«, sagt Ronge. »Durch die soziologische Brille sozusagen«, schiebt er nach.
In den vergangenen Jahren hat der Wissenschaftler auch viel über seine Wahlheimat, den Chiemgau, gelernt. Seit seiner Pensionierung vor vier Jahren hat er seinen Zweitwohnsitz in Übersee, verbringt dort einen Großteil seiner Zeit. Auf der Suche nach einem Landkreis, der sich mit dem russischen Petuschki vergleichen lässt, fiel seine naheliegende Wahl darum auf Traunstein. »Natürlich sind beide Gegenden völlig verschieden, das Lebensniveau in Petuschki ist weit niedriger als in Traunstein«, räumt Ronge ein. Doch beide Räume seien ländlich, beide würden durch Autobahn und Bahn mit zwei größeren Städten verbunden sein – Traunstein mit München und Salzburg, Petuschki mit Moskau und Vladimir. »Kommune ist Kommune«, resümiert Volker Ronge.
Die Artikel für die russische Lokalzeitung Vperied schreibt der Wahl-Überseer übrigens auf Deutsch; von der russischen Sprache beherrscht er nur Grundlagen. Seine Texte würden die Übersetzerin oft vor eine große Herausforderung stellen, erklärt der pensionierte Soziologieprofessor: »Viele Begriffe, wie zum Beispiel Ehrenamt, gibt es dort nicht.« Das Wort Ehrenamt existiere nicht, weil in Russland auch kein nennenswertes ehrenamtliches Engagement existiere. Und genau das will Volker Ronge ändern mit seinen Geschichten aus dem fernen Traunstein. san