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Kritik am Pflegesystem übte Experte Claus Fussek.

»Die Pflege in Deutschland ist krank«

Traunstein – Kritischen Fragen zum Thema Pflege musste sich der Pflegeexperte Claus Fussek stellen, der auf Einladung von Annemarie Funke, CSU-Bezirksrätin und Geschäftsführerin der Lebenshilfe Traunstein, nach Traunstein gekommen war. In seinem Vortrag stellte er dem Pflegesektor kein gutes Zeugnis aus. Seinen Ausführungen zur Folge sei aber keinesfalls die Politik alleine Schuld an den vorherrschenden Zuständen.


Alle Akteure in diesem Milliardengeschäft tragen Verantwortung für die teils katastrophalen Zustände. »Wenn hilfsbedürftige Menschen in Heimen Angst haben, muss man sich schon die Frage stellen, ob ihr euch nicht schämt«, so Fussek. »Seit 30 Jahren liegen in unseren Heimen die alten und kranken Menschen qualitätsgesichert und zertifiziert in der Scheiße und jeder weiß Bescheid«, brachte es Fussek auf den Punkt.

Hilfsbedürftigen Menschen werden sogar ihre Schutz- und Grundrechte aberkannt, wenn sie beispielsweise in Mehrbettzimmern zusammen mit schreienden und tobenden Mitbewohnern untergebracht sind. »In einem Gefängnis spräche man dabei von unzulässiger Folter, in Pflegeheimen ist dies offensichtlich kein Problem«, formulierte es Fussek kritisch.

Kommt ein eklatanter Missstand durch die Medien an die Öffentlichkeit, dann ist der Aufschrei groß und die Kritik an den Aufsichtsbehörden wird laut. Fussek sieht die Behörden erst als letzte Instanz in der Fehlerspirale. Zuvor haben bereits zahlreiche Kontrollmechanismen versagt. Kritisch fragte er in die Runde, warum nicht die Angehörigen und Freunde auf die Defizite aufmerksam wurden? Hat man die Bewohner nie besucht? Hat man weggeschaut? Wollte man einfach keinen Ärger oder befürchtete Repressalien gegenüber den betreuten Personen? Aber auch die betreuenden Pflegenden und Ärzte stehen voll in der Verantwortung und werden dieser nicht immer gerecht.

In Zeiten der Vollbeschäftigung sei der Arbeitsmarkt im Pflegebereich leer gefegt. Dieser Personalmangel sowie der Kostendruck in den Heimen und Kliniken führen dazu, dass die Mitarbeiter einem stetig wachsenden Arbeitsdruck ausgesetzt sind und die Belastungen zunehmen. Dies gelte genauso für die Auszubildenden – »und am Ende dann wundert man sich, dass dieser an und für sich sehr erfüllende Beruf keine ausreichenden Bewerber findet und viele Fachkräfte ihrem Beruf den Rücken kehren«.

Es gibt laut Claus Fussek aber auch viele positive Beispiele in Pflegeeinrichtungen. Ihm falle auf, dass diese Einrichtungen das ehrenamtliche Engagement besonders unterstützen. Zudem finde sich in diesen Einrichtungen häufig eine ehrliche und kritikoffene Führungskultur, die den Mitarbeitern in einer wertschätzenden und ehrlichen Weise aufgeschlossen gegenüber steht. Gesamtgesellschaftlich braucht es einen Wandel, es muss sich ein Wettbewerb in Richtung »Wir kümmern uns um unsere Alten« entwickeln, so Claus Fussek abschließend.

Viele Fragen zielten auf die Qualifikationen der Führungskräfte in Pflegeeinrichtungen ab. Hier antwortete Fussek, dass es keine klaren Definitionen für die Heimleitungen gebe, diese können auch aus pflegefremden Bereichen kommen. Oftmals stehen Rendite und Auslastung im Mittelpunkt. Und wie so oft »stinkt der Fisch nun mal vom Kopf weg«, so Fussek.

Haben Gemeinden eine Chance, nicht geeignete Träger loszuwerden? Dies sei sehr schwierig, weil es mit vielen Hürden belegt sei und die Beweislast liege stets beim Ankläger. Zudem haben Gemeinden oft kein Interesse, tätig zu werden. Am Beispiel Inzell sehe man aber auch, dass man durchaus in der Lage sei, die Reißleine zu ziehen und die Menschen aus den Fängen dubioser Machenschaften zu entreißen. »Es ist völliger Nonsens, wenn sich Lokalpolitiker samt Medienvertretern zu Presseterminen in den Heimen ankündigen und sich vor zufriedenen Mitarbeitern ablichten und erklären lassen, dass alles in bester Ordnung sei«, kritisierte Fussek diese Praxis. Verantwortungsvolle Politiker kämen unangekündigt und sehen sich die Situation ungeschönt an.

Auch die Formularflut beschäftigte die Zuhörer. Angehörige wüssten oftmals nicht, wohin sie sich wenden können, und was ihnen zusteht. Dies sei sehr undurchsichtig und schwer zu verstehen, die Politik könne hier aber nicht so viel dafür, sagte Fussek. Letztlich beschließe sie zwar die Gesetze. Die Vorarbeiten leisten aber Fachpersonen und Experten. Die Interessensverbände leisten dabei auch ihren Beitrag, dass spezielle Dinge berücksichtigt werden und das Gesamtkonstrukt schwieriger wird. Es ist für Einzelpersonen nicht möglich, zu erfragen, was ihnen zusteht.

Die Frage, ob es eine Liste mit guten Heimen gebe, musste der Pflegexperte verneinen. Die offiziellen Beurteilungen entstehen häufig nur bei der Dokumentation in den Heimen. Was tatsächlich mit den Bewohnern passiert, wird hier nicht berücksichtigt. Fussek empfahl: »Es ist jeder angehalten, einfach mal in Heime zu gehen und die Atmosphäre zu spüren«. Dies sei zu unterschiedlichen Zeiten nötig. Also an unterschiedlichen Tagen, zu unterschiedlichen Uhrzeiten, und wenn möglich, auch mal in der Nacht. »Hier gewinnt man schnell einen Eindruck, wie in der Einrichtung mit Menschen umgegangen wird«, ist sich Fussek sicher. hob

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