Unterwössen – Landtagspräsidentin setzt ein Zeichen gegen sexuellen Missbrauch: Sie besuchte am Freitag die Pfarrkirche St. Martin in Unterwössen, nachdem sie durch einen Bericht über die Öffnung des Andachtsraums im Kirchturm auf das Projekt gegen den sexuellen Missbrauch des Unterwössner Bildhauers Andreas Kuhnlein aufmerksam geworden war. »Dieser Besuch ist mir eine Herzensangelegenheit«, betonte sie. Begleitet wurde Aigner von Landtagspräsident a. D. Alois Glück und Generalvikar Christoph Klingan von der Erzdiözese München Freising in die Pfarrkirche.
Andreas Kuhnlein beschrieb seine Idee, eine zentrale Botschaft des Glaubens und einen längst überfälligen Hinweis auf das Missbrauchsgeschehen in Unterwössen vor rund 60 Jahren zu schaffen. Das Leid dreier missbrauchter Schulkameraden hatte ihn Jahrzehnte lang nicht losgelassen, der Umgang der Gesellschaft mit dem Thema immer wieder alte Wunden aufbrechen lassen. Der Andachtsraum birgt eine dreiteilige Darstellung mit einer zentralen vollplastischen Skulptur, flankiert von zwei Reliefs, die die Verurteilung Jesu durch Pilatus und seine Kreuzigung darstellen. Kuhnlein erläuterte seine Darstellungen.
Die Landtagspräsidentin sagte, sie »fühlt sich traurig an diesem Ort«, der an sexuellen Missbrauch in der Kirche erinnere. Trotzdem bleibe ihr als Katholikin der Glaube wichtig. »Der Glaube bedeutet mir viel«, so Aigner. Umso mehr treffe es sie, dass sich immer mehr Menschen aufgrund des Vertrauensverlustes und der verschleppten Aufarbeitung von Missbrauchsfällen aus der Kirche entfernen. Als Katholikin wünscht sich die Landtagspräsidentin, dass sich die Kirche erneuert, um ihren Platz in der Gesellschaft zu behalten. »Der Synodale Weg ist der richtige Weg dorthin.« Er helfe, den Missbrauch zu bekämpfen, mehr Toleranz in der Sexualmoral zu erreichen, die Gleichstellung zu fördern und die Ökumene zu stärken. »Die Kirche braucht jetzt Gläubige wie Andreas Kuhnlein, die sich engagieren und diesen Weg mitgehen.«
»Kuhnlein ist einer von den zutiefst gläubigen Menschen«, sagte Aigner. Von den Missbrauchsfällen in Unterwössen sei er stark betroffen. Als Unterwössner kannte er drei der dokumentierten, gleichaltrigen Opfer und litt mit ihnen. Ihn schmerzte und machte es wütend, dass die Gesellschaft die Opfer ausgegrenzte, und den Täter als beliebten Pfarrer schützte. In der Folge schrieb Kuhnlein einen wütenden Brief an Kardinal Marx und erhielt darauf einen nachdenklichen Brief des Kardinals. Aus der Neugestaltung der Kirche und verschiedenen Gesprächen entwickelte sich letztlich die Idee für den Andachtsraum der Kirche mit »eindrucksvoller Kunst«, knüpfte Aigner an Kuhnleins Einleitung an. »Eine Kunst, die die Kirche aufruft, die Schutzlosen zu schützen, an der Seite der Opfer zu stehen. Die Kirche braucht mehr Menschen wie Kuhnlein.«
Den Andachtsraum in der Pfarrkirche St. Martin sieht die Landtagspräsidentin aber auch eine großartige Gemeinschaftsleistung. Das Bistum stelle sich der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und trage aktiv zur Aufklärung bei. Die Erzdiözese ermöglichte die Gestaltung des Raums finanziell mit. Die Kirche sei in der Verantwortung, ehrliche Aufarbeitung zu leisten und den Schutz des Schutzlosen über den Schutz der eigenen Institution zu stellen, so Aigner.
Die Opfer von Missbrauch seien in den Mittelpunkt stellen und nicht die Täter zu schützen. Dazu sei eine enge Kooperation der kirchlichen Institutionen mit der Justiz notwendig. Aigner freut, dass der Rechtsstaat inzwischen sehr konsequent gegen sexuellen Missbrauch vorgeht. Zu kritisieren bleibe, dass diese konsequente Haltung so spät kommt. Wenn die Kirche heute viel unternehme, den Opfern des Missbrauchs gerecht zu werden, komme diese Einsicht für viele Opfer zu spät. »Die Kirche muss Vertrauen zurückgewinnen, um ihrer Rolle als moralische Instanz gerecht zu werden und ihre Arbeit für die Gesellschaft leisten zu können«, betonte Aigner. Sie warnt aber auch davor, alle Geistlichen und Laien in den Kirchengemeinden unter Generalverdacht zu stellen. »Viele von ihnen leisten vorbildliche Jugendarbeit und verdienen es nicht in Verruf zu geraten.«
»Nicht nur die Kirche, sondern die Gesellschaft insgesamt braucht den Mut zur Wahrheit«, sagte Aigner. Der Andachtsraum in Unterwössen stehe symbolisch für diesen Mut zur Wahrheit und das Erinnern an die Opfer des sexuellen Missbrauchs in der Kirche. »Doch Gedenkkultur erschöpft sich nicht in der Ausgestaltung eines Raums. Es sind die Gespräche um den Ort und seine Geschichte herum, die das Erinnern wirksam machen.« Ihr sei es »wichtig, diesen Ort persönlich kennen zu lernen«.
Generalvikar Christoph Klingan, betonte die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch. »Aufarbeitung und Prävention von sexuellem Missbrauch sind und bleiben zentrale Aufgaben, wir werden in unseren Bemühungen hier nicht nachlassen«, versicherte Klingan. Die Erzdiözese werde den Betroffenen zur Seite stehen und alles tun, »damit im Raum der Kirche kein Platz für Missbrauch, sexuelle Gewalt oder Grenzüberschreitungen ist.«
Alois Glück erinnerte sich, wie in seiner Zeit als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK) im Januar 2010 die Schulleitung des Berliner Canisius Kollegs sexuellen Missbrauch an diesem Gymnasium publik machte. Das habe zwei Prozesse parallel in Gang gesetzt, einerseits verdrängten viele die Wahrheit, zum anderen wuchs bei anderen das Problembewusstsein. Die Anerkennung als Problem sei sehr zäh verlaufen. Gestandene und hochgeachtete Kirchenleute sahen die Gefahr, dass die Menschen in Scharen die Kirche verlassen würden, würde man den Vorwürfen schonungslos nachgehen, schilderte Glück aus Gesprächen. Sie stellten das Wohl der Amtskirche über das Leid der Betroffenen.
Umso drängender sieht Glück die Notwendigkeit, die Wahrheit herauszubringen. »Auf dem Weg kann sich keiner damit entschuldigen, sexuellen Missbrauch habe es auch in anderen Institutionen gegeben.« Glück weiß aus Gesprächen über das Ausmaß des Leids für die Betroffenen. Es sei wichtig, das überall bewusst zu machen. In Andreas Kuhnlein und seiner Kunst sieht er eine treibende Kraft in diese Richtung. »Ich frage mich manchmal, was da in Deinem Kopf so vorgeht, wenn Du über so etwas nachdenkst, an so etwas arbeitest«, sagte Glück zu Kuhnlein. »Das willst Du nicht wirklich wissen«, erwiderte dieser. lukk