»Ich erlebe das in meiner Praxis immer wieder«, sagt er im Gespräch mit dem Traunsteiner Tagblatt. »Vielen Kindern fehlten in den vergangenen Wochen massiv die sozialen Kontakte, die sie einfach brauchen.« Nicht umsonst gebe man Kleinkinder mit zwei bis zweieinhalb Jahren in Kindertagesstätten, weil sie irgendwann die Anregung von außen, das Spielen mit Gleichaltrigen zur Entwicklung bräuchten.
Zum Teil ernsthafte Verhaltensauffälligkeiten
In seiner Praxis tauchten immer wieder Kinder auf mit Verhaltensauffälligkeiten, die sich in den letzten Wochen verstärkt hätten, etwa Einkoten, Einnässen bei Kindern, die bereits sauber waren. Auch erneutes Fremdeln, das eigentlich ganz normal zur Entwicklung gehöre, trete wieder verstärkt auf bei Kindern, die das eigentlich längst überwunden hatten. Manche Eltern berichteten auch vom Zähneknirschen des Nachwuchses.
Zu seinem Alltag gehöre es inzwischen, Atteste zu schreiben für Schüler, die durch das Tragen von Masken Kreislaufbeschwerden oder gar Panikattacken erleiden. Generell sieht Viethen Masken besonders bei Bezugspersonen für Kleinkinder als ausgesprochen problematisch an, »weil zum Erlernen der Affektregulation (Emotionen einschätzen lernen und entsprechend reagieren) die Mimik unerlässlich ist.«
Entwicklungspsychologen sagten nicht umsonst, Kinder sollten idealerweise die ersten 18 Monate ihres Lebens mit den Eltern verbringen, um derart grundlegende Verhaltensweisen zu erlernen. »Die Maske hat durchaus das Zeug dazu, Ängste und auch tief greifende Entwicklungsstörungen zu schaffen, ebenso wie das 'social distancing'. Der Mensch ist halt ein soziales Wesen. Da gehören auch Berührungen dazu.«
Weitere Symptome, wegen der Kinder und Eltern seine Praxis aufsuchten, seien etwa depressive Verstimmungen, Aggressionen oder auch Schulverweigerung – unabhängig davon, ob es um »Homeschooling« oder Präsenzunterricht geht. Bereits vorher vorhandene psychische Probleme hätten sich durch die Isolation zum Teil deutlich verstärkt. Immer wieder sei er wegen Kopfweh, Bauchweh und Angstzuständen konsultiert worden.
Eine nicht unbedeutende Rolle bei der Entstehung oder auch Verstärkung von Angstzuständen sieht Dr. Viethen im täglichen exzessiven Medienkonsum. »Darauf sollten Kinder so weit es geht verzichten«, rät er. Denn während des »Lockdowns« hätten sich Probleme wie Übergewicht und Computersucht zum Teil dramatisch verstärkt.
Zum Teil massive Ängste entwickelt
Besonders größere Kinder und Jugendliche zögen sich oft zurück, könnten aber die Bedeutung von Nachrichten zur Corona-Pandemie nicht differenzieren und entwickelten in der Folge zum Teil massive Ängste, mit denen sie so allein blieben. Gerade da sei es wichtig, dass die Eltern an den Kindern »dran bleiben« und sie gut durch die Krise begleiten. Aber generell hätten die Medien nicht nur bei Kindern »einen massiven Schaden angerichtet«, nimmt er kein Blatt vor den Mund.
Auch wenn er selbst wie mittlerweile viele seiner Kollegen in Psychosomatik weitergebildet sei, so reichten manchmal seine Hilfemöglichkeiten nicht aus. »Manche Kinder müssen wir weiterleiten an Kinderpsychologen oder -psychiater«. Auch wenn ihm in seiner Praxis keine Fälle von häuslicher Gewalt aufgefallen seien, müsse man das Thema gut im Blick behalten.
Viethen sorgt sich nicht nur um seine kleinen Patienten, sondern auch um die, die für ihr Wohlergehen zuständig sind: »Eltern, die am Zahnfleisch daher kommen, habe ich tatsächlich viele erlebt.« Schwierig sei es zum Beispiel für Mütter mit mehreren Kindern gewesen, »sagen wir das eine drei Jahre und das andere ein halbes Jahr alt. Das eine braucht die Mutter noch ständig, das andere durfte ja lange Zeit nicht mal auf den Spielplatz.«
In extremen Fällen habe er auch Atteste ausgestellt mit der dringenden Bitte, das jeweilige Kind in seiner angestammten Betreuungseinrichtung aufzunehmen, um zu vermeiden, dass die Betroffenen ernsthaften Schaden an ihrer körperlichen oder psychischen Gesundheit nehmen. Und seines Wissens nach hätten sich in der Regel auch gute Lösungen finden lassen.
Aber der Umgang der einzelnen Einrichtungen mit der Krise sei zum Teil recht unterschiedlich gewesen. Manche hätten pragmatische Lösungen gesucht, andere hätten sich damit schwerer getan.
Besonders aber das »Homeschooling«, das ja immer noch viele Schüler zumindest bis zu den Sommerferien betreffe, habe in vielen Familien zu massiven Schwierigkeiten geführt. Dabei kennt er die Situation nicht nur beruflich – sondern auch als Vater dreier Kinder im Alter von sieben, zehn und zwölf Jahren. »Meine Frau hat relativ schnell aufgehört, jede Arbeitsanweisung eins zu eins umsetzen zu wollen. Und viele Eltern konnten das ja praktisch gar nicht oder nur sehr rudimentär umsetzen.«
Digitales Lernen kann keinen Lehrer ersetzen
Digitales Lernen sei keinesfalls eine auf Dauer geeignete Alternative zum Unterricht mit einem Lehrer als Bezugsperson. »Das kann nur eine Ausnahme gewesen sein, die schnell wieder geändert werden muss, um die psychischen und sozialen Spätfolgen nicht noch weiter zu verstärken«, sagt Dr. Viethen. Insofern seien die neuerdings wieder ermöglichten sozialen Kontakte für Kindergarten- und Schulkinder sicher ein Gewinn für die Familien. »Aber die große Watschn kommt später, wenn die Kinder die ersten Schulaufgaben und Leistungsfeststellungen schreiben sollen und ihnen dazu ein halbes Jahr Unterricht fehlt.«
Jedenfalls sei es bei allem Verständnis für die zuletzt getroffenen Maßnahmen dringend, dass sich die Politik möglichst bald damit befasst, wie man im Falle künftiger Pandemien mit den jüngsten Mitgliedern der Gesellschaft umgehen will. Kindergarten- und Schulschließungen gelte es unbedingt zu vermeiden. coho