Bildtext einblenden
Frank Thienel ist von Berlin nach Inzell gewandert – auf Schusters Rappen. (Fotos: Wannisch/privat)

687 Kilometer zu Fuß: Überambitioniert, viel zu schwer und doch irgendwie schön

Inzell – Die Füße schmerzen Frank Thienel auch mehrere Tage nach seiner Ankunft in Inzell immer noch. Daher stattet der 68-Jährige dem örtlichen Kneipp-Becken regelmäßig einen Besuch ab. Verwunderlich ist das nicht – schließlich ist Thienel in 26 Tagen von Berlin nach Inzell gewandert. Zu Fuß, 687 Kilometer, alleine.


»Ich kann das keinem empfehlen, es war überambitioniert und viel zu schwer«, sagt der Berliner mit Nachdruck. Und dennoch ist er froh, diese Herausforderung gemeistert zu haben.

Thienel ist mit 68 ein aktiver »Best-Ager«, er fährt gerne Ski, wandert, reist gerne und interessiert sich für seine Umwelt. Er wirkt jünger, trägt einen kleinen, spitz zulaufenden Unterlippenbart, das Haar ist kurz geschnitten, seine Augen blicken interessiert in die Welt. »Warum ich das gemacht habe? Ich wollte mit 68 Jahren meine eigene Belastungsgrenze ausloten.«

Seit vier Jahren besitzt er eine Ferienwohnung in Inzell, ist im Schnitt alle drei Wochen dort; Oberbayern ist er seit seiner Kindheit verbunden, am Chiemgau liebt er die authentische Traditionspflege, hier sei nichts aufgesetzt, sondern ganz natürlich. »Ich bin Inzeller im Herzen.«

Endlich in Rente hat der Ruheständler, der in Berlin eine eigene Werbeagentur hatte, den Traum vieler Wanderbegeisterter, einmal den Jakobsweg zu gehen, schnell wieder verworfen – »das ist inzwischen Massentourismus«. Die Idee des Weitwanderns hat ihn aber nicht losgelassen. Ein Buch über den todkranken Krebspatienten Kurt Peipe, der von Flensburg nach Rom in nur drei Monaten gewandert sein soll, gab schließlich den Ausschlag.

»Ich konnte nicht glauben, dass jemand, der so krank ist, die Strecke von 1700 Kilometern in so kurzer Zeit schafft – das wollte ich ausprobieren.« Thienels Ziel war aber nicht Rom, sondern Inzell. Dabei wollte er auf dem Weg in den Chiemgau nicht die schönesten Wanderrouten Deutschlands erkunden, sondern über Stock und Stein möglichst »schnurgerade« gehen.

Sein Orthopäde gab ihm mit auf den Weg: nicht mehr als sieben Kilo Reisegepäck und gute Schuhe. »Die und zwei Paar Einlagen habe ich durchgelaufen.« Seine einzigen Hilfsmittel: Google Maps und eine Wanderapp. Die Tour hat er sich zwar vorab zurecht gelegt, aber erst während der Wanderung jeden Abend das Quartier für die nächste Nacht gebucht.
Da musste er manchmal von der Route abweichen, wenn es im gewünschte Ort kein Quartier mehr gab. Am 29. Juli ging Frank Thienel schließlich in Stahnsdorf bei Berlin los, über Wittenberg, Leipzig, Hof, Falkenberg, Straubing, Burgkirchen und Kirchanschöring bis er am 23. August in Inzell ankam.

Bildtext einblenden
Das   Streckenprofil   auf   der Wanderapp von Frank Thienel.

Seine Freunde: »Das schaffst du nie«

Sein privates Umfeld habe bis zum Schluss sein Vorhaben skeptisch betrachtet; Sätze wie »das schaffst du nie«, oder »jaja, mach nur mal« habe er sich anhören dürfen – »keiner hat geglaubt, dass ich es schaffe.« Doch für Thienel stand dies außer Frage. »Für mich gibt es keine Graustufen, wenn ich etwas anpacke, dann ziehe ich es durch.«
Familie und Freunde hat er mit Bildern über seinen Whatsapp-Status auf dem laufenden gehalten. Die Skepsis wich der Bewunderung und endete in Unterstützung. Die hat er gebraucht, denn körperlich – auf den letzten zehn Etappen habe er nur noch mit Schmerzmitteln durchgehalten, »ein Wahnsinn, ich weiß« – wie psychisch ging er an seine Grenzen.

»Ein paar Mal habe ich mich verlaufen, weil ich kein Internet oder GPS-Signal mehr hatte.« Um gegen die aufkeimende Panik anzukämpfen, habe er sich irgendwo hingesetzt, die Augen geschlossen, und sich vorgesagt, dass es wieder vergehe. Wenn er völlig die Orientierung verloren hatte, erinnerte er sich daran, dass das Moos an den Bäumen in unseren Breitengraden auf der Westseite wächst. »Das war beruhigend und hat geholfen.«

Es gab auch Punkte, an denen er ans Aufgeben dachte. Etwa im Bayerischen Vogtland. »Ich geriet in ein Gewitter, fand keinen Unterstand und hab mich nur noch in die Hocke gekauert und gewartet, bis es vorbei war – fast drei Stunden lang.« Als er das überstanden hatte, tropfnass und durchgefroren, konnte er dennoch nicht aufgeben – »zu viel Adrenalin im Blut«.

Spaß hat die Wanderung nicht gemacht

Obwohl der Spaßfaktor auf einer Skala von eins bis zehn bei gerade mal fünf gelegen habe, berührte ihn die vielerorts noch intakte Natur Deutschlands. »Besonders im Vogtland und dem Oberpfälzer Wald hatte ich schöne Tierbegegnungen.« Als Großstädter, der stets von Lärm und Umweltbelastungen umgeben sei, habe er besonders die Stille im Wald genossen.

Die letzte Etappe ging von Kirchanschöring über den Teisenberg gen Inzell. »Das war die Schwierigste, auf der ich nach einem Kampf durch Brombeergestrüpp einen Schwächeanfall hatte.« Im Gasthaus Adlgaß in Inzell angelangt, empfing ihn seine Schwester, die aus Eggstätt gekommen war, mit einem Transparent. »Da wusste ich, ich hab's geschafft.« Wiederholen will er diese »Tortur« aber definitiv nicht. vew