Soldaten, Pferde, leichte Mädchen

Die Pferde sind zurückgekehrt in die Felsenreitschule! Stall und Strohballen. Salon und Sofa. Kneipe und Puff. Mädchenzimmer und Offiziersmesse: Alles ist nebeneinander aufgefädelt. Dahinter eine Fensterfront: Durch die riesigen gewölbten Fensterscheiben blickt man hinein in den Stall, wo die sieben mächtigen Noriker – manchmal mit halbnackten Mädchen darauf – bewegt werden. Oder es gaffen heraus die immer geilen Soldaten.


Nicht nur das Setting dieser Jahrhundertproduktion ist überwältigend bis überfordernd. Hundert-Mann-Orchester. Schlagzeugbatterien. Jazzcombo. Bühnenmusik. Mehrere Sprechrollen. Ein Solistenensemble von Kammerchor-Größe. Zwei Organisten. Ein Gitarrist: »Die Soldaten« von Bernd Alois Zimmermann, der in seiner Oper eigene Kriegstraumata verarbeitet hat, sprengen alle Grenzen.

Das Werk galt als unspielbar und unaufführbar. Mit dem Stoff hat sich Zimmermann ab 1957 befasst, 1958 hatte er die erste Szene komponiert. Die für 1960 geplante Aufführung in Köln wurde abgeblasen. 1963 kamen dann doch einzelne Teile als »Vokalsymphonie« zu Uraufführung. 1965 endlich folgt die Premiere in Köln unter der musikalischen Leitung von Michael Giehlen, dessen Assistent damals der junge Ingo Metzmacher war, der nun die Aufführung bei den Salzburger Festspielen 2012 leitet.

Es ist überwältigend, zu erleben, mit welcher Präzision Ingo Metzmacher am Pult der Wiener Philarmoniker die Klangmassen im Zaum hält, koordiniert, und wie er bei allem Fortissimo-Getöse dennoch transparente und klar strukturierte Musik zu erzeugen weiß.

Der Komponist selber hat auch den Text geschrieben. Das Libretto der »Soldaten« basiert auf dem gleichnamigen Schauspiel von Jakob Michael Reinhold Lenz, dessen Lebenszeit – 1751 bis 1792 – fast mit jener Mozarts zusammen- und zur Gänze in jene Goethes hineinfiel. Kern der Handlung ist der unaufhaltsame Abstieg einer Bürgerstochter zur Soldatenhure. Zentrale Themen wie Standesgrenzen zwischen Bürgertum und Adel oder die erzwungene Ehelosigkeit des Soldatenstandes (samt den damit einhergehenden sexuellen Nöten und Ausschweifungen) sind unterdessen kein Thema mehr. Dass Krieg und militärisches Wesen Leid und Not bringen, darüber ist man sich – zumindest theoretisch – auf internationalen Konferenzen heute einig.

Dennoch sind weder das Stück selber – »Eine Komödie« lautet der Untertitel – noch die Oper inhaltlich obsolet. Bernd Alois Zimmermann schreibt in einem Brief an den Verlag Schott, begeistert habe ihn »der Umstand, wie hier in einer so exemplarischen Situation nicht etwa so sehr durch das Schicksal bedingt als vielmehr durch die schicksalhafte Konstellation der Charaktere und Umstände, so wie sie sind, Menschen, wie wir sie zu allen Zeiten und jeden Tag treffen können, unschuldig im Grunde, vernichtet werden«.

Das unausweichliche Schicksal – ein möglicher Stolperstein für jedes Menschenleben in jedem Zeitalter: Diese sehr allgemeine Deutung des Stücks hat Alvis Hermanis, der Regisseur und Bühnengestalter der aktuellen Produktion, in einem historisch recht eindeutigen Kontext, um den Ersten Weltkrieg herum, dingfest gemacht. »Dingfest« ist wörtlich zu nehmen: Dass es sich tatsächlich um eine Menschentragödie, jenseits allen noch so tragischen individuellen Schicksals handeln könnte, kommt in dem überwältigenden Pandämonium, das auf der Bühne der Felsenreitschule entfesselt wird, kaum heraus.

Einander rasierende, kartenspielende, onanierende, lesende Soldaten; im Glaskäfig tanzende Regimentshuren; unschuldige Bürgermädchen im jungfräulichen Bette, einander Briefe vorlesend. Alle diese bildhaften und wirkmächtigen Genre-Szenen drücken die Dimensionen des Unausweichlichen und Schicksalhaften zusammen in einen handfesten »Plot«: Tugendhafte Bürgerstochter, einem ehrbaren Händler so gut wie versprochen, liebäugelt mit einem adeligen Offizier, der sie fallen lässt und seinen Kumpanen ausliefert. Der verzweifelte Verlobte rächt die Geliebte, vergiftet den Verführer und tötet sich selbst.

Im Sängerensemble ist allen voran Laura Aikin zu nennen. Ihr wird als Marie, Tochter des Galanteriehändlers Wesener, nicht nur sängerisch und darstellerisch, sondern auch konditionell das Letzte abverlangt. Und die Sopranistin wirft sich mit spürbarer Lust in die Schlacht. Dass sich die Sängerinnen und Sänger gegen die instrumentale Übermacht durchsetzten können, ist Ingo Metzmacher zu danken. Dass Laura Aikin dies stimmlich und darstellerisch auch noch mit geradezu spielerischer Leichtigkeit erledigt, ist einfach bewundernswert.

Zuerst noch ein junges naives Mädchen, spürt sie doch von Anfang an die Gefahr, den unabwendbaren Untergang. Alsbald kommt eine Note pathologisch-bizarren Verhaltens dazu – die leider im allzu volkstümlich handfesten Kontext nicht richtig zur Wirkung kommt. Hier wäre die Schlüsselstelle zum Schritt in die Abstraktion, den der lettische Regisseur (der beim Young Directors Project 2003 mit »Der Revisor« den Sieg davon getragen hat) leider unterließ. So balgt sich Marie mit dem Edelmann Desportes im Stroh: Daniel Brenna überzeugt als Offizier und Nicht-Gentleman mit seinem mehr kraftvoll als geschmeidig eingesetzten Organ. Er schien der Metzmacher'schen Transparenz nicht ganz so rückhaltlos zu vertrauen wie Laura Aikin.

Sängerisch überzeugend besetzt sind letztlich alle Rollen, allen voran der grandiose Alfred Muff als Maries Vater: Er gibt – stimmlich souverän – den Wesener, Galanteriehändler in Lille, als einen guten Bürger, der doch allzu gerne Schwiegervater eines Herrn Baron werden möchte. Tanja Ariane Baumgartner stellt als Maries Schwester Charlotte einen überzeugenden Konterpart für Laura Aikin dar. Thomasz Konieczny berührt als betrogener Stolzius, Tuchhändler in Armentières, der den Verderber seiner Verlobten vergiftet und sich anschließend selber richtet. Cornelia Kallisch als Weseners alte Mutter, Reneé Morloc als Stolzius' Mutter, Reinhard Mayr als Graf von Spannheim, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Hauptmann Pirzel, Boaz Daniel als Feldprediger Eisenhardt… – wie die Oper schier alle Aufführungsrahmen sprengt, sprengt allein die Zahl der Solisten schier eine Besprechung: Es war jedenfalls eine überragende Ensembleleistung. Bravi auf jeden Einzelnen und jede Einzelne. Heidemarie Klabacher

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