Dass unsere Gegenwart und Gesellschaft gerade von einer Vielzahl an komplexen Themen beherrscht wird, lässt sich beim täglichen Blick in die Zeitungen, Medienportale und Abendnachrichten im Fernsehen studieren. Nicht wenige fühlen sich dadurch überfordert und schalten mitunter ab. Wie Komplexität wirkt, was sie mit uns macht und wie sich dadurch umgekehrt unsere Wahrnehmung sogar schärfen oder verfeinern kann, lässt sich in einer aktuellen Ausstellung der Städtischen Galerie im Kunstforum Traunstein ausprobieren.
Bis 30. April lassen die Werke nichtgegenständlicher Kunst von Robert Dufter aus Siegsdorf, Melanie Grocki aus Stuttgart sowie der drei Münchner Künstlerinnen Mary Kim, Carolina Kreusch und Carolin Leyck komplexe Beziehungssysteme entstehen. Das gilt sowohl für die Einzelbetrachtung als auch für die Wechselwirkung der vielschichtigen Gebilde, dreidimensionalen Konstruktionen, Zeichnungen, Gemälde und Videoinstallationen untereinander. Sie fügen sich zu einer je nach Standpunkt variierenden Rauminstallation mit immer neuen Anknüpfungspunkten und Komplexitätsgraden zusammen. »Eine Ausstellung, die die Unübersichtlichkeit der Welt mit Form und Farbe neu und überraschend ordnet«, verspricht der Begleittext zur Ausstellung.
Exemplarisch machen dies die Werke der in New York geborenen Künstlerin Mary Kim deutlich, die seit 2018 an der Architekturfakultät der Hochschule München unterrichtet. Ihre komplexen, farbig gefassten Raumkonstruktionen aus kleinen Holzstegen regen zu faszinierenden Seh- und Wahrnehmungsexperimenten in Nah- und Fernsicht an. Wie bei einem Kaleidoskop werden dabei immer wieder neue Strukturen, Raumdurchblicke und Muster erkennbar, die zwischen scheinbarem Chaos und ordnender Klarheit wechseln. Auf die Spitze getrieben wird diese Kunst in der Videoinstallation im ersten Stock, die das davor liegende Werk visuell dynamisch erfahrbar macht.
Ein ganzes Universum aus kunstvoll untereinander verwobenen Strichen, Netzen, sich transparent überlagernden Farbfeldern und Raummustern entwickelt Melanie Grocki aus schwarzen Punkten. Die hat sie vorher mit einem Pinselschlag auf weißes Papier aufgetragen. Was von weiter weg vielleicht wie Fledermäuse oder tanzende Blätter im Herbstwind aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als komplexes Beziehungsmuster und Raumgefüge aus Bleistift- und Farbstiftstrichen. Es wirkt wie geistiges Brausepulver, das eine Fülle von Assoziationen auslöst. Wer will, könnte darin sogar eine gedankliche Brücke zur komplexen Dachkonstruktion des Münchner Olympiastadions schlagen. Wie lebendig und organisch sich die Zeichnungen auf einzelnen Papierblättern austauschen und zu immer neuen Strukturen verbinden lassen, zeigte Grocki bei der Vernissage in einer Performance. Das Ergebnis ist im Film zu sehen.
Die Konstruktion ist bei Robert Dufter das Grundgerüst jeder Arbeit. Jahrelang hat sich der Kunst-am-Bau-Preisträger (Berlin 2020) mit Farbwirkungen und -physik, wissenschaftlichen Erkenntnissen und geometrischen Formen auseinandergesetzt, um seiner Vorstellung von konkreter Kunst möglichst nahe zu kommen. Immer wieder nimmt er die Fibonacci-Folge als Ansatzpunkt, um unterschiedlich dimensionierte Farbstreifen zu räumlich wirkenden Netzwerken zusammenzuführen. In der Ausstellung in Traunstein experimentiert Dufter auch mit der Auflösung und Zergliederung des Malgrunds auf der Wand.
Mit lustigen Titeln wie »Mikrolose Makrowolke«, »Pistazienrutsche« oder »Klimakiste« lädt Caroline Kreusch, die Trägerin des Kulturpreises Bayern 2020, zu Wahrnehmungs- und Sehexperimenten von flächig oder extrem verschachtelt angelegten Konstruktionen ein. Sie erinnern an Architekturentwürfe, Raumschiffe oder Einblicke in dystopische Megacities.
Carolin Leyck wiederum lässt in ihren farbkräftigen Gemälden auf dunklem Grund amorphe Formen, Bänder, Korallenmuster oder Figuren ein komplexes Eigenleben entwickeln, das den Betrachter verzaubert und gefangen nimmt. Fünf Künstler, fünf Stile: Im Zusammenwirken wird darin in der Ausstellung ein komplexes System voll Lebensfreude und Lebendigkeit.
Die Öffnungszeiten der Städtischen Galerie sind Mittwoch bis Freitag von 11 bis 17 Uhr, Samstag und Sonntag von 13 bis 18 Uhr. Kostenlose Führungen gibt es am Mittwoch, 12. April, um 11 Uhr unter dem Motto »Kunst am Morgen« und am Sonntag, 30. April, um 15 Uhr einen Abschluss-Künstlerrundgang. Axel Effner