Zu sehen sind neben einigen alten Plastiken, die um 1951 entstanden sind, auch neuere Plastiken, um 1998, und Reliefs aus Bronze und Zementguss, zum Beispiel die Figur »Ausblicke« in Zementguss. Lewerentz war gut mit Marianne Lüdicke befreundet, so dass er hier auch die komplette Sammlung von 25 Holzschnitten ihrer Neujahrskarten ausstellen kann – eine Rarität. Daneben gibt es noch zwei ihrer letzten Zeichnungen von 2006, außerdem zwei Aktbilder in Öl, vermutlich Marianne Lüdicke selbst, gemalt von ihrem Lehrer und Lebensgefährten Wilhelm G. Maxon. Auch ihr selbst gemachter Modellierblock von 1945 und einige ihrer Modellierwerkzeuge sind mit ausgestellt. Noch zu Lebzeiten gab sie sie an Carsten Lewerentz weiter, der sie nach wie vor benutzt.
Im Atelierfenster wird auf diese Weise eine kleine, sehr persönliche Ausstellung gezeigt, die nicht nur einen guten Eindruck ihrer Werke verschaffen kann, sondern auch einen Eindruck über die Persönlichkeit dieser großen Bildhauerin, die noch bis ins hohe Alter hinein künstlerisch tätig war und erst mit 87 Jahren ins Wohnstift Marquartstein umzog, um dort die letzten Jahre ihres Lebens zu verbringen.
Ihre Kindheit verbrachte Marianne Lüdicke in Kronberg im Taunus. Nach dem Abitur besuchte sie die Kunstschule von Wilhelm Georg Maxon in München und verbrachte seither die Sommer in der Künstlerkolonie Weisham, Bernau, bei Prien, wo Maxon unterrichtete. Über 70 Jahre lang sollte Weisham ihr Domizil werden. Von 1939 bis 1944 studierte sie an der Akademie der Bildenden Künste in München. Anschließend begann ihre selbstständige künstlerische Tätigkeit in Weisham, wo sie bis 1971 – dem Todesjahr ihres Freundes – in Wohngemeinschaft mit ihm lebte. Maxon, der im Dritten Reich als »entartet« galt, war von Anfang an ein »erbitterter Gegner« des Nationalsozialismus und vermittelte den jungen Künstlern, die bei ihm lernten, ein umfassendes Wissen über alle künstlerischen Strömungen.
Marianne Lüdickes Kunstschaffen beruht kaum auf irgendwelchen Vorbildern, sondern speist sich fast ausschließlich aus ihrer eigenen Wahrnehmung und den vielen Eindrücken, die sie bei Reisen bekam. Immer im Mittelpunkt ihrer Arbeiten steht der Mensch, als Einzelperson, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Bei der Gestaltung ihrer Figuren besticht die Harmonie. Aber nicht detailgetreue Wiedergabe ist ihr Ziel, sondern die abstrahierte Haltung des Menschen, die dennoch in unmissverständlicher Weise Emotionen und den Kosmos der Seele auszudrücken vermag. Die Künstlerin vermachte den Großteil ihres künstlerischen Nachlasses der Marktgemeinde Prien. Wer sich nach dem Besuch des Atelierfensters in Staudach-Egerndach Appetit geholt hat, kann seine Eindrücke zur Künstlerin in der Galerie Fine Art von Franz Gailer in der Torhalle auf Frauenchiemsee bis Mitte Oktober noch vertiefen.
Die Ausstellung im Atelierfenster ist bis zum 100. Geburtstag Marianne Lüdickes am 18. Oktober dieses Jahres zu sehen. Das Fenster ist wie immer in den Abendstunden von 17 Uhr bis 22 Uhr beleuchtet. Es liegt ein Heft für die gern gesehenen Kommentare der Betrachter und zum Dialog mit dem Initiator und Betreiber des Atelierfensters aus. Christiane Giesen