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Gebannt lauschten die – leider nur wenigen – Zuhörer den Erinnerungen von Rudolf Linner aus seiner »Kindheit in Dachau«. (Foto: Flug)

Kindliche Pfade am KZ-Sperrbezirk

An einem gemütlichen Abend muss man sich ein Thema wie »Meine Kindheit in Dachau« vielleicht nicht antun. Trotzdem waren rund 15 Zuhörer zur Autorenlesung des 77-jährigen Rudolf Linner gekommen. Es war eine besondere Atmosphäre im von Kerzen erleuchteten, ansonsten dunklen Wintergarten im »Café Ton und mehr« in Oberwössen. Man muss es sich nicht antun, man sollte es aber.


In Dachau ist er aufgewachsen, der Rudolf Linner. Ruhig und sachlich stellt er sich und sein Leben in der Einleitung vor. Ruhig und sachlich sind die Auszüge aus seinem Buchmanuskript, die er liest. Als bairischer Bub wächst er in immer schwierigeren Zeiten heran. Er berichtet vom kargen Haushalt in karger Wohnung mit immer weniger Lebensmitteln. Er erzählt von Mutter und Tante, die aufs Land gehen, den Radius mit dem Radl und dem Zug erweitern. Sie fechten, organisieren im landwirtschaftlichen Umland Lebensmittel. Im Gespräch zwischen den Lesungen stellt sich heraus, wie es ehemals selbstbewusste Leute demütigte, auf dem Land zu betteln.

Die Fliegeralarme häufen sich in der Stadt Dachau. Sie bringen die Kinder aus dem Trott, wenn sie unter dem Verdunkelungsgebot in der Nacht in die Keller stolpern. Sie leiden, weil sie die Unruhe der Eltern und Nachbarn spüren. Nach vielen Nächten ohne Schaden wird es aus kindlicher Sicht ein Spektakel, wenn Signallichter vor den fernen Bomberkonvois den Himmel mit »Weihnachtsbäumen« aus Lichtern erhellen. Bis es dann im eigenen Keller kracht, als der Hausherr mit der Kellertür in den Raum fliegt, weil die Fliegerbomben die eigene Straße zerstören.

Die Lebensmittel rar, das Butterbrot eine unverhoffte Delikatesse. Trotzdem bewahren sich die Dachauer Kinder ihre Kindheit, sind unterwegs und machen sich ihre Stadt zu eigen.

Das ist der Moment, wo sie auf das Sperrgebiet um das Bahngleis zum Konzentrationslager stoßen. Von da an hilft ihnen die intime Ortskenntnis des abenteuerlustigen Kindes, die Kenntnis von Pfaden im Heimatort, das Geschehen zu betrachten. Da erfahren sie, was in den Gesprächen der Erwachsenen gerüchteweise aufblitzt, was die Kinder in Sorge um ihr Wohl nie erfahren sollten. Kurz vor Kriegsende werden die stillen Beobachter traumatisiert. Sie werden Zeugen von Leichentransporten und Massenerschießungen am Massengrab des Dachauer Leichenberges.

Es sei nicht einfach gewesen, sich in die frühen Erinnerungen der Kindheit zu finden, hatte Linner seinem Vortag vorangestellt. Er habe es aufschreiben wollen, seinen Kindern seine Kindheit aufzuzeigen. Die Enkelin, fleißige Tipperin der Handschrift und Lektorin, habe die Idee zum Buch gehabt. Erst als er fertig war, habe er erkannt, dass er sich so den Ballast von der Seele geschrieben hat.

Unter dem Eindruck der Erzählungen gab es zunächst keinen Applaus. Erst als Linner eine amüsante Geschichte nachschob, löste sich die Spannung. In dem anschließenden Gespräch zollten die Zuhörer durchweg Anerkennung. Linner erläuterte seine Aufgabe, zum Geschichtsverständnis von Kindern und Jugendlichen beizutragen. Er sei sehr beeindruckt, wie die Jugendlichen in den Schulen hochkonzentriert seinen Schilderungen folgten. Lehrer bestätigen ihm, wie das Thema die Schüler anpackt und berührt. Ludwig Flug

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