Das Publikum ist die Jury: Es bewertet mit Punkten von 1 bis 10 die innerhalb eines Zeitlimits dargebotenen Texte und darf zum Schluss auch einen Sieger küren. Blickt man auf die Bühne, auf der im »Line Up« die Dichter auf einem Sofa auf ihren Auftritt warten, fällt besonders eines auf: Da sitzen sehr junge Menschen, die durch die selbst geschriebenen Texte ihre Sicht der Dinge nach außen kehren.
Sie klagen an, zeigen auf, rütteln wach und strafen den Vorwurf, dass die junge Generation der Welt mit Gleichgültigkeit und Ziellosigkeit gegenübersteht, Lügen. Vom angepasst braven Mädchen bis zum aufmüpfigen Revoluzzer scheint da alles vertreten zu sein und dementsprechend bunt ist die Themenpalette der »geslammten« Texte.
Mit dem sozialkritischen Text »Warum ich schreibe«, über das sinnlose Dahin-Vegitieren unserer auf dem Abstellgleis Altersheim positionierten Alten, eröffnete Tommy Sans Souci den Dichterwettstreit. Aus der Sicht eines desillusionierten Altenpflegers stachen vor allem Sätze wie »Kein Joghurt für Frau Klein« (Sie spuckt ihn schon seit Jahren auf den Tisch) oder »Können die Alten nicht einfach sterben?«, aus dem Text heraus und unterstrichen die Tatsache, dass der Monotonie des Alltags im Pflegeheim die fortschreitende Demenz als einzig wirksames Mittel entgegengesetzt werden kann. Aus dem Munde eines jungen Menschen wirkte die Botschaft besonders verstörend und fand beim Publikum großen Anklang und dementsprechend hohe Bewertung.
Josephine von Blütenstaub wählte ein ähnlich aufrüttelndes Thema: Mit dem Titel »Eigentlich ganz einfach« beschreibt sie den Spießrutenlauf eines adipösen Außenseiters, der sich mit Hilfe von mathematischen Formeln durch den Sumpf von Vorurteil, Ausgrenzung und Beleidigung durchs Leben kämpft. »Sieh dir mal den Fettsack an! Wie kann man sich so gehen lassen?«. Eigentlich ganz einfach und doch unglaublich schwer ist und bleibt das Leben des Außenseiters in unserer Gesellschaft.
Melanie Koss überzeugte mit einem Text über das Thema »Lebenszeit« und philosophierte über das Verpassen des richtigen Moments. »Ständig muss die Zeit erst reifen«, bis »Zeitjäger« feststellen, dass, wenn die Zeit gekommen ist, sie bereits zerronnen ist. Mit dem Schlusssatz »Die Zeit läuft – jetzt!« hielt sie dem Publikum den Spiegel vor und wurde mit kräftigem Applaus belohnt. »Bruchstücke aus einer anderen Welt« war der Titel eines ebenso anklagenden wie motivierenden Textes zum Thema Gleichheit und zerstörerische Selbstkritik von Meryem Andira Kandamir.
Einen völlig anderen Wind ließ Teresa Reichl mit ihrem Text »Lehrer sind auch nur Menschen« (zumindest manchmal), durchs Publikum wehen. Zum Brüllen komisch war der Erfahrungsbericht der jungen Lehrerin, die von den Widrigkeiten der Person hinter dem Pult und vor der Tafel erzählte.
Kontrastreich dazu stellte Max Ziedek dem prallen Leben das Thema Sterben und Loslassen gegenüber. Das Scheitern im Kampf gegen Krebs, das Abschiednehmen und Verlassenwerden, das »Freigeben« und Entfesseln von irdischen Qualen stellt Betroffene wie Angehörige vor schmerzliche, schwer zu ertragende Aufgaben. Einzig der Tod kann Erlösung bringen und liebende Erinnerung im Herzen lebendig halten, so die Aussage aus seinem Text.
Jay Man beschließt mit seinem Text »Ich werde Deutscher«, sich selbst in schwarz-rot-goldenem Licht nationalistisch zu beflaggen. »Typisch Deutsch«, stellt er diese patriotische Spezies im Verbote-Dschungel mit frisch gewaschenem »Heiligen Blechle« und Deutschem Schäferhund auf den Standstreifen und überholt selbstbewusst von links. Zum Abschluss der ersten Runde präsentierte Annika Igler mit »Du und ich« einen Text über die Hilflosigkeit der Veränderung, der sie sich durch Abschied und Trennung ausgesetzt sah. Sehr berührend stellte sie fest, dass man es nicht hört, wenn Herzen brechen und dass Erinnerungen bis in die Ewigkeit lebendig bleiben.
Nach der Pause blieb die Hälfte der Wortpoeten im Rennen und durfte noch einmal mit einem anderen Text auf die Bühne. Nach einem intensiven zweiten Teil – man hatte fast den Eindruck, dass die jungen Poeten noch eine Schippe drauflegen konnten – gewann schließlich Tommy Sans Souci mit einem Text über einen Jungen, der, in asozialen Verhältnissen aufwachsend, wenig Chancen auf eine »normale« Kindheit hat. Josephine von Blütenstaub, Teresa Reichl und Max Ziedeck ernteten für ihren zweiten Text großen Respekt und viel Applaus.
Alles in allem zeigen solche Poetry-Slam Veranstaltungen, wie viele junge Menschen sich mit gesellschaftlich-politischen Themen intensiv auseinandersetzen. Nur langsam fanden die Besucher des ausverkauften Kulturhauses Chiemgau den Weg nach draußen, denn nach den gehörten Texten schien Redebedarf zu bestehen. Kirsten Benekam