Chorleiter Manfred Müller hatte ein stimmiges Programm zusammengestellt, das sich zwei zentralen Themen widmete: dem Vater-unser-Gebet, das alle christlichen Konfessionen verbindet, und der Antiphon »Ubi caritas et amor, Deus ibi est« (»Wo Güte ist und Liebe, da ist Gott«). Diese stammt aus einer St. Galler Handschrift aus dem 8. Jahrhundert.
Fünf mögliche Arten, das »Vater unser« zu beten, schilderte das uraufgeführte Werk »Vater« von Patrick Pföß. Der in Traunstein geborene und in Teisendorf aufgewachsene Komponist, Flötist, Musiklehrer und Chorsänger in St. Oswald dirigierte es selbst. Der Chor begann mit fast unhörbarem Durcheinander-Flüstern, das sich nach und nach zu lautem Sprechen steigerte. Auf raffinierte Weise nützte Pföß die Wirkung des Raumes, indem er Bariton Manfred Müller und Mezzosopranistin Margret Zahnbrecher hinter den etwa 40 Sängern interagieren ließ. Dazu wob der Chor einen Klangteppich mit sich überlagernden »Clustern«. Eine mystische Gebetsatmosphäre entstand, die an die innige Vaterbeziehung Jesu oder ein intensives Gespräch erinnerte. Dabei wurden einzelne Wörter oder Sätze wie »Brot« oder »Führe uns nicht in Versuchung« ausdrucksstark in Szene gesetzt. Alle Sängerinnen und Sänger beeindruckten mit Konzentration, stimmiger Phrasierung und exakten Absprachen und loteten den Grenzbereich zwischen Sprechen, Schreien, Rufen, Singen und Sprechgesang aus.
Vergleichbar traditionell wirkte dagegen die sich anschließende Motette »Ubi caritas et amor« des Franzosen Maurice Duruflé (1902 - 1986), der die gregorianische Melodie mit französisch-impressionistischen, teils auch spätromantisch wirkenden Klängen unterlegte. Der schwingende Vortrag des Chors und die Ausgestaltung des »Amen« waren ein Genuss. Später bei »Notre Père«, Duruflés letzter Komposition, ließ sich der Chor unter Müllers bestimmter und zugleich feinfühliger Leitung offenkundig auch vom schönen Duktus der französischen Sprache inspirieren. Intensität, Wärme und eine meditative Stimmung entstanden. In die russisch-orthodoxe Spiritualität entführte das »Vater unser« von Nikolai Kedrov. Dem »Amen« verliehen die Chorsängerinnen und Chorsänger ein wunderbar offenes »A«. Ihr waches Aufeinander-Hören in stetem Kontakt zum Chorleiter sowie Einfühlung in die geistliche Welt der Werke ermöglichte eine für einen Laien-Kirchenchor beachtliche Klangqualität.
Kurz entspannen konnte der Chor bei Margret Zahnbrechers virtuoser Interpretation von Felix Mendelssohn Bartholdys »Vater-unser-Sonate« in d-Moll. Es machte Spaß, die anfangs im homophonen Satz vorgestellte Melodie des Kirchenliedes »Vater unser im Himmelreich« in den Variationen in immer neuen Stimmen, vom Diskant bis zum Bass, zu entdecken. Nach einer prachtvollen Fuge mit romantischer Harmonik klang die Sonate mit einem zart registrierten Finale wehmütig und unspektakulär aus. Dem »Ubi caritas« von Wolfram Menschick (1937 - 2010) mit schlichten, sich weitenden Klängen und dem »Pater noster« von Isidro Gambarte schloss sich eine zweite Uraufführung an: Sein Stück »Aita gurea« schrieb Gambarte, der sich aus gesundheitlichen Gründen mit großem Bedauern entschuldigen musste, für den Traunsteiner Kirchenchor, den er viele Jahre geleitet hatte. Es ist eine Vater-unser-Vertonung in der Sprache des Baskenlandes, wo Gambarte geboren wurde.
Archaische Kraft wechselte mit feinen, transparenten Choral-Fäden, die sich durch die Stimmen zogen. Mit auffälliger Rhythmik und wellenförmiger Bewegung riss als Schlusspunkt des mit viel Applaus honorierten Konzerts ein »Ubi caritas« des Amerikaners Morten Lauridsen aus dem Jahr 2000 mit. Veronika Mergenthal