Ein Smartphone wird auch in diesem Jahr bei etlichen Kindern unterm Weihnachtsbaum liegen. »Kannst du das Handy mal weglegen?« kann dann schneller zum Standardsatz werden, als viele Eltern ahnen. Mal eben bei Tiktok oder Snapchat geschaut und hängengeblieben – schon wieder ist eine Stunde Lebenszeit weg.
»Die Nutzungszeit ist extrem – und all diese Lebenszeit steht uns nicht für andere Dinge zur Verfügung«, sagt der Medienwissenschaftler Ralf Lankau. 168 Stunden hat eine Woche, etwa 50 bis 60 davon schlafen wir. Sagenhafte 72 Stunden pro Woche bewegen sich die Bundesbürger inzwischen im Netz, mit keinem anderen Gerät mehr als mit dem Smartphone, wie die kürzlich vorgestellte »Postbank Digitalstudie 2025« ergab. Bei den 18- bis 39-Jährigen sind es sogar fast 86 Stunden.
Handys haben zig Funktionen: Filme werden geschaut, es wird gezockt, kommuniziert, fotografiert und geshoppt, Bankgeschäfte erledigt und Nachrichten gelesen. Es sei deshalb Unsinn, das Smartphone an sich zu verteufeln, betonen Experten. Ihr Augenmerk richtet sich vor allem auf soziale Medien.
Business-Modell: Menschen im System halten
Sieben von zehn Befragten sind der Digitalstudie zufolge regelmäßig in sozialen Netzwerken aktiv. Wobei »aktiv« es meist nicht so recht trifft: Algorithmen schlagen vor, was wir sehen, welcher Minifilm bei Tiktok auf den nächsten folgt. Wir sind nur stille Konsumenten.
Business-Modell sozialer Medien ist es, Nutzer möglichst lange im System zu halten. Dafür werde auf fortwährende Dopamin-Kicks gesetzt, die die Erwartung von immer Neuem belohnen, erklärt der Entwicklungspsychologe Sven Lindberg. »Kurzvideos bieten das im Extrem.«
Die Gewöhnung an Reize im Sekundentakt sorge dafür, dass ein Buch oder eine Giraffe im Zoo weit weniger attraktiv wirke. Zudem nutze sich der Effekt nicht ab, stattdessen entstehe ein Nicht-aufhören-können ähnlich wie am Spielautomaten, sagt Lindberg. Der Effekt macht sich vor allem bei Kindern und Jugendlichen bemerkbar. »Wir sehen in Studien einen Zusammenhang zwischen jüngerem Alter und einer stärkeren suchtähnlichen Nutzung der sozialen Medien«, bestätigt der Kognitionsforscher Christian Montag.
Vielfach würden psychische Probleme junger Menschen mit intensiver Social-Media-Nutzung in Verbindung gebracht, ergänzt Lindberg, Leiter der Klinischen Entwicklungspsychologie an der Universität Paderborn. Ursächlich nachzuweisen sei dieser Zusammenhang nur schwer – allein schon deshalb, weil es keine Vergleichsgruppe ohne Smartphone gibt.
Schlafmangel und fehlende Zeit für Reifung und Kreativität
Eine der deutlichsten bereits nachgewiesenen Folgen überbordender Handynutzung ist Lindberg zufolge Schlafmangel, der bei Kindern sowohl kurzfristige Folgen etwa für die Lernfähigkeit als auch langfristige für die Hirnreifung habe.
Im Zusammenhang mit dem Geschäftsmodell sozialer Medien, Nutzer möglichst lange im System zu halten, werde auch die sogenannte Displacement-Hypothese diskutiert, erklärt Montag, der derzeit an der Universität von Macau lehrt. »Die Logik dahinter lautet, dass die verbrachte Zeit auf den sozialen Medien weg ist für andere wichtigere entwicklungspsychologische Aufgaben.«
Lindberg spricht von einem »weltweiten Sozialexperiment unvergleichlichen Ausmaßes«. Ein Experiment, das sich womöglich auf die künftige Zahl an Patenten und nobelpreiswürdigen Ideen, auf den Erfindergeist in allen möglichen Lebenslagen und auf die Kunst auswirkt.
Gezwungen, sich was auszudenken
Zugrunde liegt unter anderem ein durch soziale Medien aussterbendes Gefühl: die Langeweile. Sie mag nerven, macht aber kreativ, wie viele Eltern wissen: Wenn der Knirps über schreckliche Langeweile klagt, hat er Minuten später oft grandiose Spielideen. Studien zeigen Montag zufolge, dass Gedankenwandern eine Voraussetzung für Kreativität ist. »Wenn ich in jeder freien Minute von meinem Smartphone absorbiert werde, ist es schwer, in einen reflexiven Modus zu kommen.«
Einem an das ständige Geblinker sozialer Medien gewöhnten Gehirn kann es auch viel schwerer fallen, sich ausdauernd etwa dem Lesen eines Textes zu widmen. Das Smartphone mit all seinen Verlockungen verkürze zwar die theoretisch mögliche persönliche Konzentrationszeit nicht, erschwere es aber, die Konzentration tatsächlich zu halten, erklärt Lankau. Das birgt die Gefahr, schlechter lernen zu können.
Werden wir dümmer?
Statistiken weisen auf einen Zusammenhang zwischen der Nutzung sozialer Medien und dem Bildungserfolg hin. Eine längere Nutzungszeit sozialer Medien sei demnach mit schlechteren Noten verbunden, sagt Montag. »Zudem gibt es durchaus Evidenz, dass Smartphone-Verbote in Bildungseinrichtungen zu verbesserten Noten führen können.«
Der Datenanalyst John Burn-Murdoch hat für die »Financial Times« Mittelwerte von Langzeitstudien internationaler Organisationen wie der OECD ausgewertet. Demnach sinken die Denk- und Problemlösefähigkeiten von Teenagern im Lesen, Rechnen und bei naturwissenschaftlichen Aufgabenstellungen seit etwa 2010.
Um einem Problem oder einer Fragestellung wirklich auf den Grund zu gehen, müsse man Argumente destillieren, lange Texte analysieren und langen Debatten folgen können, sagt Medienwissenschaftler Lankau. »Es ist eines der größten Probleme, dass kritisches Denken verlernt wird.« Das kann Experten zufolge sogar den Demokratien gefährlich werden.
Soziale Medien seien heute zentral für die Meinungsbildung und als Informationsquelle, sagt Philipp Lorenz-Spreen von der TU Dresden. Gerade junge Menschen nutzten oft gar keine anderen Angebote mehr. Und gerade sie seien empfänglich für gezielte Beeinflussung und Manipulation, sagt Lankau.
Nur Knalliges bekommt Aufmerksamkeit
Um Nutzer im Meer der Belanglosigkeiten gezielt zu locken, muss es in sozialen Medien möglichst emotional zugehen, die Botschaften müssen einfach sein und die Beiträge kurz, erklärt Lorenz-Spreen. In sieben oder auch nur fünf Sekunden lassen sich komplexe Sachverhalte schwerlich vermitteln – sehr wohl aber einfache, möglichst moralisch-emotional aufgeladene Botschaften.
Für Menschen wie US-Präsident Donald Trump mit simplen, knalligen Statements seien soziale Medien die perfekte Bühne – und das wiederum sei brandgefährlich, sagt Lorenz-Spreen. »Soziale Medien zündeln an Gesellschaften, um Geld zu verdienen«, warnt er. »Ich wundere mich, dass die Demokratien das so hinnehmen.«
Die Welt reagiert
Folgen für den Einzelnen, für Gesellschaften und die Zukunft dieser Welt - immer stärker regt sich Widerstand dagegen. Erste Länder unterbinden die Nutzung sozialer Medien bei Kindern und Jugendlichen. Auch nach Ansicht des EU-Parlaments sollte sie erst ab 16 Jahren erlaubt sein. Mit deutlicher Mehrheit stimmten die Abgeordneten kürzlich für die Forderung nach einem entsprechenden EU-weiten Mindestalter.
In dem verabschiedeten Bericht, der zunächst keine bindende Wirkung hat, wird zudem gefordert, mehr gegen Suchtfaktoren und manipulative Strategien zu tun. »Der Großteil der Jugendlichen findet das Medienverhalten selbst problematisch«, sagt Lindberg. Der Digitalstudie der Postbank zufolge wollen 36 Prozent der 18- bis 39-Jährigen künftig weniger online sein und sich zum Beispiel persönlich mit Familie und Freunden treffen.
Also lieber kein Smartphone unterm Baum?
Lankau rät, Heranwachsenden bis 14 kein Handy mit Internetzugang zu geben. In teuren Internaten bekämen Kinder oft nur sogenannte Dumbphones mit extrem eingeschränkten Internet- und App-Funktionen. Auch viele Eltern im Hightech-Zentrum Silicon Valley seien extrem restriktiv. »Es ist Elitismus, das stark zu beschränken.«
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