»Ziag oo, Anderl!«
Eine Geschichte zum Fest Mariä Himmelfahrt

Maria, die Entschlafene – Ikone aus dem Kloster Troize – Sergiewa Lawra bei Moskau.
Die meisten Kinder in der Gemeinde des alten Herrn Pfarrers Zwiesler wissen gar nicht, dass der 15. August ein hoher Festtag ist. Er fällt ja mitten in die Sommerferien, und da sind viele seiner Schäfchen in ihre Urlaubsländer verstreut. Nur ein Häuflein bleibt daheim, das den Festgottesdienst an »Mariä Himmelfahrt« besucht.
Für die wenigen Getreuen aber hat der alte Herr Pfarrer Zwiesler einen besonderen Spaß bereit. Nach dem Hochamt mit brausendem Orgelspiel, extra dicken Weihrauchwolken und feierlicher Kräuterweihe lässt er seit seiner Amtsübernahme die leibhaftige Aufnahme Mariens in den Himmel stattfinden.
Zwölf würdige Herren treten vor den Volksaltar und stellen sich im dichten Kreis um ihn herum auf, sodass sie einander anschauen.
Der Herr Pfarrer Zwiesler, der für das Volk in den Kirchenbänken nicht sichtbar ist, beginnt zu erzählen: »Als die Mutter unseres Herrn spürte, dass sie bald diese Erde verlassen muss, traten alle Zwölfe an ihr Sterbebett…«
Die zwölf würdigen Herren treten bei diesen Worten ein wenig auseinander, und sie von Zauberhand geleitet, liegt – für die vorne Sitzenden und den Frommen auf der Empore gut sichtbar – eine mittelgroße Marienstatue aus Gips auf einem Bettchen, mitten in der Runde der Zwölf.
Ein Bub aus der zweiten Klasse konnte sich einmal nicht mehr halten und stieß beim Anblick Mariens einen kleinen Schrei aus, weil er nämlich am Kopf der Figur einen Rundhaken entdeckte. Den konnten freilich nicht alle Kirchenbesucher sehen, aber die meisten von ihnen wussten ohnehin Bescheid.
Also: Der alte Herr Pfarrer Zwiesler erzählt weiter: »Kaum hatte Maria ihren letzten Schnaufer getan…«
Was er dann noch verkündet, spielt sich in den folgenden Minuten vor aller Augen ab: Hoch oben in der Kirchenkuppel rumpelt es. Alle blicken auf und sehen, wie sich der Deckel von dem in der Kuppel ausgesparten großen Loch bewegt und wie aus dem Dunkelrund an einem langen Strick eine weißblaue Wolke aus starkem Karton ins Kirchenschiff niederschwebt.
Geraune und Gestaune
Die paar Kinder in den ersten Bänken stoßen sich an und kichern. Keines beachtet den Pfarrer, der fortfährt: »Christus spricht aus der Wolke, die vom Himmel schwebt: Was dünkt euch, was ich meiner Mutter für eine Ehre antun soll? Und von den Zwölfen einer sagt: Herr, uns dünkt, gleich wie du selbst mit Leib und Seel‘ gen Himmel bist gefahren, so führe auch Maria mit Leib und Seel‘ dorthin.«
In diesem Augenblick fällt die Wolke von dem Strick ab, und einer der zwölf würdigen Herren hakt die Schlaufe im Haken des Statuenkopfes ein. Die Männer treten auseinander, und alle können sehen, wie Maria mit Leib und Seel‘ – also, die muss man sich halt jetzt dazudenken – in die Kuppel auffährt.
Ja, wenn das nur immer so gut gegangen wär, wie sich das hier anhört! Einmal nämlich hat zwar das Einhaken hingehaut, aber Maria hat sich nicht nach oben bewegt. Keine Zentimeter. Wollte sie vielleicht nicht in die schwindelnde Höhe des Kirchenbodens hinauf? Oder befürchtete sie, ins dunkle Ungewisse zu fahren? Sie blieb jedenfalls starr, und der alte Herr Pfarrer Zwiesler, sonst die Ruhe selbst, wurde ein wenig ungeduldig, weil sich diesmal Mariä Himmelfahrt ungebührlich lang hinauszögerte und er nicht aus und ein wusste.
Ratlos schlug er ein dickes Buch auf und las laut daraus vor: »Steh auf, meine Geliebte!«, so las er im feierlichen Tonfall. »Steh doch auf, du Tabernakel der Herrlichkeit Gottes, du Gefäß des Lebens, du Wohnung des Allerhöchsten! Steh auf von deinem Schlaf und erwache zum ewigen Leben!«
Still war es in der Kirche geworden, mucksmäuschenstill. Alles wartete darauf, dass Maria sich bewegte, auch wenn jeder wusste, dass sie eigentlich tot war, für immer entschlafen. Aber jedem war ebenso klar, dass sie erst dann richtig gestorben sein würde, wenn sie bei ihrem Sohn hoch oben im Kirchenhimmel geborgen wäre.
Da sich nichts bewegte, das Seil nur schlaff aus der Kuppel herabhing bis zur Einhakstelle am Statuenkopf, da zischte der alte Herr Pfarrer Zwiesler, sonst eher kleinlaut, ziemlich nachdrücklich und für alle vernehmbar zur Kuppel hinauf: »Ziag oo, Anderl!«
Und es dauerte nur einen Glockenschlag lang, bis Maria unter allgemeinem Oh und Ah endlich in den Himmel auffuhr. Leibhaftig und seelenruhig.
Den Anderl hat sich der alte Herr Pfarrer Zwiesler nach dem Festgottesdienst in die Sakristei kommen lassen, um ihm in Aussicht zu stellen, nächstes Jahr seinen Posten in der Kirchenkuppel an ein aufmerksameres Gemeindemitglied abtreten zu müssen. »Next‘s Jahr, Herr Pfarrer«, hat da der Anderl gesagt, »bin i im August eh auf Mallorca!«
Hans Gärtner
32/2011
Für die wenigen Getreuen aber hat der alte Herr Pfarrer Zwiesler einen besonderen Spaß bereit. Nach dem Hochamt mit brausendem Orgelspiel, extra dicken Weihrauchwolken und feierlicher Kräuterweihe lässt er seit seiner Amtsübernahme die leibhaftige Aufnahme Mariens in den Himmel stattfinden.
Zwölf würdige Herren treten vor den Volksaltar und stellen sich im dichten Kreis um ihn herum auf, sodass sie einander anschauen.
Der Herr Pfarrer Zwiesler, der für das Volk in den Kirchenbänken nicht sichtbar ist, beginnt zu erzählen: »Als die Mutter unseres Herrn spürte, dass sie bald diese Erde verlassen muss, traten alle Zwölfe an ihr Sterbebett…«
Die zwölf würdigen Herren treten bei diesen Worten ein wenig auseinander, und sie von Zauberhand geleitet, liegt – für die vorne Sitzenden und den Frommen auf der Empore gut sichtbar – eine mittelgroße Marienstatue aus Gips auf einem Bettchen, mitten in der Runde der Zwölf.
Ein Bub aus der zweiten Klasse konnte sich einmal nicht mehr halten und stieß beim Anblick Mariens einen kleinen Schrei aus, weil er nämlich am Kopf der Figur einen Rundhaken entdeckte. Den konnten freilich nicht alle Kirchenbesucher sehen, aber die meisten von ihnen wussten ohnehin Bescheid.
Also: Der alte Herr Pfarrer Zwiesler erzählt weiter: »Kaum hatte Maria ihren letzten Schnaufer getan…«
Was er dann noch verkündet, spielt sich in den folgenden Minuten vor aller Augen ab: Hoch oben in der Kirchenkuppel rumpelt es. Alle blicken auf und sehen, wie sich der Deckel von dem in der Kuppel ausgesparten großen Loch bewegt und wie aus dem Dunkelrund an einem langen Strick eine weißblaue Wolke aus starkem Karton ins Kirchenschiff niederschwebt.
Geraune und Gestaune
Die paar Kinder in den ersten Bänken stoßen sich an und kichern. Keines beachtet den Pfarrer, der fortfährt: »Christus spricht aus der Wolke, die vom Himmel schwebt: Was dünkt euch, was ich meiner Mutter für eine Ehre antun soll? Und von den Zwölfen einer sagt: Herr, uns dünkt, gleich wie du selbst mit Leib und Seel‘ gen Himmel bist gefahren, so führe auch Maria mit Leib und Seel‘ dorthin.«
In diesem Augenblick fällt die Wolke von dem Strick ab, und einer der zwölf würdigen Herren hakt die Schlaufe im Haken des Statuenkopfes ein. Die Männer treten auseinander, und alle können sehen, wie Maria mit Leib und Seel‘ – also, die muss man sich halt jetzt dazudenken – in die Kuppel auffährt.
Ja, wenn das nur immer so gut gegangen wär, wie sich das hier anhört! Einmal nämlich hat zwar das Einhaken hingehaut, aber Maria hat sich nicht nach oben bewegt. Keine Zentimeter. Wollte sie vielleicht nicht in die schwindelnde Höhe des Kirchenbodens hinauf? Oder befürchtete sie, ins dunkle Ungewisse zu fahren? Sie blieb jedenfalls starr, und der alte Herr Pfarrer Zwiesler, sonst die Ruhe selbst, wurde ein wenig ungeduldig, weil sich diesmal Mariä Himmelfahrt ungebührlich lang hinauszögerte und er nicht aus und ein wusste.
Ratlos schlug er ein dickes Buch auf und las laut daraus vor: »Steh auf, meine Geliebte!«, so las er im feierlichen Tonfall. »Steh doch auf, du Tabernakel der Herrlichkeit Gottes, du Gefäß des Lebens, du Wohnung des Allerhöchsten! Steh auf von deinem Schlaf und erwache zum ewigen Leben!«
Still war es in der Kirche geworden, mucksmäuschenstill. Alles wartete darauf, dass Maria sich bewegte, auch wenn jeder wusste, dass sie eigentlich tot war, für immer entschlafen. Aber jedem war ebenso klar, dass sie erst dann richtig gestorben sein würde, wenn sie bei ihrem Sohn hoch oben im Kirchenhimmel geborgen wäre.
Da sich nichts bewegte, das Seil nur schlaff aus der Kuppel herabhing bis zur Einhakstelle am Statuenkopf, da zischte der alte Herr Pfarrer Zwiesler, sonst eher kleinlaut, ziemlich nachdrücklich und für alle vernehmbar zur Kuppel hinauf: »Ziag oo, Anderl!«
Und es dauerte nur einen Glockenschlag lang, bis Maria unter allgemeinem Oh und Ah endlich in den Himmel auffuhr. Leibhaftig und seelenruhig.
Den Anderl hat sich der alte Herr Pfarrer Zwiesler nach dem Festgottesdienst in die Sakristei kommen lassen, um ihm in Aussicht zu stellen, nächstes Jahr seinen Posten in der Kirchenkuppel an ein aufmerksameres Gemeindemitglied abtreten zu müssen. »Next‘s Jahr, Herr Pfarrer«, hat da der Anderl gesagt, »bin i im August eh auf Mallorca!«
Hans Gärtner
32/2011