Wöchentlicher Anschlag
Der Röhm-Putsch – Der Stabschef der SA wurde von Adolf Hitler persönlich verhaftet



Die Revolution, gleich Saturn, frisst ihre eigenen Kinder. (Pierre Vergniaud kurz vor seiner Hinrichtung auf dem Schafott am 31. Oktober 1793 in Paris)
Es war ein Rechtsanwalt, ein Führer der Girondisten während der Französischen Revolution und ihr wohl brillantester Redner, der, nachdem er zuvor die Enthauptung seiner politischen und persönlichen Freunde hatte mitansehen müssen, diese letzten Worte sprach. Georg Büchner machte sie berühmt. Es sind die Gedanken des Hauptdarstellers in »Dantons Tod« (1835), der schon im 1. Akt sein eigenes, gewaltsames Ende voraus ahnt. Unzählige Beispiele lassen sich für die zeitlose Gültigkeit dieses Aphorismus nennen. Zu ihnen zählt das Schicksal Ernst Röhms und der Führung der SA. Auch sie wurden Opfer eines Umsturzes, an dessen Ingangsetzung und Ausführung sie zuvor maßgeblich beteiligt waren; ein Umsturz unter dem Deckmantel der Demokratie, begleitet von Drohungen, Intrigen und Gewalt.
Röhm, geboren am 28. November 1887 in München, im 1. Weltkrieg Offizier an der Westfront, dreimal verwundet und mit dem Eisernen Kreuz beider Klassen dekoriert, war eines der ersten Mitglieder der NSDAP und gehörte zu den ganz wenigen Duzfreunden Hitlers. Er sah sich stets als Soldat, nie als Politiker, und konzentrierte sich in den frühen Jahren auf den Aufbau verschiedener nationaler Kampfverbände. Seine politische Einstellung war und blieb antikapitalistisch und revolutionär; Großindustrie wie auch die Reichswehr erachtete er als korrupt. Nach Meinungsverschiedenheiten über die künftige Rolle der SA (»Sturmabteilung«) innerhalb der NSDAP zog er sich 1925 von seinen Ämtern zurück. 1928 bis 1930 diente er in der bolivianischen Armee als Ausbilder im Rang eines Oberstleutnants. Nachdem Ernst Röhm im November 1930 nach Deutschland zurückgekehrt war, bot Hitler, der sich mittlerweile selbst zum »Obersten SA-Führer« gemacht hatte, ihm den Posten eines »Obersten Stabschefs « der SA an. In der Folge baute Röhm sie zu einer breit angelegten Bewegung aus, die das Auftreten und das Selbstverständnis der NSDAP bis zum Sommer 1934 maßgeblich prägte.(1)
Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann das Verhältnis zu seinem treuen Gefolgsmann zu bröckeln. Röhm und seiner Führungsriege ging das Handeln der neuen Machthaber nicht weit genug. Sie wollten die »Machtergreifung« mit einer »zweiten Revolution« in ihrem Sinn zu Ende bringen. Hitlers Taktieren war ihnen zuwider. Vehement forderten sie die Auflösung der Reichswehr und ihre Eingliederung in die auf annähernd vier Millionen Mitglieder angewachsene SA.
Hitler, der für seine (Kriegs-)Pläne die Unterstützung der Industrie, das Wohlwollen der Generäle und die Gunst Hindenburgs unbedingt benötigte, sah sich zum Handeln gezwungen.(2) Am 28. Februar 1934 garantierte er vor führenden Militärs im Beisein der SA-Spitzen den Bestand der Wehrmacht und der allgemeinen Wehrpflicht; der Umwandlung in ein Volksheer erteilte er eine schroffe Absage. Für Röhm war diese Entscheidung eine bittere Niederlage, die er vor seinen Leuten mit einer verhängnisvollen Äußerung kommentierte: »Was der lächerliche Gefreite erklärte, gilt nicht für uns. Wenn nicht mit, so werden wir die Sache ohne Hitler machen.« Ein Zuhörer, SA-Obergruppenführer Viktor Lutze, informierte zunächst Rudolf Heß. Anschließend wurde er von Hitler auf seinem Berghof zu einer mehrstündigen Unterredung empfangen. Der Denunziant sollte der neue starke Mann der SA werden.(3)
In den folgenden Wochen wurden massiv Gerüchte über eine unmittelbar bevorstehende Revolte der SA und die Homosexualität Röhms und seiner Vertrauten gestreut. Ernst Röhm hatte bis dahin kein Geheimnis aus seiner gleichgeschlechtlichen Neigung gemacht und diese relativ offen gelebt. Und Hitler hatte daran keinen Anstoß genommen, denn: Die SA sei »keine moralische Anstalt zur Erziehung von höheren Töchtern, sondern ein Verband rauer Kämpfer«.(4) Aber: Homosexualität war zu dieser Zeit nicht nur ein schwerer Makel, sondern ein Straftatbestand; Umstände, deren sich der Führer und seine Handlanger jetzt nur allzu gerne bedienten.(5)
Der systematisch aufgebaute Druck entlud sich in der »Nacht der langen Messer« vom 30. Juni auf den 1. Juli. Hitler war am 29. Juni spätabends nach München geflogen, hatte dort die SA-Führer August Schneidhuber und Wilhelm Schmid zu sich gerufen, sie des Hochverrats bezichtigt, für verhaftet erklärt und ihnen in einem Tobsuchtsanfall eigenhändig Orden und Rangabzeichen von ihren Uniformen gerissen. Mit einem SS-Kommando begab er sich anschließend nach Bad Wiessee, wohin er zuvor Röhm und weitere Funktionäre der SA einbestellt hatte. Er nahm dabei ein hohes Risiko in Kauf. Eine rechtzeitig und auf breiter Front mobilisierte SA hätte den Ereignissen kaum tatenlos zugesehen, weder am Tegernsee, noch in München, Berlin oder wo auch immer. Und wer aus einem offenen Konflikt als Sieger hervorgegangen wäre, war keinesfalls klar.
Das nun folgende, von Hitlers Fahrer Erich Kupka geschilderte Geschehen wirkt nahezu surreal.(6) »Mit der Peitsche in der Hand betrat Hitler das Schlafzimmer Röhms in der Pension Hanselbauer in Bad Wiessee, hinter sich zwei Kriminalbeamte mit entsicherter Pistole. Er stieß die Worte hervor: Röhm, du bist verhaftet! Verschlafen blickte Röhm aus den Kissen seines Bettes und stammelte: Heil, mein Führer! Du bist verhaftet!, brüllte Hitler zum zweiten Male, wandte sich um und ging aus dem Zimmer.« Röhm und sein Gefolge wurden nach Stadelheim gebracht und dort von einem SSKommando unter Sepp Dietrich erschossen.
Weitere Ermordungen folgten in den nächsten Tagen. Namentlich sind etwa 90 Opfer nachzuweisen, die Forschung nennt jedoch eine Gesamtzahl von 150 bis 200. Dazu gehörten außer SA-Mitgliedern weitere, von der nationalsozialistischen Führung als feindlich eingeschätzte Personen, darunter Kurt von Schleicher, Hitlers Amtsvorgänger als Reichskanzler, und der ehemalige Bayerische Ministerpräsident Gustav von Kahr. Die SA hatte ihre politische Bedeutung verloren und stellte fortan keinen Machtfaktor mehr dar. Wehrsport und andere Formen vormilitärischer Ausbildung standen im Vordergrund. Für Parteifeiern, Aufmärsche und »wohltätige Sammlungen« der NS-Organisationen waren ihre Mitglieder als Staffage willkommen. Lediglich bei den gezielten Aktionen gegen Juden und sonstige Gegner der NS-Herrschaft war ihr angestammtes, gewalttätiges Auftreten nach wie vor erwünscht.
Auch in Traunstein fand das Geschehen seinen Niederschlag. Die in Alarmbereitschaft versetzte SA umstellte am 30. Juni um 9 Uhr das »Meldeamt für den Freiwilligen Arbeitsdienst«, einer Tarnorganisation der Reichswehr, und verhaftete die beiden Dienststellenleiter. Anweisungen aus München führten gegen 13 Uhr zur Aufhebung dieser Maßnahmen, aber, so Major Bischoff: »Die ganze Angelegenheit war so unerhört, daß ich bitte, die energischsten Maßnahmen gegen diejenigen herbeizuführen, die die Veranlasser waren. Ein Brigadeführer [der SA] hat für solche Aufträge nicht einen jungen Mann zu beordern, der in ein hohes Amt mit einer Schar Männer hineinspringt, als wäre es eine Verbrecherspelunke.«(7)
Weitaus dramatischer waren die Auswirkungen im Bereich der heimischen Zeitungslandschaft. Hier war der nationalsozialistische Chiemgau-Bote auf seinem Vormarsch nicht aufzuhalten.(8) »Lügenpresse« war ein von ihm schon damals gerne verwendeter Terminus, um seine Konkurrenten anzuschwärzen. Das katholische Traunsteiner Tagblatt hatte er zum 1. Januar 1934 bereits vereinnahmt. Der völligen Gleichschaltung stand allein das traditionsreiche Traunsteiner Wochenblatt bzw. dessen Verleger, der Druckereibesitzer Anton Miller (1897 bis 1968), im Weg. Bei der Berichterstattung über die Vorgänge in Bad Wiessee nahm die 1855 gegründete Lokalzeitung kein Blatt vor den Mund. Während der Chiemgau-Bote die Erschießungen als Reaktion auf den angeblichen Komplott verhältnismäßig sachlich als Notwendigkeit darstellte und behauptete, »die armen SAMänner sind verführt worden«,(9) titelte das Wochenblatt: »Mißglückte SA-Revolution«. Der Hergang wurde in aller Deutlichkeit beschrieben: »Die Durchführung der Verhaftung zeigte moralisch so traurige Bilder, daß jede Spur von Mitleid schwinden mußte. Einige dieser SA-Führer hatten sich Lustknaben mitgenommen. Der Führer gab den Befehl zur rücksichtslosen Ausrottung dieser Pestbeule. Er will in Zukunft nicht mehr dulden, daß Millionen anständiger Menschen durch einzelne, krankhaft veranlagte Wesen belastet und kompromittiert werden.«(10) Zwischen den Zeilen kann man durchaus noch etwas anderes lesen. Das Volk sollte sich überlegen, mit wem es sich bei den Nationalsozialisten eigentlich eingelassen hatte!
Die Nazis verstanden diesen Artikel als Provokation. Dies und die Bloßstellung der gesamten SA konnte ihnen nicht gefallen. Man wollte Unruhe vermeiden und die SA als Heimat des einfachen, aufrechten Nationalsozialisten keinesfalls in Frage stellen. Franz Werr (1907 bis 1995), der Herausgeber und politische Redakteur des Chiemgau-Boten, reagierte unverzüglich und in aller Schärfe: »Es ist uns gelungen, daß diese Überschrift [...] in einem Teil der Auflage abgeändert wurde. [...] Wir möchten hier nochmals ausdrücklich feststellen, die SA steht treu und fest hinter Adolf Hitler, kein SA-Mann dachte jemals daran, etwas zu tun, was dem Willen des Führers zuwiderhandelt. [...] nur eines bedauert [die SA], daß sie zu gegebener Zeit nicht energischer mit solchen Menschen aufgeräumt hat, die heute bei jeder Gelegenheit versuchen, den Nationalsozialismus [...] mit Dreck zu bewerfen und unterminierend wirken, statt Aufbauarbeit zu leisten. Da ist es allerdings an der Zeit, daß man solchen Hauptschriftleitern einmal beibringt, was es heißt, in einem nationalsozialistischen Staat eine Zeitung zu schreiben.«(11) Der kaum verhohlenen Drohung folgte die Tat. Am 4. Juli wurde Anton Miller für mehrere Tage in Schutzhaft genommen, seine Zeitung durfte ab 10. Juli für 14 Tage nicht mehr erscheinen. Im März 1936 hatten die Nazis die völlige Gleichschaltung der Traunsteiner Presse erreicht. Anton Miller, dem man lediglich den Druck belassen hatte, begegneten die Traunsteiner Funktionäre fortan stets mit Misstrauen. 1945 war er einer der Hauptakteure bei der kampflosen Übergabe der Stadt.(12)
Abschließend sei bemerkt, dass auch für zwei prominente Opfer der Säuberungswelle Verbindungen nach Traunstein belegt werden können. Am 8. Mai 1887 erblickte in der Mittermühle am Klosterberg der Sohn des königlichen Landgerichtsrates Johann Baptist Schneidhuber und seiner Frau Babette das Licht der Welt. August Schneidhuber, ab 1905 Berufssoldat und im 1. Weltkrieg an der Westfront, betätigte sich in den 1920er Jahren vorübergehend als Landwirt. Früh kam er mit der nationalsozialistischen Bewegung und völkischen Wehrverbänden in Kontakt. Spätestens 1928 trat er der SA bei und nahm dort von Anfang an eine führende Position ein. Als SA-Obergruppenführer und Polizeipräsident von München wurde er, wie berichtet, von Hitler persönlich verhaftet und degradiert. Schneidhuber, der als gemäßigt galt, rüpelhaftes Auftreten ablehnte, nicht zu Alkohol oder Gewaltexzessen neigte und bei der Münchner Polizei hoch geachtet war, zeigte bei seiner Exekution eine äußerlich unglaublich gefasste Haltung. Er »zündete sich, als er auf der [...] kleinen Treppe ins Freie kam, eine Zigarette an und tat aus ihr ein paar tiefe Züge. Dann blickte er zum Himmel, ging an seinen Platz, hörte sein Urteil und forderte die SS-Leute auf, anständig zu schießen. Dann warf er ihnen seine Zigarette vor die Füße, brachte sein Heil Hitler aus und brach zusammen.«(13) Am 19. Mai 1934, wenige Wochen vor seiner Ermordung, hatte er als Mitglied einer Delegation des Reichsstatthalters Franz Ritter von Epp für einige Stunden seiner Geburtsstadt einen letzten Besuch abgestattet.
Gregor Strasser, geboren am 31. Mai 1892 in Geisenfeld (Landkreis Pfaffenhofen) war, nachdem er sein Pharmaziestudium mit dem Staatsexamen und der Note »sehr gut« abgeschlossen hatte, von Oktober 1919 bis Januar 1921 Volontär in der Pauerschen Apotheke am Maxplatz. Seine Frau Else gebar hier am 7. Dezember 1920 die Zwillinge Günter und Helmut; sie fielen am 30. Juli 1941 bzw. am 27. Mai 1942 in Russland. Der Nationalsozialist der ersten Stunde, Exponent des antikapitalistischen und sozialrevolutionären Flügels der NSDAP und von Hitler lange hoch geschätzt, hatte nach erheblichen Differenzen Anfang 1933 der Politik den Rücken gekehrt und sich ins Privatleben zurückgezogen. Mit Hitlers Genehmigung übernahm er eine Direktionsstelle bei der Firma Schering-Kahlbaum sowie das Amt des ersten Vorsitzenden der Reichsfachschaft der Pharmazeutischen Industrie. Noch am 23. Juni 1934 war ihm das Goldene Parteiabzeichen verliehen worden. Am 30. Juni wurde er in Berlin verhaftet, in das Gestapo- Hauptquartier an der Prinz-Albrecht-Straße verschleppt und dort erschossen. Ob Hitler selbst davon wusste oder seine Paladine Himmler und Göring dahinter steckten, ist unklar.(14) Gregor Strasser war wie Ernst Röhm ein Kind der nationalsozialistischen Revolution, das »von ihr gefressen wurde«.
Franz Haselbeck
Anmerkungen:
(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_R%C3%B6hm.
(2) Zur Geschichte der SA vgl. Paul Hoser: Sturmabteilung (SA), 1921-1923 / 1925-1945, in: Historisches Lexikon Bayern online; https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Sturmabteilung_(SA),_1921-1923/1925-1945.
(3) https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%B6hm-Putsch.
(4) Als Äußerung Hitlers unter anderem zitiert in: Karl Dietrich Bracher, Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz, Die nationalsozialistische Machtergreifung, Wiesbaden 1960, S. 852.
(5) Nach der Ermordung Röhms nahm auch die bis dahin noch nicht so gezielt betriebene Verfolgung Homosexueller seitens der Nazis drastisch zu.
(6) Wie Anm. 3. Erich Kupka (1910-1945), Angehöriger der SS und von 1932 bis 1945 Hitlers Fahrer, organisierte am 30. April 1945 das Benzin für die Verbrennung der Leichen von Eva Braun und Adolf Hitler; 1950 erschienen seine Erinnerungen im Münchener Kyrburg-Verlag unter dem Titel »Ich habe Adolf Hitler verbrannt«.
(7) Klaus Jürgen Müller: Reichswehr und Röhmaffäre. Aus den Akten des Wehrkreiskommandos VII, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 1/1968, S. 107-144, bes. S. 122-124.
(8) Siehe hierzu Norbert Frei: Nationalsozialistische Eroberung der Provinzpresse, in: Studien zur Zeitgeschichte Bd. 17, Stuttgart 1980, S. 223-231.
(9) Chiemgau-Bote vom 2. Juli 1934, S. 1 (»Stabschef Röhm erschossen«).
(10) Traunsteiner Wochenblatt vom 2. 7. 1934.
(11) Chiemgau-Bote vom 3. 7. 1934, S. 6.
(12) Friedbert Mühldorfer: Traunstein. Widerstand und Verfolgung 1933-1945, Ingolstadt 1992; vgl. auch Nr. 18 dieser Serie.
(13) https://de.wikipedia.org/wiki/August_Schneidhuber.
(14) Nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Gregor_Strasser.
26/2016