Jahrgang 2016 Nummer 15

Wöchentlicher Anschlag

Moderne Salon-Magie im Gasthof zur Wiese

»Ernst Kraft’s Zauber-Soiree«, 1897 (Plakat Nr. 6218); rose mit schwarzer Schrift, unten beiger Papierstreifen mit Terminkorrektur angeklebt, oben »Samstag den 3.« gestrichen; 43 x 69,5 cm.
Titelseite der Zeitschrift »Die Zauberwelt « (Archiv Kassner).
Titelkopf der mehrfach zitierten Zeitschrift »Der Zauberspiegel«.

»Der Magier Herr Ernst Kraft, dem ein guter Ruf vorausgeht, hat gestern Nachmittag im Gasthof zur Wiese eine Zaubervorstellung gegeben und dabei einen Erfolg erzielt, wie vielleicht keiner seiner Vorgänger am hiesigen Platze. Die Trics [sic], die der Künstler mit großer Eleganz ausführt, sind von geradezu verblüffender Wirkung. Einzelne Nummern sind auf dem Gebiete der Salon-Magie überhaupt ganz neu. Es findet nur noch heute Abend und Mittwoch abends eine Vorstellung statt. Wer sich sehr gut unterhalten will, dem empfehlen wir einen Besuch der Ernst Kraft'schen Zauber-Soireen.«(1)

Zauberer standen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hoch im Kurs. Die auf den Straßen und Märkten beheimateten Taschenspieler, Magier und Gaukler des Mittelalters hatten sich im Lauf der Zeit die Salons der Reichen und Adeligen erobert. Von dort folgte der Sprung auf die öffentlichen Bühnen, wo sie auf ein unterhaltungswilliges und staunendes Publikum trafen, das bereit war, sich von der Faszination der Illusion verzaubern zu lassen. Ihre Vorstellungen gaben sie nun nicht mehr in fantastischen Gewändern, sondern stilsicher in zeitgemäßer, eleganter Kleidung. Ihr Vorreiter, der geniale Franzose Jean Eugène Robert-Houdin (1805 - 1871), der die Pariser Gesellschaft in seinem eigenen Theater begeisterte, prägte das Erscheinungsbild der Zauberkünstler für mehrere Generationen.(2)

Selbstredend konnte man in einem oberbayerischen Provinzstädtchen nicht auf das Erscheinen derartiger Größen von internationalem Rang hoffen. Hierher tingelte die zweite oder dritte Garnitur und präsentierte keine aufwändige, technisch raffinierte Show auf großer Bühne, sondern »Salonmagie«, die auf Fingerfertigkeit, Schauspielkunst, Psychologie und Menschenkenntnis aufgebaut war und keiner überdimensionaler Requisiten bedurfte. Als Veranstaltungsorte nutzten sie die Säle der damals noch zahlreichen Gastwirtschaften. Ernst Kraft, einer der Vertreter dieser neuen Zunft, bewarb 1897 mit einem einfachen Textplakat seine »Zauber-Soiree«, bei der er vom 4. bis zum 7. April im Gasthof zur Wiese »das Neueste und Frappanteste auf diesem Gebiete« zeigen wollte und dafür je nach Qualität des Platzes zwischen 25 und 80 Pfennig Eintritt verlangte. Als etwas vage Referenz gab er an, »vor hohen und höchsten Herrschaften mit großem Erfolg aufgetreten zu sein«.

Mit Ausnahme des eingangs zitierten, wohlwollenden Berichts in der örtlichen Tageszeitung ist das aber auch schon alles, was wir über diesen Salonmagier und seine Vorstellung wissen. Weder sind uns sein beruflicher Werdegang noch genauere Schilderungen seiner Vorstellung überliefert. Doch wenn wir uns schon auf magischem Terrain bewegen, dann sei auch dem Autor ein Trick erlaubt – ein kleiner Kunstgriff nur, keine Manipulation oder gar arglistige Täuschung und auch keine Zauberei. Bedienen kann er sich hierzu zeitgenössischer Publikationen. In Hamburg erschien ab 1895 »Die Zauberwelt«, die weltweit erste Zauberzeitschrift, herausgegeben von Carl Willmann.(3) Ihr folgte im Juni desselben Jahres »Der Zauberspiegel« des Berliners Friedrich Wilhelm Conrad Horster.(4) Und von dieser »Illustrierten Fach-Zeitschrift für Salon-Magie« lassen wir uns nun einige Kunststückchen erklären, die Ernst Kraft durchaus so oder ähnlich hätte zeigen können. Ob er es tatsächlich tat? Frei nach »40 Wagen westwärts«: Fragen wir Orakel Jones ...

»Die verschwindende Flasche: Nachdem der Künstler den Inhalt einer Champagnerflasche in mehrere Gläser gegossen, erklärt er, er wolle die Flasche, da er ihrer nicht mehr bedürfe, verschwinden lassen. Seinen Worten lässt er sofort die That folgen; er wickelt die Flasche in ein Stück Papier und behauptet, nachdem er eine Zauberformel gesprochen oder bis drei gezählt hat, die Flasche sei bereits aus dem Pakete verschwunden. Um die Richtigkeit seiner Behauptung zu beweisen, ballt er das Paket ganz klein zusammen und wirft es zur Seite. Zu diesem Experiment eignet sich am besten ein kleine, sogenannte halbe Champagnerflasche. Nachdem man den Hals derselben von der Stanniolumhüllung befreit hat, fertigt man zu der Flasche eine Hülse aus Stanniol [Zinnfolie] an. Die Herstellung einer solchen erfordert weder große Mühe noch Geschicklichkeit. [...](5) Hat man bei der Vorführung mehrere Gläser mit dem Inhalt der in der Hülse befindlichen Flasche angefüllt, so hält man letztere, während man ein Glas auf das Wohl des Auditoriums leert, über eine hinter dem Tische angehängte Beutelservante(6) und lässt die Flasche unbemerkt in diese hineingleiten, so dass man also nun die leere Hülse in der Hand behält. Letztere lässt sich nach dem Einwickeln bequem mit der Papierumhüllung zusammenballen. Beim Einwickeln ist jedoch einige Vorsicht anzuwenden, damit man die Hülse nicht eindrückt.«(7)

»Der Verwandlungs-Würfel: [...] Einfach – höchst einfach, meine Damen und Herren! Über den festen Würfel passt eine aus nur vier Flächen bestehende Hülse. Diese Hülse hat der Künstler in der Hand verborgen und stülpt sie im entscheidenden Moment über den festen Würfel, worauf dieser seine Farbe wechselt; natürlich nur dann, wenn der Künstler den Würfel derart hält, dass das Publikum gegen die vier weißen Flächen des übergestülpten Würfels sieht. Soll der Würfel abermals seine Farbe ändern, so muss natürlich der Künstler seine unsichtbaren Geister herbeirufen, welche mit ihren Feenhänden und ihrer übernatürlichen Kraft die Farbe des Würfels abermals verwandeln. Diesen kann der glückstrahlende Künstler zum Untersuchen reichen. Ich, der ich etwas profan angehaucht bin, nehme einfach die Hülse vom Würfel und erziele meistens auch ohne Geister hierdurch den erwünschten Effekt; natürlich strahle ich dann nicht vor Glück, halte hingegen die Würfelhülse in der hohlen Hand verborgen.«(8)

»Der Klopfgeist in der Flasche: Auf einem Tisch oder Stuhl stellt der Künstler eine durchsichtige, mit einem Glasstöpsel versehene Karaffe. Obgleich nun der Künstler entfernt von der Flasche, sogar inmitten des Publikums steht, tanzt und springt der Glasstöpsel auf dem Halse der Karaffe, gibt durch Hochspringen die Zahl der mit Würfel geworfenen Augen an, klopft die Namen gezogener Karten und anderes mehr.«(9)

Ein Geist in der Flasche, Spiritismus – oder »nichts weiter, als eine pneumatische Spielerei«? Der geneigte Leser entscheide selbst und versetze sich am Ende dieses Beitrags in das Traunsteiner Publikum des Jahres 1897 am Beginn des industriellen Zeitalters, aufgewachsen mit Sagen, Mythen und Legenden, ohne modernes Medium, vielleicht mit einigen Büchern und der mehrmals wöchentlich erscheinenden Zeitung; er wird verstehen, dass ein leidlich geschickter und begabter Künstler die Menschen mit diesen heute harmlos und bieder wirkenden Spielereien »gut unterhalten« und »in Erstaunen versetzen« konnte. Ernst Kraft jedenfalls ist dies gelungen.


Franz Haselbeck


Anmerkungen:
(1) Traunsteiner Nachrichten v. 5. April 1897, S. 3; ein ähnlicher Bericht findet sich im Traunsteiner Wochenblatt v. 6. April 1897, S. 1.
(2) Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Zauberkunst.
(3) Carl Willmann (1848 - 1934) war ein deutscher Zauberkünstler, Publizist, Hersteller und Anbieter von Zauberrequisiten; die Zeitschrift erschien in monatlichen Ausgaben ohne Unterbrechung bis 1904. Sie gilt nach wie vor als eine der wichtigsten Quellen über das Zaubergeschehen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.
(4) Friedrich Wilhelm Conrad Horster (1870 - 1944), Künstlername »Conradi- Horster«, war ein deutscher Zauberer mit über 6000 abendfüllenden Vorstellungen. Er war Schöpfer von Kunststücken und Zauberapparaturen, Autor von etwa 50 Fachpublikationen, Vereinspräsident der Zauberfreunde und Freund und Berater international bekannter Zauberkünstler seiner Zeit.
(5) Es folgt eine genaue Schilderung der technischen Vorgehensweise. Die Hülse bestand aus mehreren Lagen, die mit Fischleim verklebt wurden. Sie musste locker über der Flasche sitzen. Mit Ausnahme des Halses wurde sie am Ende schwarz oder dunkelgrün lackiert und mit einem Original-Etikett beklebt.
(6) In der Zauberkunst steht Servante (franz.: »Dienerin«) für ein Ablagebehältnis zum Verstauen von Gegenständen und Hilfsmitteln oder aber, wie in diesem Fall, für einen Behälter, der vor den Zuschauern verborgen ist und aus dem der Vorführende unbemerkt Gegenstände herausnehmen oder in den er unbemerkt Gegenstände ablegen kann.
(7) Der Zauberspiegel, II. Jahrgang 1896/97, Nr. 7 v. 1. März 1897, S. 102-103 (Nachdruck in Nr. 9 der Schriftenreihe des Magischen Zirkels Berlin als Jahresgabe für dessen Mitglieder, Berlin 1978; Original Dresden 1897). Für die Beschaffung dieser Zeitschrift über die Universitätsbibliothek Freiburg bedankt sich der Verfasser bei Frau Angelika Lindhuber, Stadtbücherei Traunstein, für ihre stets zuvorkommende Hilfsbereitschaft.
(8) Wie vor, Nr. 6 v. 1. Februar 1897, S. 88.
(9) Wie vor, Nr. 2 v. 1. Oktober 1896, S. 29.

 

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