Jahrgang 2007 Nummer 45

War König Ludwig II. wirklich geisteskrank?

Die Meinungen darüber gehen bis heute weit auseinander

Bis heute ist König Ludwig II. mit großem Abstand die populärste Persönlichkeit der bayerischen Geschichte. Die Vorstellungen, die die meisten Zeitgenossen mit ihm verbinden, haben jedoch mit der Realität, das heißt der tatsächlichen historischen Gestalt, nur wenig zu tun. Auf der einen Seite steht die völlige Mystifizierung durch die zahlreichen »Kini-Fans«, für die er der »Märchenkönig« schlechthin ist, in dessen Andenken auch das kitschigste Andenken gekauft wird, auf der anderen Seite stehen die Tausende von oft amerikanischen oder japanischen Touristen oder auch Deutschen, für die er wohl kaum halb so interessant wäre, könnten sie nicht seine Schlösser als »Ausgeburten eines kranken Gehirns« betrachten und dabei das leichte Gruseln mit der beruhigenden Selbstbestätigung verbinden, lieber »normal« zu sein und dafür nicht solche Reichtümer zu besitzen.

In beiden Fällen wird eine »Diskussion« über ihn oft in einer derart emotionalisierten Stimmung geführt, dass man glauben könnte, Ludwig II. sei keine historische Gestalt, über die man verschiedene Meinungen haben dürfe und aus dem Abstand von 100 Jahren friedlich ausfechten könne, sondern vielmehr eine Identifikationsfigur, ein Symbol.

Die »negative Mystifizierung« kann sich immerhin auf das medizinische Gutachten von 1886 über den König berufen, ein Gutachten allerdings, das bereits zu seiner Zeit angezweifelt wurde. Es stammt aus einer »Steinzeit« der Psychiatrie, die damals eine eher auf puren Behauptungen beruhende Pseudo-Wissenschaft war, die sich aber dennoch für allwissend hielt und sich berufen fühlte, alles zu erklären und zu beurteilen und die »damals durch eine forcierte Einordnung und Diagnostizierung aller dem strebsamen Bürger fremden Erscheinungen nach sozialer Geltung strebte« – so Wolfgang Schmidbauer in seinem 1986 erschienenen Buch »Wie krank war König Ludwig wirklich?« Dabei kam es oft zu krassem Unsinn, wie zum Beispiel von dem »physiologischen Schwachsinn des Weibes«, weil das weibliche Gehirn weniger wiege als das männliche!

Das Gutachten über Ludwig II. wurde im Wesentlichen an einem Tag und in einer Nacht heruntergeschrieben. Der »Patient« wurde von den Ärzten kein einziges Mal auch nur flüchtig untersucht, sondern es wurde fast nur schriftliches Material ausgewertet und kaum einer der Zeugen von den Ärzten persönlich befragt. Viele der Aussagen sind sehr zweifelhaft, so dass Zeitzeugen von »absurdesten Gerüchten« über den König oder von »den über die Maßen lügenhaften Dienern« sprachen. Eine Reihe der Anschuldigungen stammte aus einer schon 1875 in Frankreich erschienenen antideutschen Schmähschrift »Voyage au pays des milliards« von Victor Tissot: hier wurde jede Menge negativer Klischees über die Deutschen geschrieben und gerade über die deutschen Fürsten die schlimmsten Gräuelmärchen verbreitet. Das Gutachten des Dr. Bernhard von Gudden listet eine Fülle von angeblich krankhaften Symptomen auf, wobei die schiere Menge oft die recht zweifelhafte Qualität der Argumente ersetzt, um damit mögliche Zweifel zu ersticken. Immer wieder wird versichert, wie krank der König doch sei und wie zweifelsfrei die Diagnose, was deutlich macht, dass etliche Unsicherheiten vertuscht werden sollten.

Viele Aussprüche Ludwigs wurden sicher zu Unrecht auf die Goldwaage gelegt, waren sie doch einfach aus Jux oder nie ernst gemeint gewesen. Heutzutage längst überwundene Vorurteile des 19. Jahrhunderts schimmern an vielen Stellen durch. So wurde zum Beispiel als Zeichen von Geisteskrankheit gewertet, dass bei Ludwig der damals übliche Hass auf die Franzosen fehlte.

Harmlose »Parties« - im heutigen Sprachgebrauch - mit Met und Wasserpfeifen wurden ebenso eingeordnet wie angeblich krankhafte Körperbewegungen des Königs, die sich Dr. von Gudden durch Dritte (!) vorführen ließ. Der für krankhaft gehaltene Wunsch Ludwigs nach einer »Coalition«, wie die Geheimpolizei genannt wurde, war auch der Wunsch manches anderen Monarchen seiner Zeit. Selbst die starken Hassgefühle gegen die eigenen Eltern, wie sie Ludwig äußerte, und die auch heute noch Viele schockieren würden, sind in der modernen Psychotherapie oft eine Maßnahme, die der Arzt bei den Patienten bewusst einsetzt, um die traumatisierten Kindheitserlebnisse zu verarbeiten.

Viele tatsächlich seltsame Verhaltensweisen Ludwigs, die im Gutachten aufgeführt sind, lassen sich auch anders als mit einer »Geisteskrankheit« erklären. »Mangelnde Bereitschaft, die psychische Situation Ludwigs zu erkennen«, heißt der Vorwurf an die Psychiater in Wolfgang Schmidbauers Buch. Er verweist dar-auf, dass auch heutige Psychiater nicht selten der Gefahr erliegen, jegliches Verhalten zu psychiatrisieren.

Eine besonders entscheidene Schwäche des Gutachtens zu Ludwig II. ist es, dass es ganz bewusst die positiven, gesunden Seiten der Psyche Ludwigs verschweigt. Positive Aussagen über den König wurden überhaupt nicht berücksichtigt, Personen, die zu Gunsten des Königs aussagen wollten, wurden nicht angehört, denn die Tätigkeit der gutachtenden Ärzte sollte nicht dem Wohle des »Patienten« dienen, sondern dem vermeintlichen Staatswohl. Von vorneherein feststehendes Ziel war es, zu »beweisen«, dass ein Wechsel in der Regentschaft unumgänglich sei.

Die Mehrheit derer, die sich heute mit dieser Problematik beschäftigen, hält den König nicht für »geisteskrank« wie damals Dr. von Gudden. Wenn man die »kranken« wie die »gesunden« Seiten des königlichen Wesens betrachtet, bleibt kaum ein Zweifel daran, dass Ludwig geistig gesund, aber psychisch, seelisch schwer krank war – oder wenn man den Ausdruck »krank« vermeiden will, schwere psychische Probleme hatte. An eine klare Trennung von »geisteskrank« und »psychisch belastet« war offenbar um 1886 noch nicht zu denken. Viele Historiker wie Psychiater und Psychologen haben versucht, sich an Hand der Quellen über die Art von Ludwigs psychischer Erkrankung klar zu werden. Alle Hypothesen leiden jedoch unter demselben Mangel: den »Patienten« selbst bekam niemand von ihnen zu Gesicht, alle fußen nur auf schriftlichen Aussagen und bleiben damit anfechtbar, auch wenn sie nicht, wie seinerzeit von Gudden, die Hälfte unter den Tisch kehren. Schi-zophrenie, Borderline, Hirnhautentzündung, endogene Depressuibm, Syphilis, Neurolues, Alkohol- und/oder Medikamentensucht sind einige der angestellten Hypothesen. Wie Schmidbauer schreibt, sind jedoch heutige Hypothesen in jedem Fall müßig, weil Ludwig II. im 19. Jahrhundert und nicht unter den heutigen Bedingungen gelebt hat. Besser erscheint da der, von Schmidbauer gebrauchte, neutralere Ausdruck »Persönlichkeitsstörung« – er nennt sie »narzistisch«, wohl um damit ihre besonderen Merkmale anzudeuten. Noch zurückhaltender könnte man natürlich von »psychischer Belastung« sprechen.

Kindheit und Erziehung

Die entscheidende Phase in Ludwigs Persönlichkeit war seine unglückliche Kindheit. Als Kind erlebte er nur sehr wenig Liebe und Einfühlung. Die Erziehung zum künftigen König ließ im Kopf des Kindes eine problematische Vorstellung von seiner auserwählten Rolle wachsen und entfernte ihn von den Menschen. Er lernte nie, mit Menschen umzugehen und selbst liebesfähig zu sein. So »blieb Ludwig jedenfalls auf den Wunsch fixiert, endlich einen Menschen zu finden, der ihn ganz verstand,... der ist, wie er sein soll, mit dem er verschmelzen kann, um seine Einsamkeit zu besiegen«, so Schmidbauer. Durch seine Schwärmerei, die auf Außenstehende unverständlich oder gar komisch wirkte, wollte Ludwig seinen idealen Menschen finden, geradezu herbeizwingen. »Weil der König Gefühle als nicht wirklich tragfähig erlebt, müssen sie ständig beteuert werden.« Doch musste er mit seiner Suche als ein »narzistisch gestörter Mensch« (Schmidbauer) immer wieder scheitern, denn er kann den Unterschied zwischen seinen anfänglichen, schwärmerischen Idealvorstellungen und der Wirklichkeit des geliebten Menschen nicht ertragen. »Er kann nur sich verlieben und trennen. Die Wirklichkeit seines Partners ist für ihn allemal unerträglich enttäuschend« (Schmidbauer). Diese Enttäuschungen verstärkten Ludwigs Menschenscheu, denn »ein in seiner Beziehungssehnsucht enttäuschter Mensch muß die Anwesenheit anderer Personen als kränkend erleben« (Schmidbauer), wie eine, gegen ihren Wunsch, kinderlos gebliebene Frau, die Frauen mit Kindern aus dem Weg geht.

Eine andere Folge von Ludwigs Schwierigkeiten mit sich in seinem Verhältnis zu anderen Menschen war seine große Unsicherheit und sein mangelndes Selbstvertrauen, die zu seiner oft beschriebenen Menschenscheu beitrug. Er war außerordentlich leicht zu kränken und konnte Kränkungen, wenn überhaupt, nur mit größter Mühe verarbeiten. Gerade ihm, der äußerst sensibel war, entging bei seinem Gegenüber nichts, nicht die kleinste Veränderung der Stimme, jede Regung oder Verlegenheit, die er dann oft genug, auch zu Unrecht, sofort negativ auf sich selbst bezog.

Ein Mensch mit derartigen Schwierigkeiten muss schließlich aus reinem Selbstschutz Beziehungen und Menschen überhaupt weitgehend meiden. »Nur Beziehungen, die von gemeinsamer Schwärmerei bestimmt sind oder kontrollierbar bleiben (wie zu Dienern oder ungebildeten Holzknechten und Bauern) bedrohen das empfindliche Selbstgefühl Ludwigs II. nicht« (Schmidbauer). Dieses mangelnde Selsbstvertrauen mag er dann mit einer übertriebenen Herausstellung seiner königlichen Würde zu kompen-sieren versucht haben, was manchen Zeitgenossen dann zu Unrecht sogar als Ausdruck übersteigerten Selbstwertgefühls erschien. Auch politische Enttäuschungen und Rückschläge in seiner Rolle als König musste Ludwig auf sich persönlich beziehen und erlebte sie als persönliche Kränkung oder als persönliches Versagen und damit als Angriff auf sein Selbstwertgefühl.

Viele Eigenheiten Ludwigs müssen so als Versuche, sein gefährdetes Selbstgefühl zu schützen, gedeutet werden bzw. mit dem Gegensatz von Beziehungssehnsucht und Beziehungsunfähigkeit erklärt werden. Hier kann auch der Schlüssel zu Ludwigs gelegentlichen Entgleisungen liegen. »Weil er an realen Gefühlbezie-hungen zu realen Menschen keinen Halt gewann, mußte Ludwig II. immer neue Rollen und Bühnenbilder finden« (Schmidbauer). Weil ihm von Kindheit an lebende Vorbilder und Ideale fehlten, hielt er sich an Gestalten aus der Literatur, aus Richard Wagners Opern, aus der Glanzzeit des Königtums. Darum flog er in seine Phantasien über ideale Welten der Vergangenheit, die er im Theater und in seinen Bauten möglichst genau wiedererstehen lassen wollte. Das würde auch erklären, weshalb er ständig neue solcher Phantasien brauchte, immer neue Theaterstücke und Bauprojekte. Das Bauen nahm deshalb suchtähnliche Formen an, wurde ihm Leben. »Zurückgeworfen auf sich selbst, setzte er an die Stelle der echten Begegnung und körperlichen Nähe zu anderen das Erleben eigener Grandiosität in Form seiner Bautätigkeit, die sich um so suchtartiger ausweitete, je mehr Ludwig an Menschen scheiterte« (Johannes Kemper, »Wie krank war König Lud-wig?«).

Ludwigs Probleme mit Menschen mussten sich auch auf sein Sexualleben negativ auswirken. Sehr belasteten ihn seine homoerotischen Neigungen, die er, geprägt von der Moral seiner Zeit und seiner Kirche, für äußerst sündhaft hielt und gegen die er verzweifelt – und am Ende erfolglos – anzukämpfen versuchte. Dieses vergebliche Bemühen musste er auch wieder als persönliches Versagen erleben und damit als Beeinträchtigung seines Selbstwertgefühls: Ein Herrscher, der nicht einmal sich selbst beherrschen konnte! Ludwigs »Tagebücher« legen von diesen Nöten ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Dass Homosexualität mit der Übernahme der entsprechenden preußischen Gesetze in Bayern um 1873 auch ein strafbares Verbrechen wurde, wird seine inneren Nöte noch verschlimmert haben. Es war Ludwigs Tragik, dass er niemanden fand, der ihm half, aus seinen psychischen Problemen herauszukommen. Als König stand er einsam und fern von menschlicher Nähe. Als König erfuhr er keine äußere Einschränkung und wurde dadurch noch in seiner Fehlentwick-lung bestärkt. »Die Psychiatrisierung schien dann das einzige Mittel, diese Entwicklung zu beenden, als sie zu unhaltbaren Folgen führte« (Schmidbauer).

Dietrich Klose begründet die Notwendigkeit, so lange von Ludwigs psychischen Schwierigkeiten zu sprechen, damit, um der immer noch bei vielen herumspukenden Vorstellung von der »Geisteskrankheit« des Königs entgegenzutreten. Derartige seelische Probleme treffen besonders häufig gerade solche Menschen wie den König: Ludwig war überdurchschnittlich intelligent, phantasiebegabt, kreativ und sensibel. Er hat über sich selbst reflektiert, wie das wohl nur wenige können, und den Kern seiner Schwierigkeiten selbst genau erkannt.

So präsentiert sich Ludwig II. nach außen als äußerst widersprüchliche Persönlichkeit, die »kranke« oder besser problematische und »gesunde«, für diejenigen, die mit ihm Umgang hatten, faszinierende Seiten in sich vereinigte. Die Aussagen der Menschen, die mit ihm persönlichen oder zumindesten brieflichen Umgang hatten, unterscheiden sich oft diametral voneinander – Widersprüche, die zunächst nur schwer zu verstehen sind und von vielen Zeitgenossen auch nicht verstanden wurden. Diese Aussagen der Zeitgenossen sagen aber nicht nur etwas über Ludwig, sondern in ihrer Wertung immer auch etwas über den Berichtenden selbst aus.

Christiane Giesen

Quellen:
Dr. Dietrich O.A. Klose »Ludwig II. König von Bayern. Sein Leben und Wirken auf Medaillen und Münzen«, München 1995.
Wolfgang Schmidbauer, »Ein ewiges Rätsel will ich bleiben mir und anderen. Wie krank war Ludwig II. wirklich?« München 1986.



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