Wann gab es die ersten Siedlungen im Miesenbacher Tal?
Endgültige Klarheit könnte aber nur ein archäologischer Befund bringen



Mit der Entdeckung der »»Hroutpald«-Urkunde aus dem Jahr 837, die von wissenschaftlicher Seite her endlich Aufschluss über den Ortsnamen Ruhpolding gibt, hat Heimatforscher Helmut Müller schon mal einiges Licht ins Dunkel der frühen Besiedelung des Miesenbacher Tals gebracht. Dadurch lässt sich die Geschichte zu Füßen des Rauschbergs um ein knappes Jahrhundert zurück datieren. Diese wie auch noch weitere historisch hochinteressante, neue Erkenntnisse und Betrachtungen sind von ihm im neuen Ruhpoldinger Heimatbuch ausgiebig verarbeitet worden. Wer den rastlosen Hobby-Historiker etwas näher kennt, weiß nur zu gut, dass sich Müller mit dem bisher Erreichten nicht zufrieden geben wird. Also wird er auch weiterhin seine unübertreffliche Spürnase in alle möglichen Archive und Akten stecken. Vielleicht gelingt ihm ja nochmal so ein historisch bedeutsamer Wurf wie mit der »»Hroutpald«-Urkunde. Nicht umsonst gilt er im Ort als »wandelndes Geschichtslexikon«, das fast auf jede Frage eine Antwort weiß. Vor allem dann, wenn es um eines seiner Spezialgebiete, der Höfe-, Familien- und Siedlungsgeschichte geht.
Archäologische Funde blieben bisher aus
Weil bisher brauchbare Funde ausblieben, stellt Müller eine These auf, die gar nicht mal so abwegig ist, wie sie vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Immerhin waren die Römer ja fast 500 Jahre lang im Chiemgau ansässig, und warum sollten sie nicht auch bei ihren Jagd- und Streifzügen in das Miesenbacher Tal vorgedrungen sein, fragt Müller im Kapitel »Die vorbajuwarische Zeit«. Ein Argument könnte der enorme Wildbretund Fischreichtum in der Gegend gewesen sein, den Jahrhunderte später sogar noch die Wittelsbacher zu schätzen wussten. Solange aber der Ruhpoldinger Boden aus dieser Zeitepoche nichts Signifikantes freigibt, fällt vieles in das Reich der Spekulationen. Die bekannte Problematik umreißt Dr. Irmtraut Heitmaier folgendermaßen: »Da sich der Siedlungsvorgang nur sehr selten in schriftlichen Quellen niedergeschlagen hat und sich vor allem zum großen Teil bereits vor dem Einsetzen der schriftlichen Überlieferung vollzog, muss versucht werden, den Mangel an direkten Nachrichten durch die Zusammenschau von Ergebnissen der Archäologie, neuerdings auch der Paläobotanik, der Agrar- und Forstgeschichte, der flur- und siedlungsgenetischen Forschung, der Namenskunde, sowie der Kirchen- und Herrschaftsgeschichte auszugleichen.«
Dr. Heitmaier weist im sakralen Zusammenhang mit den Georgspatrozinien aber auch darauf hin, »… dass es im Miesenbach mit Sicherheit im 9. Jahrhundert bereits mehrere Siedlungen gab«. Aufgrund der markanten Hügellage der Ruhpoldinger Kirche könne man in der Tat an eine vorchristliche Bedeutung des Platzes glauben. »Dies hieße jedoch,« so die Historikerin weiter, »dass vor der endgültigen Christianisierung der Bayern im 8. Jahrhundert hier bereits ein Heiligtum bestand, was wiederum Besiedelung voraussetzt.« Endgültige Klarheit könnte aber nur ein archäologischer Befund bringen, so Dr. Heitmaier.
Der »Girichbuhel« wird erstmals in einer Salzburger Schenkungsurkunde aus dem Jahr 1191 erwähnt, was beweist, dass sich hier bereits eine Kirche befand. Sie stand allerdings weiter oben an der Stelle der heutigen Gruftkapelle des Bergfriedhofs und soll der Überlieferung nach von Erzbischof Thiemo von Salzburg im 11. Jahrhundert eingeweiht worden sein.
Besiedelung erfolgte aus zwei Richtungen
Über den Weg der bajuwarischen Einwanderer in das Miesenbacher Tal und die ältesten Ansiedelungen herrschte lange Zeit Unklarheit. Pfarrer Bergmaier nahm in der Erstauflage des Heimatbuches an, dass die Besiedelung im Tal der Weißen Traun aufwärts erfolgt wäre und man in dem unterhalb der heutigen Pfarrkirche gelegenen Ortskern Ruhpoldings den ältesten Siedlungsplatz sehen müsste. Dagegen verwies Dr. Alois Huber auf eine Christianisierung hin, die von Inzell (urkundlich »Cella interior« = Innere Zelle) aus über Zell (»Cella exterior« = Äußere Zelle) zurückzuführen sei. Heute nimmt man an, dass die im 8. oder 9. Jahrhundert in das Tal eingewanderten Bajuwaren bereits Christen waren. Die »Zelle« dürfte deshalb wohl keine Missions-, sondern vielmehr eine Rodungs- oder Seelsorgzelle gewesen sein. Dr. Heitmaier führte bei den beiden Zell-Orten Inzell und Zell die Möglichkeit an, dass es sich hier um herzogliche Straßenstationen des 8. Jahrhunderts handeln könnte, die den Salzweg von Reichenhall her absichern sollten. Dass die Einwanderung auf zwei unterschiedlichen Wegen erfolgte, darüber ist man sich heute ziemlich sicher. Die Hauptbesiedelung, die bäuerliche Landnahme, ging zum einen über den Weg von Siegsdorf nach Inzell und weiter über Froschsee in das Miesenbacher Tal, also vom Osten her, zum anderen auf der nördlichen Variante über Hörgering (ein alter -ing-Ort) und Vordermiesenbach. Hier sind die Ansiedler sicherlich nicht der Traun (keltisch »Truna« = reißend, die Reißende) gefolgt, sondern haben die höher gelegene Möglichkeit gewählt.
Ein Blick auf die nach dem »Urbar« (Urbarium = Verzeichnis über Besitzrechte und Abgabepflichten) von 1300 gezeichnete Karte des Amtes Miesenbach bestätigt den starken Siedlungsstrom, zuerst die Rote Traun (Rotiutruna) entlang, wo die spätere, alte Salzstraße verlief. Wie an einer Kette aufgereiht ziehen sie sich von Inzell aus am Froschsee vorbei in das Miesenbacher Tal und hier wiederum die Urschlauer Achen entlang, die damals Weißachen (= Weisaha) hieß, aufwärts bis Dickengschwendt. Die Weiler Urschlau und Gruttau bestanden nach neuesten Erkenntnissen bereits. Der heutige Ortskern von Ruhpolding war um 1300 mit Ausnahme von »Ester« (Wittelsbach), des Lehens »Rapolding« und des sogenannten Widems, dem Kirchengut, noch unbesiedelt. Für die damalige geringe Bedeutung dieses Platzes zeugt, dass dieses Lehen dem Amtmann nur zwei Metzen Hafer (entspricht 37,06 l) und ein »huon« (= Huhn) zu zinsen hatte. Ein untrügliches Indiz für die wenig erfolgreiche Bewirtschaftung in den Talniederungen.
Hanglagen und Anhöhen bevorzugte Siedlungsplätze
Zur Besiedelung bevorzugt waren (wie in vielen anderen Gebirgsregionen auch) zuerst die Hanglagen und Anhöhen. Dies spricht für die exzellente Beobachtungsgabe der Ankömmlinge, was die jeweiligen witterungs und klimatisch bedingten Gegebenheiten betrifft. Infrage kamen nur solche Plätze, an denen der hochwassergeschützte Grund für den Feldbau genutzt werden konnte, sowie der Viehtrieb auf den Weiden der nahen Flussauen und die Schweinemast in den Laubwäldern möglich war. Diese behutsame frühe Siedlungsform lässt sich auch in weiten Teilen Europas beobachten. Freilich spielten in wärmeren Regionen wie zum Beispiel auf Korsika oder Sardinien ein übermäßiges Mückenaufkommen und die damit verbundenen Krankheiten (Malaria) eine große Rolle, die die Menschen abhielt, an nahe gelegenen Küstenstreifen zu siedeln. Spätestens hier wird sich der Leser allerdings fragen, was das mit unserem Chiemgau zu tun hat. Sehr viel sogar.
Bescheidene Weinbaukultur durch Warmperioden
Denn auch bei uns gab es nachweislich ausgedehnte Wärmeperioden, auf die sich die Menschen einstellen mussten und die damit verbundenen Herausforderungen auch annahmen. Noch heute zeugen Namen wie Weingarten (am Unternberg oder Nähe Greimharting), Weinleiten (in Traunstein), Weinberg und viele ähnliche Bezeichnungen nördlich der Alpenkette von einer, wenn auch bescheidenen, Weinbaukultur. Man braucht sich nur mal die Auszüge aus dem Heimatbuch 800 Jahre Inzell von Josef Höck vor Augen führen. Dort heißt es unter anderem: im Jahr 1186 blühten im Januar die Bäume, sodass im Mai schon geerntet werden konnte. 1287 brachte einen außerordentlich warmen Winter. Es blühten die Blumen und sogar die Rosen. Die Buben gingen am Heiligendreikönigstag (6. Januar) zum Baden.
1289: Die Bäume behielten im Winter das Laub, bis das neue wieder kam. Von Weihnachten bis in den Januar blühten die Bäume. Im Februar gab es reife Erdbeeren (!).
Rückblickend kann man sagen, die ersten Siedler folgten ihrem gesunden Menschenverstand und ließen sich in gemäßigten Zonen nieder, die ihnen und ihrer Sippe den täglichen Lebensunterhalt sicherten. So finden sich im niederbayerischen Herzogsurbar von 1300 bis auf die genannten Ausnahmen ausnahmslos nur Güter und Ansitze, die nicht in direkter Talnähe beheimatet waren. Sie alle mussten ihrer Abgabepflicht gegenüber dem Domkapitel nachkommen. Dabei sind auch nach 700 Jahren die ursprünglichen Hausnamen noch gut zu erkennen. Hier ein paar Beispiele (heutige Hofbezeichnung in Klammer): Auf dem Puehel (Schürzbichl), In dem Raeut (Reiter), In der peunt (Boider a. Froschsee), ob dem Se (Entseer), Aeschenawe (Aschenauer), Rauhenpuehen (Rauchenbichler), Ramsawe (Ramsler), Weingartraeut (Weingarten), Geierspuehel (Geiern), Pernswentt (Bärngschwendt), Marreichswent (Maiergschwendt), Praentlinn (Brandler).
Dass sich die klimatischen Bedingungen hundert Jahre später noch günstiger darstellten, beweist das »Domkapitlich Salzburger Urbarium von 1392«, in dem auch zum ersten Mal die Vornamen der Bauern genannt sind. Hier tauchen sogar noch höher gelegene Güter, beispielsweise in der Lengau und Neßlau auf, die heute allerdings nur noch als Almen betrieben werden. Bereits 1435 spielten sie im Urbar keine Rolle mehr. Daraus kann man schließen, dass sie, wahrscheinlich infolge witterungsbedingter Einflüsse, unwirtschaftlich geworden sind.
Wer heutzutage als freizeitlicher Tourengeher oder Wanderer unterwegs ist, wird nach dem Lesen dieser Zeilen seinen Fuß bestimmt noch respektvoller in dieses herrliche Almgebiet angesichts seiner geschichtlichen, bäuerlich-kulturellen Bedeutung setzen wie bisher.
Ludwig Schick
7/2017