Jahrgang 2005 Nummer 32

Traunsteiner Gerichtsgeschichten

Der grundbuchamtliche Spiegel

Nicht nur Ludwig Thoma hat als Referendar beim Traunsteiner Amtsgericht so manchen Stoff für seine Geschichten gefunden. Auch Raimund Eberle, von 1975 bis 1994 Regierungspräsident von Oberbayern, hat als Referendar bei der Traunsteiner Gerichtsbarkeit, in seiner Schulstadt Traunstein, allerlei Begebenheiten erlebt, die, so wahr sie sind, kein Schriftsteller besser erfinden könnte. In loser Reihenfolge werden wir solche Begebenheiten veröffentlichen.

Im alten Amtsgerichtsgebäude an der Rosenheimer Straße waren die Zimmer des Grundbuchamts geradezu ehrfurchtgebietende Räume. In dunkel gebeizten Regalen standen die wuchtigen, in Leder gebundenen Grundbücher, in denen alle Grundstücksgeschäfte fein säuberlich aufgeschrieben worden sind. An den Regalen waren Klappen, die man herunterziehen konnte, um die Bücher darauf zu legen; ein paar hohe, schon etwas abgewetzte Hocker standen davor, damit man die Eintragungen in Ruhe studieren konnte. In den Räumen herrschte fast andachtsvolle Stille.

Zu dieser Räumlichkeit passte ein großer Spiegel, gut einen Meter hoch, mit einem schweren hölzernen Rahmen.

Eines Tages war der Spiegel zerbrochen. Ein Riss ging schräg von oben nach unten. Die Justizangestellten rätselten, wie das gekommen sein könnte, keiner kam darauf. Schließlich erinnerte man sich daran, dass der Spiegel nicht irgendein Gegenstand war, sondern fast so etwas wie eine Amtsperson. Er war nämlich in das amtsgerichtliche Fahrnisverzeichnis eingetragen und hatte darin eine Nummer zugeteilt bekommen. Der geschäftsleitende Beamte des Gerichts wurde ins Grundbuchamt gebeten; würdevollen Schrittes kam der Herr Justizamtmann Westermayr, schaute den zerbrochenen Spiegel an, fragte dann, natürlich vergebens, wer das angestellt haben könnte, und erbat einen genauen schriftlichen Bericht. Den sollte der Herr Amtsgerichtsdirektor, selbstverständlich nach gewissenhafter Prüfung, unterschreiben und dem Herrn Landtagspräsidenten vorlegen. Dieser, so belehrte der Herr Amtmann die Leute vom Grundbuchamt, werde dann verfügen, dass der Spiegel im Fahrnisverzeichnis des Amtsgerichts gestrichen wird. Erst dann dürfe der Spiegel dem Hausmeister zur Beseitigung übergeben werden.

Geflissentlich wurde der Bericht aufgesetzt. Darüber war es Nachmittag geworden und so sollte der Bericht am nächsten Tag zum Herrn Amtmann hinaufgetragen werden.

Am nächsten Tag in der Früh trauen die Leute vom Grundbuchamt ihren Augen nicht: Da hängt doch der Spiegel sozusagen pumperlgesund an der Wand, kein Riss, kein Kratzer, wie neu. Hatte da vielleicht den armen Sünder, der den Spiegel zerbrach, das Gewissen gedrückt und ihn veranlasst, einen Glaser zu bitten, über Nacht ...

Nach einer Weile rückte, verschmitzt lächelnd, die Frau Voggenauer, die tagaus, tagein in schöner Schrift die Einträge ins Grundbuch machte, mit der Klärung heraus:

»Auf dem Heimweg ist mir eingefallen, dass wir auf dem Speicher ganz genau den gleichen Spiegel haben. Den habe ich heruntergeholt, sauber geputzt und an die Wand gehängt, bis Ihr kommen seid’s«.

Der Herr Amtmann war so gütig, nicht nach dem Bericht zu fragen. Dem Herrn Landgerichtspräsidenten ist die schwierige Entscheidung erspart geblieben, ob der Spiegel aus dem Fahrnisverzeichnis gestrichen werden kann, ohne dass die Frage der Schuld an seiner Zerstörung und die Frage der Haftung geklärt war.

RE



32/2005