Sommerfrischler in Grassau vor mehr als 100 Jahren
Der Fremdenverkehr entwickelte sich zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor





Leider weiß man heute nur sehr wenig, wie der Urlaub der Urlauber in unseren Gemeinden vor 100 Jahren abgelaufen ist. Ein Fotoalbum, das unlängst im Internet erstanden werden konnte, gibt zumindest einen kleinen Einblick in den Ablauf des Urlaubs, den in damaliger Zeit (1902 - 1906) einige wohlbestallte Urlauber in Grassau machen konnten.
Das Fotoalbum begann im Jahre 1902, also vor 110 Jahren mit einem Begrüßungsbild der frisch angekommenen Sommerfrischler. Sie wurden offiziell vom Vertreter des Ortsverschönerungsvereines teils schon am Bahnhof im östlichen Ortsteil nahe der Staudacher Brücke empfangen. Die Begrüßung übernahmen der Vereinsvorsitzende Bäckermeister Jakob Zusann oder aber einer seiner Stellvertreter, wie der Apotheker Raamé, Schneidermeister Noichl, Fotograf Jakob Weidinger und später der Hauptlehrer Mühlbauer. Danach wurden sie mit Pferdefuhrwerken über die Bahnhofstraße in das Ortszentrum zu ihrem Quartier in einem der Gasthöfe geleitet. Damit der Eindruck von Grassau von Beginn an positiv ausfalle, hatte der Verein entlang der Straße Obstbäume gesetzt, welche vom Schneidermeister Noichl geliefert wurden. Leider waren diese Pflanzungen von kurzem Bestand, da unter bzw. neben der Straße die Soleleitung der Saline verlief. Sie ging mehrmals zu Bruch oder wies Leckagen auf, sodass die Sole in größerem Umfang austrat und den Boden versäuerte. Die Bäume gingen ein, ebenso die erfolgten Nachpflanzungen, sodass von der geplanten Allee heute nichts mehr zu erkennen ist.
Angekommen in einem der Gasthöfe, wie der Gasthof zur Post, Gasthof von Franz König, dem heutigen Gasthof Sperrer und dem Gasthof Neuwirth von M. Sperrer in der Bahnhofstraße wurden sie schon bald vom Ortsfotografen Jakob Weidinger zu einem Begrüßungsbild gebeten. Da die meisten Sommerfrischler zur damaligen Zeit aus Bayern kamen, war es für sie kein Problem, sich in Trachtengewändern dem Fotografen zu präsentieren.
Der Fremdenverkehr in Grassau begann in organisierter Form in Grassau bereits vor 125 Jahren mit der Gründung des Ortsverschönerungsvereines. Zwar hatten sich die Gasthäuser in Grassau schon mit der Eröffnung der Bahnlinie von Übersee über Mietenkam, Grassau nach Marquartstein am 10. August 1885 erhofft, dass es mit dem Fremdenverkehr aufwärts ginge. Aber leider stimmte das nur für den damaligen Grassauer Ortsteil Loitzhausen, der heute zu Marquartstein gehört. Die Bahnstation Staudach auf Grassauer Gemeindegebiet im Osten der Gemeinde direkt an der Tiroler Ache war zu weit vom Ortszentrum entfernt, um belebend für den Fremdenverkehr zu wirken.
Der älteste Hinweis auf einen beginnenden Tourismus in Grassau reicht aber sogar bis ins Jahr 1840 zurück. In den Aufzeichnungen zur Geschichte der Staudacher Zementwerke von M. Kroher 1990 steht zur Entstehungsgeschichte der Staudacher Cementfabrik Adolph Kroher: »Adolph Kroher, (3. Mai 1825 - 23. April 1892) der in Augsburg Papierhändler war, verbrachte seinen Urlaub ca. 1840 in Grassau/ Chiemsee.« (Wahrscheinlich etwas später, denn sonst wäre er erst 15 Jahre alt gewesen.) »Bei diesem Aufenthalt machte er Bekanntschaft mit einem Förster Namens Pauli und eines Hr. Graf, die einen Putzmörtel aus örtlichen Mineralablagerungen herstellten.« Aus dem Interesse wuchs dann die spätere Firma, die 1844 die ersten Rautendachsteine herstellte und 1858 ins Handelsregister eingetragen wurde.
Für die Sommerfrischler der damaligen Zeit war es nicht so einfach, die Schönheiten der Umgebung zu genießen. Das Ziel ließ sich nur mit der Bahn, dem Pferdefuhrwerk oder auf Schusters Rappen, also zu Fuß erreichen. So ist es schon verwunderlich, welche Ausflüge in dem Fotoalbum von 1906 dokumentiert wurden.
Dass die Gäste schon bald zum Hochgern aufbrachen, ist schon verständlich. Der Weg führte zuerst von Grassau zu Fuß nach Staudach oder Marquartstein und dann zum schon vorhandenen Hochgernhaus. Da der Anmarsch und Rückmarsch sehr viel Zeit beanspruchte, übernachteten viele Berggeher damals in diesem gastlichen Hause. Sogar im Winter fanden die Gäste den Weg zum Hochgernhaus. Da in dieser schneereichen Zeit das im Sommer geerntete Heu und auch das Holz mit Schlitten zu Tal gefahren wurde, bestanden sehr reizvolle Rodelbahnen, welche zu Schlittenpartien vom Hochgernhaus bis ins Tal einluden.
Der nächste Tag führte die Wanderer dann zum Gipfel und der weiteren Erkundung der Umgebung. Dass der Fremdenverkehr schon langsam im Achental begann, zeigen auch die Postkarten, welche den Gipfel des Hochgern und auch das Hochgernhaus zeigen. Aber auch aus allen anderen Gemeinden des Achentals und von anderen Berggipfeln gibt es bereits professionelle Postkarten, die ältesten von 1898, vom Hochfelln sogar von 1893.
Die Wege führten die Wanderer aber auch zu den Grassauer Almen auf der Hochplatten und auch den Schnappen.
Eine Fahrt zum Chiemsee konnte bei den Sommerfrischlern natürlich nicht fehlen. Zumeist führte der Weg von Grassau zuerst nach Feldwies und dann mit einem Holzboot auf den See. Der Weg nach Chieming oder Prien zum modernen Dampfschiff war viel zu weit und aufwändig.
Nachdem die Urlauber den Chiemsee besuchten, machten sie sich auf, um das Tal weiter zu erkunden. Ihre Wege führten sie so nach Schleching zur Streichenkapelle und dann sogar nach Österreich nach Kössen.
Ein Höhepunkt des Urlaubs im Achental stellte mit Sicherheit die Fahrt auf der Tiroler Ache mit dem Holzboot von Kössen durch das damals wirklich noch enge Entenloch bis nach Schleching dar. Wer jemals mit einem Schlauchboot oder einem Kajak diese Fahrt unternommen hat, kann sich vorstellen, wie erlebnisreich diese Fahrt mit dem großen Holzboot gewesen sein muss.
Genau wie heute konnte man sich auch damals nicht immer auf das Wetter verlassen. Mit großen Regenschirmen und Umhängen versuchten die Gäste sich vor den Unbilden des Wetters zu schützen. Damals wurde für Regentage leider nur sehr wenig geboten, sodass die meisten Urlauber auf ihren Zimmern auf besseres Wetter warteten. Manch Gast nutzte aber auch die Gelegenheit, sich beim Fotografen Weidinger in heimischer Tracht in vorbereiteten Kulissen ablichten zu lassen.
Die Gäste blieben zumeist 2 bis 3, manchmal auch gleich 6 Wochen am Ort. Da die Anfahrtszeiten sehr lang waren, lohnten sich kürzere Urlaubsfahrten kaum.
Am Nachmittag saßen die Gäste bei schönem Wetter gerne zum Kaffee bei den Wirtschaften und Bäckereien. Den Abend verbrachten sie meist in ihren Gasthöfen. Besonders beliebt waren natürlich die Biergärten, wie beim heutigen Gasthof Sperrer oder auch in Mietenkam im Gasthof Kampenwand. Manchmal fanden am Ort auch Almtänze statt, welche zahlreich von den Sommerfrischlern und auch von Einheimischen besucht wurden.
Das Fotoalbum zeigt keine weiteren Ausflüge. Da aber die damaligen Touristen fast nie über Fotoapparate verfügten, ist nicht auszuschließen, dass sie auch Traunstein oder Rosenheim besucht haben. Zumeist standen auch Berchtesgaden und der Königssee auf dem Programm der Sommerfrischler. Die Zuganbindung ermöglichte es den Gästen auch, ohne Probleme von Grassau aus bis zum Königssee zu fahren.
Der Fremdenverkehr hatte trotz aller Anstrengungen des Ortsverschönerungsvereins in Grassau auch bis 1920 nur eine recht geringe Bedeutung. Mit einem erweiterten Bettenangebot und besonders auch einem verstärkten kulturellen Angebot gelang es aber dann, immer mehr Gäste anzuziehen. Damit entwickelte sich der Fremdenverkehr schon bald zu einem wichtigen wirtschaftlichen Standbein neben der Landwirtschaft und dem Handwerk, nach 1955 auch neben der Industrie mit Körting Radiowerke als dann größtem Arbeitgeber.
Olaf Gruß
29/2013