Per Zufall die Schöpfung der Natur überlistet
Physiker Conrad Röntgen revolutioniert mit seinen »X-Strahlen« die Medizin – 1901 Nobelpreis



Wilhelm Conrad Röntgen kam am 27. März 1845 in Lennep bei Remscheid als einziges Kind des Tuchfabrikanten Friedrich Röntgen und dessen Frau Charlotte, zur Welt. 1848 zog der Vater aus wirtschaftlichen Gründen nach Apeldoorn in den Niederlanden. Mit 16 schreibt der Sohnemann sich an der Technischen Schule in Utrecht ein, wo er zwar ganz gute Noten schreibt, von den Lehrern aber in punkto Fleiß ein ziemlich schlechtes Zeugnis erhält. Damit nicht genug, wird er 1864 auch noch irrtümlicherweise als Urheber einer Karikatur seines Klassenlehrers ausgemacht, worauf ihn der Rektor von der Schule verweist. Den fehlenden Stoff für die Abiturprüfung büffelt Röntgen zwar zu Hause, doch die als externer Schüler abgelegte Zulassungsprüfung zur Universität besteht er nicht. Zum Glück für Röntgen ist man in der Schweiz weniger streng in Sachen Hochschulreife: An der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich ist das Ergebnis einer Aufnahmeprüfung ausschlaggebend für einen Studienplatz und nicht das bestandene Abitur. Röntgen meistert diese Hürde locker und kann nun ganz regulär Maschinenbau sowie im Anschluss Physik studieren, worin er 1869 promoviert.
Als sein Professor August Kundt ein Jahr später einen Lehrauftrag am Physikalischen Institut der Universität Würzburg erhält, folgt ihm Röntgen als Assistent. Zwei Jahre später wechseln beide dann zusammen an die Universität Straßburg, wo sich Röntgen 1874 habilitiert und anschließend als Privatdozent lehrt. 1875 erhält er einen Lehrauftrag für Physik und Mathematik in Stuttgart, doch nur ein Jahr später kehrt Röntgen nach Straßburg zurück, als ihm August Kundt dort eine Stelle als außerordentlicher Professor für Physik verschafft. 1879 ergattert der Rheinländer dann in Gießen seine erste ordentliche Professur. Damit erhält er nun endlich auch ein festes Gehalt, wobei er sich aber bald keine Sorgen mehr machen muss, wie er seine Familie ernähren soll, denn nach dem Tod seines Vaters erbt Wilhelm Conrad ein ansehnliches Vermögen, mit dem er seine Familie mehr als gut ernähren kann. Seit 1872 war Röntgen mit Anna Ludwig, der Tochter eines Gastwirts verheiratet, die er während des Studiums in Zürich kennengelernt hatte. Eigene Kinder sollte das Paar nicht haben, 1887 nahmen sie dafür die sechsjährige Josephine Berta, Tochter von Annas Bruder Hans als Ziehkind auf und adoptierten sie später.
1888 kehrte Röntgen nach Würzburg zurück – diesmal aber nicht als Assistent, sondern als Professor, berufen von Prinzregent Luitpold. Für den Physiker war dies keine geringe Genugtuung, denn in seiner Zeit als Hiwi von August Kundt war ihm die Habilitierung wegen des fehlenden Abiturs von den Würzburger Professoren verweigert worden. Vielleicht wirkte der Nadelstich von damals zusätzlich motivierend auf Röntgen, denn ausgerechnet an jenem Ort, an der seine Karriere zunächst so abrupt gestoppt wurde, gelingt ihm nun eine sensationelle Entdeckung. Was in jener Winternacht genau geschah in Röntgens Labor, darüber gibt es widersprüchliche Berichte. Grund dafür ist, dass Röntgens Labornotizen auf eigenen Wunsch hin nach seinem Tod verbrannt wurden, sodass die Ereignisse aus Berichten Dritter rekonstruiert werden mussten. Der einen Version zufolge hat der Physiker den Schirm, der plötzlich zu leuchten begann, ganz bewusst neben die mit Pappe umwickelte Glasröhre gestellt, weil er bereits ahnte, dass bei seinen elektromagnetischen Versuchen eine für das menschliche Auge nicht sichtbare Strahlung entsteht, die durch die Röhre wie auch das Papier dringt. In der anderen Variante zur Entdeckung der Röntgenstrahlen stand der Schirm zufällig in der Nähe, als Röntgen mit seiner Entladungsröhre experimentierte. Analog zu diesen beiden Versionen gibt es dann auch über die Entstehung des ersten Röntgenbildes unterschiedliche Erklärungsansätze.
Der ersten Version zufolge hat der Physiker seine Hand bewusst zwischen Röhre und Schirm gehalten, um zu testen, wie sich die vermuteten Strahlen dann verhalten, während bei der zweiten Variante die Röntgen’sche Hand ganz zufällig ins Spiel kam. Wie auch immer sich diese magischen Minuten im Labor nun tatsächlich abgespielt haben mögen – für den weiteren Verlauf der Geschichte ist der genaue Hergang eher nebensächlich. Da Röntgen anfangs noch unsicher ist, womit er es hier zu tun hat, nennt er seine Entdeckung »X-Strahlen.« Im Englischen werden daraus die »X-Rays«, die heute noch gängige Bezeichnung für die im Deutschen schnell nach ihrem »Vater« benannten Röntgenstrahlen. Völlig ungewöhnlich für eine wissenschaftliche Entdeckung: Innerhalb nur weniger Wochen erkennt nicht nur Röntgen selbst, sondern auch die Fachwelt, auf welch ungeheuren Schatz der Physiker der Würzburger Universität gestoßen ist. Nur wenige Wochen nachdem er das Phänomen das erste Mal wahrgenommen hatte, veröffentlicht der damals 50-Jährige einen Aufsatz mit dem Titel »Über eine neue Art von Strahlen«, und in der gleichen Lichtgeschwindigkeit, mit denen die Röntgenstrahlen selbst daherkommen, verbreitet sich die Nachricht von der neuen »Wunderwaffe« daraufhin in der Öffentlichkeit. Bereits am 5. Januar 1896 – nur zwei Monate nach jenem ominösen Freitag im Labor – schreibt die österreichische Tageszeitung »Die Presse« als erste von einer »sensationellen Entdeckung«. Der ungenannte Verfasser steht zwar auf dem Kriegsfuß mit dem Namen Röntgen – den ganzen Artikel hindurch ist von »Professor Routgen« die Rede –, dafür beweist der Schreiber aber eine verblüffende Weitsicht in punkto praktischen Nutzen der Röntgenstrahlen. Diese seien zwar für das Auge vollständig unsichtbar, im Gegensatz zu gewöhnlichen Lichtstrahlen durchdrängen sie aber Holz, organische Stoffe und andere undurchsichtige Körper, Metalle und Knochen hingegen halten die Strahlen auf«, wird den Lesern erklärt. Als Beispiel habe »Professor Routgen« zum Beispiel die Gewichtsstücke eines Gewichtsatzes in einer Schachtel photographiert, ohne das Holzetui, in welchem sie aufbewahrt sind, zu öffnen. »Auf der gewonnenen Photographie sieht man nur die Metallgewichte, nicht die Cassette. Wie die gewöhnlichen Lichtstrahlen durch Glas gehen, so gehen diese neuentdeckten Strahlen durch Holz und auch durch Weichteile des menschlichen Körpers, nicht aber durch Knochen, wie an einem anderen Foto zu sehen sei: »Das Bild enthält die Knochen der Hand, um deren Finger die Ringe frei zu schweben scheinen. Die Weichteile der Hand sind nicht sichtbar.« Die Entdeckung klänge zwar wie ein Märchen oder wie ein verwegener Aprilscherz, doch die Sache werde von »ernsten Gelehrten sehr ernst genommen«, so der Autor in der »Presse«. Für die praktische Verwertung würden sich Biologen und Ärzte, insbesondere aber Chirurgen, lebhaft interessieren: »Der Arzt könnte dann zum Beispiel die Eigenart eines komplizierten Knochenbruchs ganz genau kennenlernen ohne die für den Patienten schmerzliche, manuelle Untersuchung. Der Wundarzt könnte sich über die Lage eines Fremdkörpers im menschlichen Leibe, einer Kugel, eines Granatsplitters, viel leichter als bisher und ohne die oft so qualvollen Untersuchungen mit der Sonde unterrichten.« Zwar seien viele der jetzt geäußerten Ideen, wozu die Strahlen noch dienen könnten, zunächst Zukunftsphantasien. »Aber – wer im Anfange dieses Jahrhunderts gesagt hätte, das Enkelgeschlecht werde … mit Hilfe eines elektrischen Apparates Zwiegespräche über den großen Ozean führen können, hätte sich auch dem Verdachte ausgesetzt, dem Irrenhause entgegenzureisen«, gibt der Autor zu bedenken. Die Wahrscheinlichkeit in punkto Röntgenvision tatsächlich für einen phantasierenden Spinner gehalten zu werden, sollte sich dann aber schnell erledigen: Nur Wochen nach der Veröffentlichung von Röntgens erstem Aufsatz tüftelten Wissenschaftlicher im In- und Ausland bereits an der neuen Technik.
Eine der ersten klinischen Anwendungen der Röntgenstrahlen fand nachweislich am 11. Januar 1896 im englischen Birmingham statt, wo der Mediziner Johan Hall-Edwards die Hand eines Kollegen röntgte, in der eine Nadel festsaß. Nur einen Monat später setzte Hall-Edwards die neue Technik dann bei einer Operation ein und der US-Amerikaner Thomas Alva Edison – der Erfinder der Glühbirne – begann ebenfalls 1896 mit dem Bau eines Beleuchtungsapparat, der, so Edisons Vision, nicht nur für medizinische Einrichtungen geeignet sein würde, sondern auch für den privaten Gebrauch als Partygag. Mit dieser Idee stand der USAmerikaner nicht alleine da, denn das gruselig-schauerliche Spektakel, lebende Skelette zu betrachten, hatte so manchen Unternehmer schnell auf die aberwitzigsten Ideen gebracht: Nicht lange, und Leuchtapparate tauchten auf Theaterbühnen auf, wo Schauspieler dem Publikum ihr Innenleben bloßlegten und in Schuhgeschäften konnten Kunden mit Hilfe von X-Strahlen einen Blick auf ihre Fußknochen werfen. Die Spielzeugfirma Märklin ging gar so weit, an einem strombetriebenen Röntgenapparat für Kinder zu arbeiten. Dass die Röntgenapparate bei einigen Menschen unerwartete Wirkungen wie Sonnenbrand oder Haarausfall auslöst, ging in diesem Hype zunächst unter. Es sollte allerdings nicht lange dauern, bis den ersten Experten dämmerte, dass die Röntgenstrahlung an sich zwar eine tolle Erfindung ist, die aber mit einer gefährlichen Kehrseite daherkommt. Eines der ersten Opfer der gesundheitlichen Nebenwirkungen von Röntgenstrahlen war der Assistent von Thomas Edison, Clarence Dally. Über Monate hinweg hatte er sich bei der Entwicklung von Röntgenapparaten ungeschützt der Strahlung ausgesetzt. Zuerst veränderte sich seine Haut, dann schwoll die linke Hand an und schließlich fielen Dally die Haare aus. Der gelernte Glasbläser experimentierte jedoch weiter ungeschützt mit den »X-Rays«, bis sich 1900 schließlich böse Geschwüre bildeten, zunächst im Gesicht, dann an den Extremitäten. Daraufhin musste ihm erst die linke Hand, wenig später auch vier Finger an der rechten und schließlich der ganze linke Arm amputiert werden. Dally starb 1904 – das erste Todesopfer der Röntgenstrahlung, die in der Anfangszeit etwa 1500 Mal höher war als bei modernen Apparaten.
Trotz dieser furchtbaren Kehrseite überwog aber der Nutzen von Röntgens Erfindung, die bis heute zu den wichtigsten Diagnoseverfahren der Medizin zählt. 1901, bei der Vergabe der ersten Nobelpreise, erhielt Wilhelm Conrad Röntgen für seine Entdeckung die Auszeichnung in der Sparte Physik. Wilhelm Conrad Röntgen starb am 10. Februar 1923 im Alter von 77 Jahren in München.
Susanne Mittermaier
33/2017