Hungerkatastrophe bringt Minister Montgelas zu Sturz
Bevölkerung begehrt gegen schwindelerregende Preise auf – Teil II



Wie in zahlreichen anderen Orten in Bayern hat nämlich nicht pure Rauflust die Menschen auf die Barrikaden getrieben, sondern ihre leeren Mägen, die sie nicht füllen können, weil die Preise für Getreide im Lauf des Jahres ins Astronomische gestiegen sind - und wozu das führen kann, hat die Französische Revolution von 1789 gezeigt, deren Gespenst auch 25 Jahre später für monarchistische Regierungen Anlass genug ist, aufmüpfige Untertanen zur Raison zu bringen, selbst wenn die, zumindest nach heutigem Verständnis, guten Grund haben, sich gegen Missstände zur Wehr zu setzen. Auslöser der vor allem für die einfache Bevölkerung so belastenden Preissteigerungen für Getreide waren massive Ernteausfälle, die 1816 ihren Höhepunkt erreichten (siehe Teil I), jenem Jahr, das mit dem Attribut »ohne Sommer« in die Geschichte eingehen sollte.
Was die Menschen damals nicht ahnten und was die Ängste sicher noch zusätzlich geschürt hat, war der Grund, warum es 1816 in weiten Teilen Europas wochenlang regnete, in höher gelegenen Orten im Hochsommer sogar schneite und dazu noch allenthalben Gewitter und Hagel über den Himmel hinwegfegten. Der Vulkan Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa war im April 1815 mit der bis heute heftigsten je gemessenen Explosion ausgebrochen und hatte dabei geschätzte 140 Milliarden Tonnen Asche, Gestein und Staub in die Atmosphäre geschleudert. Dieses Gemisch hatte sich anschließend über den ganzen Erdball verteilt und dabei wie ein riesiger Schirm die Sonneneinstrahlung verhindert. Als Folge war es ab Mai 1816 über Monate hinweg so kühl und nass, dass die Ernte um zwei Drittel zurückging. Das sorgte nicht nur für Engpässe bei Brot und sonstigen Backwaren, sondern trieb auch die Preise für Mehl und Getreide in schwindelerregende Höhen, wie ein Vergleich der Schrannenpreise in Landshut beweist. Dort hatte der Scheffel Weizen im Januar 1816 noch 16 Gulden gekostet, im Januar 1817 dagegen satte 42 Gulden. 1815 hatten die Preise nur zwischen 15 und 18 Gulden geschwankt, während sie 1816 von 16 Gulden im Januar bis auf 41 Gulden im Dezember stiegen. Den höchsten Stand erreichte der Weizenpreis dann im Juni 1817 mit 72 Gulden für den Scheffel – mehr als das Vierfache des üblichen Durchschnitts.
Viele ältere Menschen in Bayern erinnerten sich damals wahrscheinlich noch mit Schrecken an die Hungerkatastrophe von 1770/71, die auch von Missernten ausgelöst worden war. Allerdings hatte der damals regierende Kurfürst Maximilian III. zur Linderung der größten Not Getreide aus Hofbestand verteilen lassen und darüber hinaus Juwelen der Schatzkammer veräußert und Kredite im Ausland aufgenommen, um den finanziell eh schon gebeutelten Staat und seine darbenden Untertanen einigermaßen durch die Krise zu bringen. 1816 wartete die bayerische Bevölkerung allerdings vergebens auf Hilfe von oben, und man kann heute wohl kaum erahnen, welche Verzweiflung und schließlich auch Wut das bei den Menschen ausgelöst hat, dass sie nach den unendlichen Jahren der Napoleonischen Kriege mit all dem Not und Elend nun schon wieder einer so bedrückenden Situation ausgesetzt waren.
Der im mittelfränkischen Feuchtwangen lebende Posamentier Johann Christian Hartmann schreibt in seinem Tagebuch 1817, dass »alles so teuer wurde, dass sich ein mittlerer Mann beinahe nicht mehr fortbringen und ernähren konnte, was Geringe oder Arme waren, sind sehr viele an Hunger gestorben oder Liegerhaft geworden«. Der in Rehau im heutigen Landkreis Hof beheimatete Chronist Heinrich Hertel notierte: »Viele Haushaltungen haben großen Schaden gelitten damals, denn es ist mancher wie weit in Schulden geraten. Da ging es immer noch, wer Geld hatte; nur die Armen mussten viel leiden, die konnten sich kein Brot kaufen und mussten sich viel mit Kohl, Quecken und andern Gräsern erhalten, was die Folge davon war, dass nachher die Ruhr unter die Menschen kam, wo viele daran gestorben sind.« Mit billigen Ersatzstoffen versuchte man, das teure Dinkel-, Hafer- oder Weizenmehl zu strecken, doch Bucheckern, Rosskastanien, Baumrinden, Ochsenhäute und selbst Moose und Flechten mögen vielleicht für Vierbeiner durchaus nahrhaft sein; der menschliche Magen ist über derlei Zusätze weit weniger begeistert und das nicht nur wegen der mangelnden Nährstoffe. Allzu exotische Beimengung verhindern nämlich auch, dass der Teig beim Backen entsprechend aufgeht, wodurch das Brot dann auch noch schwer verdaulich wird, ganz zu schweigen vom wenig verlockenden Geschmack. Genau dieser Umstand wurde allerdings Vorzugs einer Ernährungsmethode angepriesen, mit der sich angeblich der Brotverbrauch senken ließ, wie Anfang März 1817 in der »Allgemeinen Handlungs-Zeitung« zu lesen war. Bei der Hungersnot in England 1799 habe sich der Verzehr von altbackenem Brot als so wirksam erwiesen, dass der Verbrauch um ein Viertel gesenkt werden konnte, so die Behauptung. Der Grund dafür sei zum einen, dass altes Brot besser sättige, weil »der Schleim« und die Essigsäure, die in frischem Backwerk enthalten seien, – was auch immer damit gemeint war – durch Lagern verschwänden. Das habe zur Folge, dass Brot schlechter schmecke und der Esser eher satt sei – weil er im wahrsten Sinn des Wortes »genug« hat. Außerdem sei altes Brot ja auch hart und deshalb mühsam zu kauen, wodurch die Lust am Genuss ebenfalls vergehe – ein Argument, das in einer Zeit, in der vernünftiger Zahnersatz noch in weiter Ferne lag, nicht von der Hand zu weisen ist. Eine Milchmädchenrechnung ist das alte Brot aber trotzdem, denn egal, wie kurz oder lange man auf einem harten Kanten kaut, die Kalorienund Nährstoffzufuhr bleibt dabei gleich, ganz zu schweigen, dass auch hartes Brot nicht umsonst zu haben war und jede Preiserhöhung von Grundnahrungsmitteln gerade die am meisten traf, die eh schon kaum über die Runden kamen, sprich Tagelöhner, Arbeiter, Kleinhandwerker sowie Kranke, Alte und Arbeitslose, von denen es gerade in der damals noch herrschenden Nachkriegszeit besonders viele gab.
Zwar hatte die bayerische Regierung als eines der ersten Länder im deutschsprachigen Raum just 1816 eine umfassende Armengesetzgebung verabschiedet, die zum ersten Mal einen gesetzlich verankerten Anspruch auf staatliche Hilfe für bestimmte Gruppen in entsprechender Notlage vorsah.
Die Umsetzung der entsprechenden Verordnungen in die Praxis sollte aber Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Die Verabschiedung des Armengesetzes Ende 1816 ist darüber hinaus auch keine direkte Reaktion auf die damals aktuelle Krise, sondern schon Jahre zuvor in der Planung gewesen, vor allem mit der Absicht, den Scharen an Bettlern, die zu einem immer größeren Ärgernis für die Behörden geworden waren, Einhalt zu gebieten.
Drei Wochen nach dem Aufruhr in Memmingen wurde der Münchner Hof dann endlich auch in Sachen Lebensmittelpreise aktiv: Der bayerische König Max I. Joseph ordnete dabei über den Kopf seines Ministers Montgelas, der weiter stur am Prinzip des freien Handels und damit der freien Preisgestaltung festhielt, den staatlichen Zukauf von Getreide an. Hintergrund war, dass es inzwischen auch in der Landeshauptstadt zunehmend gärte: »Soldaten verließen scharenweise die Kasernen, das Heer der Bettler wuchs an, Weltuntergangspropheten traten auf«, beschreibt Wolfgang Behringer in seinem Buch »Tambora und das Jahr ohne Sommer. Wie ein Vulkan die Welt in die Krise stürzt« die Situation Ende 1816. Kurz zuvor waren zwar schon staatliche Teuerungszulagen eingeführt worden, doch von denen profitierten nur Beamte und die beschlossene Erhöhung der Ausfuhrzölle brachte ebenfalls keine Erleichterung für die allgemeine Bevölkerung. Deren Not sollte noch über einen Gutteil des neuen Jahres 1817 andauern und erst mit der Gewissheit, dass die aktuelle Ernte wieder normal ausfallen würde, langsam ein Ende nehmen.
Den altgedienten Maximilian de Montgelas kostete das katastrophale Krisenmanagement indes sein Amt, wobei die aktuelle Situation aber nur der Auslöser, nicht Ursache für seinen Sturz war.
Mit dem Radl aus der Krise
Die Erfindung des Fahrrads durch Karl von Drais hängt direkt mit dem »Hungerjahr 1817« zusammen – so zumindest sieht es der Technikhistoriker Hans-Jürgen Lessing in seiner vor einigen Jahren erschienenen Biographie über den hessischen Forstbeamten, der vor 200 Jahren nicht einmal im Ansatz geahnt haben dürfte, welch weltbewegende Erfindung mit seinem Laufrad gelungen ist. Karl von Drais, von Beruf eigentlich Forstbeamter, seit 1810 jedoch vom Dienst freigestellt, hatte schon eine Maschine, die beim Klavierspielen zugleich die Noten aufschrieb und eine verbesserte Methode zum Feuerlöschen entwickelt, als er im Juni 1817 ein Fortbewegungsmittel präsentierte, das allein durch Menschenkraft angetrieben wurde, ganz ohne Pferdekraft, deren Unterhalt in jenem Jahr durch die hohen Getreidepreise besonders kostenintensiv geworden war.
Drais hatte bereits 1813 einen »Wagen ohne Pferde« zum Patent angemeldet, doch dieses vierrädrig konstruierte Fahrzeug, das mittels einer Kurbel angetrieben wurde, hatte nicht die erhoffte Resonanz gebracht. Sein neues Gefährt bestand nun aus zwei hintereinander liegenden Rädern, die über einen Rahmen miteinander verbunden waren. In der Mitte befand sich ein Sattel, auf dem eine Person sitzend die Beine auf dem Boden bewegte und damit das Gefährt antrieb. Dass Drais erstes Modell eines »Wagen ohne Pferde« 1813 ja schon vor dem Ausbruch des Tambora entstanden ist, widerspricht seiner These vom Vulkanausbruch als auslösenden Faktor für die Erfindung nicht, denn die Getreidepreise waren auch schon damals nach Missernten im Vergleich zu den Vorjahren merklich gestiegen. Kritiker werfen Lessing jedoch vor, dass er keine historischen Belege für seine Theorie liefere, sondern zwei zufällig zeitgleiche Ereignisse geschickt zu einer Geschichte verwoben habe, die dann von anderen Autoren aufgegriffen wurde und dabei einen in der Medienberichterstattung häufiger anzutreffendem Mechanismus auslöste, bei dem eine These allein durch mehrfaches Wiederholen irgendwann zur – scheinbaren – Tatsache mutiert.
Ob sich die Erfindung des Drahtesels – der 1817 übrigens noch weitgehend aus Holz bestand – tatsächlich mit dem Hungerjahr 1817 verquicken lässt, ist auch an dieser Stelle nicht zu klären. Einen Bezug zu einem rollenden Gefährt hat Lessings Geschichte aber allemal: Einmal in Bewegung gesetzt, wird sie sich so lange fortbewegen, bis jemand sie endlich aus dem Verkehr zieht.
Susanne Mittermaier
Teil 1 in den Chiemgau-Blättern Nr. 44 vom 4. 11. 2017
45/2017