Heiltümer für den Hosensack
Vor 50 Jahren war der »Schatz vom Heiligen Berg« zuletzt öffentlich zu sehen




Am 26. März 1967 jährte sich die Kanonisierung der heiligen Hedwig zum 700. Mal. Für den damaligen Abt von München – St. Bonifaz und Coelistin Stöcker, dem Prior von Andechs, war dies vor 50 Jahren der Anlass, eine Ausstellung des gesamten »Schatzes vom Heiligen Berg« vorzubereiten. Sie wurde vom 12. Mai bis zum 15. Oktober 1967 im Bayerischen Nationalmuseum (BNM) gezeigt. Das Benediktinerstift St. Bonifaz und das Kloster Andechs gaben hierzu einen 95 Text-Seiten starken Katalog heraus. Er enthielt im Anhang 82 Schwarzweiß-Abbildungen der Exponate, immerhin 73 Katalog-Nummern.
Eine wahre Heiltumsschau
Die kostbaren Objekte der Andechser Schatzkammer waren Anfang der 1960er Jahre vom BNM konserviert worden. Für Direktor Theodor Müller war es »die schönste Belohnung, … sie als wahre Heiltumsschau ausstellen (zu) dürfen«. Der Entleihung derjenigen Objekte, »die bei der Säkularisation aus Kloster Andechs in die Reiche Kapelle der Münchner Residenz überwiesen wurden«, stimmte der Wittelsbacher Ausgleichsfonds zu. Bekanntlich hatten die Wittelsbacher das Erbe der Andechser Grafen angetreten und den »Schatz vom Heiligen Berg« seit 1388 nach besten Kräften gefördert; ihnen war auch jahrhundertelang der Schlüssel zur Heiltumskammer auf dem Andechser Berg zur Verwahrung anvertraut. Andechs war für die Wittelsbacher so etwas wie ein herzogliches Familienkloster.
In seiner Einführung in die denkwürdige Ausstellung zählt der Benediktinerpater Romuald Bauerreiß zu dem »namhaften Schatz an Heiligenreliquien«, den Großkirchen vielfach aufwiesen, »noch andere Kostbarkeiten hinzu …: Paramente, Altargeräte, Kreuze, Leuchter, Kelche, Bischofsstäbe, mitunter auch alte liturgische Handschriften«. Der Gelehrte erinnert, was Bayern angeht, an die Domschätze von Bamberg und Regensburg. Die Andechser Schätze seien vor allem Orientpilgern und Kreuzfahrern zu danken. Zum Grundbestand namhafter »Herrenreliquien« (Christusreliquien von Kreuz, Dornenkrone, Grab etc.) kamen zum einen im 12. Jahrhundert eine wundertätige, angeblich blutende, und zwei weitere Hostien, drei Jahrhunderte später eine sitzende Madonna aus der Werkstatt Erasmus Grassers, die zusammen das Ziel zahlreicher Wallfahrer bildeten, sodass Andechs neben Aachen und Trier als eine der großen, deutschen Christus-Wallfahrten des Spätmittelalters galt. Der Schatz von Andechs mehrte sich zusehends. Pilger brachten ihre persönlichen Reliquien an den Gnadenort, dem sie sie überließen. Einige »heilige Leiber« kamen aus den römischen Katakomben auf den Heiligen Berg in Oberbayern.
Der Heilige Schatz als Pilgerziel
Unter einem Altar fand man im Jahre 1388 Mitbringsel von kostbaren Gegenstandsüberresten – und so häufte sich allmählich der für den Christen bedeutende »Heilige Schatz« von Andechs an. Ihn dem gläubigen Volk vorzuführen, zu erläutern und als Pilgerziel »schmackhaft« zu machen, gab man sogenannte Heiltumsbücher heraus. Das erste, dessen Originalmanuskript sich erhalten hat, stammt von Abt David Aichler: »Chronicon Andecense«, gedruckt »bey Adam Berg. Anno M.D.XCV.«. Die Heiltumsliste wies 160 Holzschnitte auf. Noch im selben Jahr 1595 erschien eine erweiterte Neuauflage des ersten Heiltumsbuches. In der Zeit von 1611 bis 1781 kamen weitere neun Andechser Heiltumsbücher heraus.
Vor ein paar Jahren fügte es sich, ein Exemplar der »zweyten Auflag« des Büchleins (16 x 10 cm) erwerben zu können, das diesen ellenlangen Titel trägt:
»Schatz=Kammer in denen Heiligthümeren auff dem Wunder= und Gnaden=reichen Heil. Berg Andex des Heil. Patriarchen Benedicti Ordens, Augsburger Bistums, in Ober=Bayern etc. denen Heyls und Heiligkeitsbegierigen Wahlfarteren in andächtigen Kupferen, und gründlichen Lehren zur Verehrung, Anruffung, und Nachfolgung derer Heiligen im frommen Lebens=Wandel – Auf ein neues eröfnet von einem Priester besagten heiligen Orts und Ordens.«, Augsburg, »Gedruckt bey Frantz Joseph Fetscher, Catholischen Buchdrucker, 1765«.
Der in jeder Hinsicht schlechte Erhaltungszustand des Taschenbuches ist nicht in erster Linie seinem hohen Alter zuzuschreiben. Er erklärt sich mit seinen Lockerungen der Bindung und wenigen fehlenden Blättern eher aus dem regen Gebrauch. Die Abnützungsspuren lassen auf »User« schließen, die wenig Wert darauf legten, mit sauberen Fingern das Buch zu gebrauchen. Es wendet sich in der »Vorrede« an »andächtige Wahlfahrter« und an »Verehrer des H. Bergs«. Diesen erhabenen Ort hätte sich unser Erlöser als »beständigen Wohn-Sitz« ausgesucht. Die »andächtigen Kupfferen« sollten den Leser zur Versenkung in die göttlichen Geheimnisse führen, seine Tugenden mehren und ihn zu größerem Eifer in der Nachfolge der Heiligen führen.
277 durchnummerierte »Heiligthümer«
Im Teil 1 wird vom Heiligen Berg Andechs und den Haupt-Reliquien hier erzählt, im Teil 2 und 3 von den Reliquien und den Heiligen zunächst allgemein, dann von den besonderen »Heiligthümern, so auf dem H. Berg sich befinden, und in Kupfferen vorgestellt werden«. Begonnen wird bei der »Truhen«, die 1388 gefunden wurde (s. o.). Auf den folgenden 100 Seiten kommt es immerhin zu 277 kleinen, nur etwa fünf Zentimeter großen, in Kupfer gestochenen »Heiligthümern«. Sie werden, von 1 bis 277 sorgsam durchnummeriert, in kleinen Gruppen – als Dreierreihen pro Seite – zu vier bis höchstens sechs Stück vorgestellt, entweder lose nebeneinander stehend oder in verschiedenartigen Behältnissen geborgen: Heiligenbüsten, Figürchen, Kissen, Ostensorien, Monstranzen, Amphoren, Leuchter, Altärchen, Kruzifixe, Sarkophage, Arme, Pyxen, Schaukästchen, Tabernakel, Glasfläschchen, Kristall- oder Bleikapseln...
Unter der Nummer 251 werden – um ein Beispiel zu geben – folgende Reliquien von Heiligen benannt, die in einem Altärchen aufbewahrt sind: eine Rippe des hl. Märtyrers Vincentio, ein Stockzahn des heiligen Christophorus, drei nicht näher bezeichnete »Partickel von dem H. Apostel Juda Thaddaeo«, ein Stück von der Hirnschale des hl. Oswald, Abgeschabtes vom Stab des hl. Franziskus von Assisi, etwas »Leinwath« (Leinwand), in die der Leib des hl. Bischofs Erhard von Regensburg eingewickelt war, zwei Steinchen vom Kalvarienberg, zum Schluss auch noch der Gürtel der hl. Elisabeth. Womit es sich hier durchwegs um echte gegenständliche, nicht nur Berührungs-Reliquien handelt. Pater Romuald Bauerreiß machte im Einführungstext zum Münchner Ausstellungs-Katalog von 1967 auf die »Barbareien« aufmerksam, denen Teile des »Heiligen Schatzes« von Andechs im Zuge der aufklärerischen Klosteraufhebung 1803 zum Opfer gefallen waren.
Wie gut, dass der Andechser Abt Maurus Braun 1715 eine Kupferstichtafel in Augsburg hatte fertigen lassen, die die den Schatz repräsentierenden Gegenstände – 277 Nummern (s. o.) immerhin – in kleinen Kupferstichen abbildeten. In der vor 50 Jahren vorbereiteten, ein Jahr darauf eröffneten Schatz-Schau des BNM war das 119 cm hohe, 56 cm breite Blatt – aus fünf Papierbahnen zusammengefügt, auf Leinwand aufgezogen, aus mehreren Kupferplatten gedruckt – zu sehen. Überschrieben mit »MONS SANCTUS ANDECHS – Der heilige Berg Andechs«, stehen in 13 Reihen die Reliquiare, die Andechser Hostienmonstranz in der Mitte. Darunter in einer Art Höhle: Skelette und einzelne, kaum zu deutende, Relikte von damals noch nicht gefundenen Heiligen. Der Augsburger Stecher Michael Labhart nennt sich »Hochf.Bisch.Buchdrucker«.
Dieser riesige Stich war, so wurde vor 50 Jahren im Ausstellungskatalog vermerkt, nur in diesem einen Exemplar vorhanden. Er hätte sich ohnehin nicht als Werbemittel geeignet – zur Belebung der Andechser Wallfahrt in der Zeit der Gegenreformation. Da dachte man sich schon andere Medien aus: die Heiltumsbücher. Sie konnten sich die Gläubigen in den Hosensack stecken, so schmal und leicht wie sie waren. Die abgebildeten Reliquien wirkten, als ob es gegenständliche Reliquien wären, die der Gläubige in allerlei Nöten und Bedrängnissen, bei Krankheit, Leid und in der Sterbestunde als heilbringende, wenigstens schmerzlindernde, »Arznei« anwenden konnte.
Gute Gedanken und heilsames Begehren
Das Mitführen, Lesen und Betrachten des »Heiligen Schatzes« von Andechs im eigenen, daheim wohlverwahrten, auf Reisen mitgenommenen, vielleicht reihum zum Nutzen an andere weitergegebenen, vielleicht an Patenkinder verschenkten und schließlich vererbten Heiltumsbüchlein konnte – denken wir an Gehbehinderte und Reiseunfähige – durchaus eine strapaziöse Wallfahrt auf den Heiligen Berg ersetzen. Den an der Pilgerfahrt Gehinderten blieb nur die Betrachtung der im Buch abgebildeten Überreste Jesu Christi, seiner jungfräulichen Mutter Maria und vieler Heiliger Gottes, um ein christliches Leben zu führen. Der Christ hatte (auch damals schon) keinen »Mangel an Materi zur Betrachtung«, argumentierte der namentlich nicht genannte Herausgeber des Heiltumsbuches von 1765 auf den letzten Buchseiten:
»Ein Alchimist oder Schmeltzer kan aus einer jeden Sach einen Safft, Oel oder Saltz herausziehen: ein eyfriger Christ ein gute Lehr zu seinem Seelen-Heyl. Was ihme immer im Himmel, an dem Firmament, in der Lufft, und auf der Erden zu Gemüth oder zu Sinn kommet, das tauget ihme alles zu guten Gedancken, heylsamen Begierden, eyfrigen Betrachtungen … Wann ihr die Weiß zu betrachten nur ein wenig erlehrnet, so könnt ihr gar leicht mit grossem Nutzen euch ein gantzes Monath hindurch aufhalten in denen Lehren von Verehrung, Anruffung, und Nachfolgung deren Heiligen, welche auch in denen Kupferen vorgestellt werden.«
Diese »Kupferen« oder, wie meist geschrieben steht: »Kupfferen« sind es denn auch, die den außergewöhnlichen, bibliophilen Reiz des kleinen Andechser Heiltumsbuches ausmachen. Respekt vor dem Augsburger Drucker Frantz Joseph Fetscher, der ein leserfreundliches Layout schaffte: Den durchgehend rechtsseitig stehenden Abbildungen stehen linksseitig die zu jeder Nummer gegebenen Erläuterungen.
Dr. Hans Gärtner
18/2017