Jahrgang 2007 Nummer 18

Göttervogel aus dem Reich der Nofretete

Ein Ibis machte Rast in Wintermoning bei Waging

Ende März dieses Jahres tauchte in der Umgebung von Waging überraschenderweise ein äußerst attraktiver gefiederter Gast auf, dessen Urahnen in vorchristlicher Zeit im Land der Pyramiden und der Sphinx eine prominente Rolle spielten: der Heilige Ibis! Diesen Namen verliehen ihm schon die alten Ägypter. Jener schwarzweiße Ibis produzierte sich drei Tage lang beim Weiler Wintermoning, knapp sechs Kilometer nord-westlich von Waging. Dort schien es ihm gut zu gefallen. Er war etwas vertraut, aber doch vorsichtig, was für diese Ibisart grundsätzlich zutrifft. Ein Tümpel in der Wiese von Josef Breitwieser hatte sein Interesse geweckt. Er ließ sich auch von der Nachbarin Frau Sylvia Zahnbrecher fotografieren. Die Bilder belegen, dass es sich um ein jüngeres Individuum handelte, denn die auffallende Schwärze der Hals- und Kopffedern war noch nicht ganz ausgeprägt.

Ein ibisköpfiger altägyptischer Gott

Der Heilige Ibis gehört zur ägyptischen Kulturgeschichte. Im Zeitalter der Großkönige, der Pharaonen, das 3000 Jahre dauerte und im Jahre 30 vor Christi Geburt mit dem Selbstmord der Kleopatra, der letzten Herrscherin endete, verehrte man den Heiligen Ibis als Symbol und Verkörperung des angesehenen Gottes Thoth. In den damaligen Tempeln und Palästen wurde diese Gottheit mit einem Ibiskopf künstlerisch dargestellt. Auch in der altägyptischen Bilderschrift ist der Heilige Ibis in den Hieroglyphen symbolisiert. Es gab seinerzeit sogar Ibisfriedhöfe mit zahlreichen Mumien, von denen jetzt noch viele gut erhalten sind. Auch unter den Grabbeigaben für hohe Würdenträger und in den Königsgräbern der Pyramiden befanden sich Mumien und Bälge von Heiligen Ibissen.

Der Nil mit seinen alljährlichen Überschwemmungen, deren Schlamm im weiten Umkreis üppigen und wertvollsten Dünger für den Anbau von Getreide spendete, war damals die Basis für Reichtum und Wohlstand des Volkes. Im Sumpfgelände beiderseits des Nil nisteten zahllose Ibisse. Jetzt sind diese Vögel nicht mehr in Ägypten heimisch, sie wurden vor mehr als 150 Jahren ausgerottet. Doch südlich der Sahara sind sie bis Südafrika fast überall vertreten.

Woher stammt dieser Heilige Ibis?

Die Frage, woher dieser exotische Irrgast kommt, ist nicht ohne weiteres stichhaltig zu beantworten. Natürlich scheint es naheliegend, dass er aus einem Zoo oder sonstiger Tierhaltung flüchtete. Doch die Möglichkeit, dass er direkt aus Afrika bei uns eingetroffen ist, das heißt, dass er sich in seiner afrikanischen Heimat einem Verband artverwandter und auf dem Rückflug befindlicher europäischer Zugvögel, etwa Sichern oder Löfflern angeschlossen hat, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Denn der Heilige Ibis lebt und brütet gern gesellig mit Löfflern und anderen Stelzvögeln zusammen. Er wurde vielleicht von einem in Etappen nordwärts ziehenden Stelzvogeltrupp zum Mitreisen stimuliert und verführt. Sein zeitliches Auftreten deckt sich genau mit der Frühjahrsankunft von Sichlern und Löfflern in Mitteleuropa, die in der ornithologischen Klassifizierung zur Ibisfamilie gehören.

Jost Straubinger



18/2007