Jahrgang 2017 Nummer 42

Fleischbank-Pfeiler wurde Willi Zeller zum Verhängnis

Vor kurzem jährte sich der tragische Absturz des Ruhpoldingers

Vor dem Breithorn im Wallis, von links Toni Reiter, Lois Gastager und Willi Zeller. (Fotos: Schick, Archiv Toni Reiter, Alois Gastager)
Zeitungsartikel am 24. September 1957 im Traunsteiner Wochenblatt über den Absturz von Willi Zeller.
Ankunft auf der Drei-Zinnen-Hütte, von links Toni Reiter, Hüttenwirt Peppi Reider und Willi Zeller.
Maiergschwendter-Grabstätte am Ruhpoldinger Bergfriedhof mit der Inschrift Willi Zeller.
Willi Zeller am Hörnligrat.
Willi Zeller (links) und Lois Gastager auf dem Matterhorn. Das Foto knipste Toni Reiter.
Lois Gastager (links) und Toni Reiter fachsimpeln und blättern gern im alten Tourenbuch.
Die Hiobsbotschaft vor 60 Jahren schlug nicht nur in Bergsteigerkreisen ein wie eine Bombe: Willi Zeller, einer der talentiertesten Jungspunde seiner Zunft verunglückte tödlich am Fleischbankpfeiler im Wilden Kaiser. Dem 20-jährigen Ruhpoldinger wurde beim Versuch, die ausgesetzte Wand als Solo-Erstbegehung zu durchsteigen, ein ausgebrochener Haken zum Verhängnis. Er stürzte 150 Meter in die Tiefe. Für den Maiergschwendter- Sohn aus Ruhpolding kam jede Hilfe zu spät. Er wäre heuer 80 Jahre alt geworden.

Das Traunsteiner Wochenblatt schrieb damals: »…Seinen Absturz hatten zwei Bergsteiger aus Reit im Winkl vom Totenkirchl aus beobachtet. Das Leben eines jungen Bergsteigers, der beruflich sehr begabt war und als sehr feiner Mensch galt, hat ein tragisches Ende gefunden.«

Einer, der an diesem Samstagmittag, es war der 21. September 1957, ganz nah dran war, ist sein Kletterkamerad Toni Reiter aus Reit im Winkl. Beide hatten die Jahre zuvor schon viele erfolgreiche Exkursionen unternommen, die sie zu einem eingespielten Team zusammengeschweißt haben. Deshalb war auch der Angriff auf den Fleischbankpfeiler als gemeinsame Tour geplant. Doch es sollte ganz anders kommen.

Der Toni erinnert sich heute noch genau an die Geschehnisse, als wären sie erst gestern abgelaufen. »Wir waren ja üblicherweise immer mit dem Radl unterwegs. Aber an diesem Tag hat der Willi ein Motorrad ausgeliehen und war deshalb früher an der Einstiegsstelle als ich.« Toni Reiter vermutet, dass seinem Spezl, mit dem er schon in Ruhpolding die Schulbank gedrückt hatte, die Warterei zu lange gedauert hat und er deshalb auf eigene Faust losgestiegen ist. Vielleicht war es auch die große Verlockung einer Erstbegehung, die ungebändigte Motivation am Fels etwas zu schaffen, was keinem vorher gelang? Beweggründe – die immer ein Rätsel bleiben werden …

Als er an der Absturzstelle eintraf, zog es ihm förmlich den Boden unter den Füßen weg. »Was da in einem vorgeht, das kannst du nicht beschreiben, da weinst du nur noch wie ein Schlosshund«, schildert Reiter seine Gefühle. Wie in Trance verfolgte er den Abtransport seines Freundes – sogar zum Heimradeln war er an diesem rabenschwarzen Tag unfähig. Erst nach einer Übernachtung in der Griesen-Alm, nachdem der erste Schock halbwegs verdaut war, machte er sich auf den Heimweg. Eine Heimfahrt mit zerrissenen Gedanken.

Das Jahr begann mit sportlichem Erfolg

Dabei hatte das Jahr für den Verunglückten so verheißungsvoll begonnen. So gehörte Willi Zeller zusammen mit seinem Bruder Sepp und Jochen Plenk der Dreiermannschaft an, die beim Ätna-Lauf auf Sizilien den dritten Platz unter den Militär-, Polizei- und Clubmannschaften erreichte und die Einzelwertung der Clubteams gewann.

Schwer bepackt in die Dolomiten

Im Juni waren Zeller und Reiter voller Tatendrang und mit schwer bepackten Fahrrädern zu einer zweimonatigen Tour in die Sextener Dolomiten aufgebrochen. Es sollte ihre letzte gemeinsame Unternehmung werden.

Toni Reiter hat seine Erlebnisse in eindrucksvoller Bergsteigersprache in seinem Kletterbuch aufgeschrieben, ohne Pathos, ohne Effekthascherei, ohne zu glorifizieren. Vielmehr spürt man aus jeder Zeile die Faszination, den Zauber, den die Dolomiten, und hier die Drei Zinnen im Besonderen, auf die beiden jungen Kletterer ausübten.

In prägnanten Sätzen schildert er die einzelnen Touren von Anfang an. Das vertraut machen mit dem ungewohnten Dolomitgestein, die regenbedingten Zwangspausen, die Begegnungen mit anderen Kletternationen, seiner vergessenen Fotokamera und deren Bergung durch den verschneiten »Preußriss« und natürlich die Beschreibung der Drei-Zinnen-Nordwände, wobei die schwerste Route der »Westlichen« mit ihren Anforderungen, die sie an einem Tag schafften, die meisten Seiten füllt.

Doch lassen wir Toni Reiter und sein Tourenbuch in Auszügen selbst erzählen:

»Drei Uhr früh. Wir werden vom Hüttenwirt Peppi Reider geweckt. Er hat uns heiße Milch und ein kräftiges Frühstück bereitet. Es will gar nicht schmecken, wir haben ein unbestimmtes Gefühl im Magen, aber unser Auftrieb ist stärker. Mit scheuen Blicken schauen wir immer wieder zu »unserer« Wand hinüber. Um fünf Uhr stehen wir am Einstieg. Sorgfältig richten wir uns zum Klettern her. Willi soll in die Wand führen, ich muss den Rucksack tragen, er ist ziemlich schwer und hindert mich später ganz schön in der Wand. Schon nach einigen Seillängen scheint die Sonne in die Wand. Die »Drei Zinnen« erglühen in einer ganz feinen Röte. Die Zeit, in der wir in der westlichen Nordwand Sonne haben, ist sehr kurz und somit wird dieser Augenblick voll ausgekostet. Bald stehen wir auf dem zweiten Pfeilerköpfel, laut Beschreibung sollen hier die großen Schwierigkeiten beginnen. Nach den ersten Metern merken wir, dass es nicht übertrieben ist. Die Wand ist sehr schwer, trotzdem geht es bei uns zügig weiter. Als wir am Anfang des 30-Meter-Überhangs stehen, wird die »Schlosserei« noch einmal sorgfältig hergerichtet. Der Überhang ist nämlich »ausgenagelt«.

Nach zwei Stürzen ins Seil steht Willi am Standplatz vor dem Quergang und ich bin bald bei ihm. Groß ist die Freude, als dort alle Haken stecken. Für mich sollte diese Seillänge trotzdem die schwerste werden, da ich ja nachklettere und der Rucksack immer in die Tiefe zieht. Am Ende des Quergangs erwartet uns der Biwakplatz. Es ist noch früh am Tag und somit wissen wir, dass wir die Wand in einem Tag schaffen. Nach einer ausgiebigen Brotzeit gehen wir die drei letzten schweren Seillängen an. Bald liegen sie hinter uns. Im oberen Wanddrittel mussten wir durch einen Wasserfall queren. Hier wurde nicht nur unser Durst gelöscht, sondern wir wurden auch durch und durch nass. Über leichtes Gelände ging es schnell dem Gipfel zu, den wir um halbsechs Uhr erreichten. Unsere Freude war übergroß. Nach einem kräftigen Händedruck machten wir uns auf den Rückweg zur Hütte. Um 19 Uhr, genau passend zum Abendessen, das wir uns reichlich verdient hatten, trafen wir dort ein. Noch oft schauten wir von der Hütte aus hinüber zu dieser ungeheuren Wand. Sie wird uns ein ewiges Erlebnis bleiben.« Soweit Toni Reiters Aufzeichnungen. Rückblickend betrachtet hätte es den schweren Rucksack nicht gebraucht, doch folgten sie der Einschätzung des Hüttenwirts, dass ein Biwak unerlässlich sei.

Durch den relativ langen Aufenthalt an der Zinnen-Hütte entwickelte sich mit dem Wirt ein sehr freundschaftliches Verhältnis. Der machte den beiden ein verlockendes Angebot, das sie ohne große Überlegung annahmen. Für Kost und Logis errichteten sie innerhalb weniger Tage einen stabilen Terrassenzaun und tauschten so ihr karges Zelt mit einem festen Dach über dem Kopf. Und obendrein gab es auch noch etwas Geld für manche kurze Bergführungen zwischendurch.

Abstecher nach Zermatt

Heute kann man sich das nur schwer vorstellen: Wer radelt – wohlgemerkt mit höchstens 3-Gang-Schaltung, was damals schon als Luxus galt – von Ruhpolding nach Südtirol, der Brenta-Gruppe und über den Bernina-Pass nach Zermatt in der Schweiz, wieder nach Südtirol und dann zurück in die Heimat? Abgesehen von den strapaziösen Klettertouren zwischendurch?

Willi Zeller und Toni Reiter ließen sich während ihres Zwei-Monats-Trips von diesem Vorhaben nicht abhalten. Es hatte schließlich einen Grund. Denn der Gastager Loisei, ein weiterer Seilgefährte aus Ruhpolding, arbeitete zu dieser Zeit in der Schreinerei Brigger, um Erfahrungen in seinem Beruf zu sammeln. Der Lois staunte nicht schlecht, als die beiden Kameraden plötzlich vor der Tür standen und mit ihm aufs Matterhorn gehen wollten. Dessen Chef blieb angesichts des Tatendrangs, dem er sich gegenüber sah, nichts anderes übrig, als dem Lois spontan frei zu geben. Gleich nach Feierabend stiegen sie hinauf zur Hörnli-Hütte, um am nächsten Tag nach dreieinhalb Stunden (der Lois, der schon zweimal droben war, fungierte als Bergführer) auf dem Gipfel zu stehen. Nun ging auch dieser Traum in Erfüllung. Allerdings hatte die nächtliche Gipfelfeier in der »Walliser Kanne« so sehr am Urlaubsbudget gezerrt, dass ihnen der Lois einstweilen mit einer Finanzspritze aushelfen musste.

Am übernächsten Tag schwangen sie sich wieder aufs Rad und fuhren über Disentis, Chur und Zernez nach Meran und Bozen. Hier mussten sie außerhalb der Stadt zelten, da das erwartete Ausrüstungspaket von zuhause noch nicht angekommen war. Nach zwei Tagen traf es ein und mit neuem Schwung steuerten sie die Marmolata an, die ihnen allerdings die kalte Schneeschulter zeigte.

Deshalb wechselten sie hinüber zur Tofana de Roces, um den Tofana-Pfeiler anzugehen. Nach geglückter Aktion waren sich beide einig, eine der schönsten und schwierigsten Herausforderungen gemeistert zu haben. Mit Stolz erfüllte sie auch ihre erste gemeinsame Erstbegehung der Paternkofel- Nordwand und die Gewissheit, alle Drei-Zinnen-Nordwände durchstiegen zu haben.

Am 6. August, dem Patroziniumsfest auf dem Hochfelln, schreibt Toni Reiter etwas wehmütig in sein Bücherl: »Heute nehme ich Abschied von der Zinnenhütte und ihren Bergen und fahre nach Hause. Ich bin allein, denn Willi möchte noch ein paar Tage dort bleiben.« Es schien so, als wollte er »seine« Berge bis zum letzten Atemzug auskosten.

 

Ludwig Schick

 

42/2017