Eine Handvoll Zucker und wenig Hoffnung
Not und Elend des I. Weltkriegs machen auch vor Weihnachten nicht halt



Dazu musste man an einem bestimmten Tag zu einer genau festgelegten Zeit bei seiner zuständigen Behörde erscheinen, und diese Termine waren, wie eine Anzeige in der »Coburger Zeitung« vom 17. Dezember 1917 beweist, mehr als eng gesteckt. Der hiesige Magistrat informierte die Bevölkerung, dass in der städtischen Lebensmittelstelle die neuen Milchkarten für Kinder unter sechs Jahren ausgegeben würden. Wann genau man diese Karten bekam, richtete sich nach dem Namen des Händlers, bei dem man seine Ware bezog. Kunden von Milchhändlern mit den Anfangsbuchstaben A-E mussten demnach am Dienstag, 18. Dezember vormittags von acht bis zwölf Uhr, diejenigen mit den Buchstaben F-J nachmittags von ein bis vier Uhr zur Stelle sein und das setzte sich dann bis zum Ende des Alphabets entsprechend fort. Ob jemand zu dieser Zeit vielleicht in der Arbeit war – im Verlauf des Krieges mussten immer mehr Frauen neben der Kindererziehung und Haushalt auch die Familie finanziell über Wasser halten – war dem Gesetzgeber völlig egal, und diese lästige Lauferei hatte man dann ja nicht nur bei Milch, sondern im zunehmenden Verlauf bei praktisch allen Lebensmitteln und Alltagsgütern wie Butter, Textilien, Brennholz, Petroleum oder Kohle. Als erstes Nahrungsmittel war zu Beginn des Jahres 1915 Brot rationiert worden, wobei die Festlegung der jeweiligen Mengen den kommunalen Behörden überlassen wurde. In München gab es damals zum Beispiel pro Mann sieben Kilo Brot bzw. fünf Kilo Brot und drei Pfund Mehl sowie 250 Gramm Reis pro Monat. Im Verlauf des Jahres wurden dann auch Milch und Kartoffeln und bis Ende 1916 Fleisch- und Wurstwaren reichsweit beschränkt. Als dann auch selbst diese beschränkten Mengen nicht mehr vorhanden waren, gingen Lebensmittelproduzenten dazu über, ihre Produkte mit Ersatzstoffen zu versetzen, die im besten Fall nur schlecht schmeckten, teilweise aber sogar gesundheitsgefährdend waren, wie zum Beispiel mit Teerfarbstoffen gefärbte Speisen oder Wurst aus verdorbenem Fleisch.
Ihren Höhepunkt hatte die Versorgungskrise dann im Winter 1916/17 erreicht: Nachdem im Sommer zuvor die Kartoffelernte um die Hälfte zurückgegangen war, wurden massenweise Kohl- bzw. Steckrüben, in Bayern »Dotschen« genannt, ausgegeben. Dieses aus der Familie des Rapses stammende Gemüse ist zwar vitaminreich, aber wenig nahrhaft und musste nun als Ersatz für praktisch alles herhalten, angefangen vom Brotaufstrich über Pudding bis sogar Kaffee, wofür die Rüben geraspelt, im Ofen getrocknet, anschließend in der Kaffeemühle zu Mehl vermahlen und dann wie Kaffeepulver aufgegossen werden sollten. Der Rüben-Muckefuck war in der Bevölkerung jedoch genauso verhasst wie eine im Auftrag der Reichsstelle für Obst und Gemüse hergestellte Marmelade, die den Namen nur auf dem Papier verdiente: Mit künstlichen Stoffen rot gefärbt, bestand dieser Brotaufstrich hauptsächlich aus Wasser und roch dazu auch streng nach Rüben, wobei die als Zutaten angepriesenen Äpfel und Birnen nur in mikroskopisch kleinen Mengen vorhanden waren. In der Presse durfte dieser allseits präsente Mangel – obwohl ihn ja jeder am eigenen Leib zu spüren bekam – nicht thematisiert werden, was Zeitschriften wie den »Simplicissimus« aber nicht davon abhielt, zumindest auf den Witzseiten den einen oder anderen Seitenhieb zu setzen, wie folgendes Beispiel aus der Weihnachtsausgabe vom 25. Dezember 1917 beweist: In einem von Menschen überfüllten Geflügelladen kommt ein Herr an die Reihe, bedient zu werden. Der schlagfertige und redegewandte Inhaber des Geschäfts, schon verärgert durch den Mangel an Waren und den Überfluss an Käufern, fragt nach dem Begehr des Kunden. »Ich möchte gern eine sehr fette Ente haben«, worauf der Händler prompt erwidert: »Da müssen Sie in eine Zeitungsredaktion gehen.« Im Vorfeld von Weihnachten 1917 gab es zwar dann wenigstens die eine oder andere Zusatzration, in Rosenheim zum Beispiel 250 Gramm Zucker pro Person, doch die in Nicht-Kriegszeiten üblichen Backwaren wie Lebkuchen, Kletzenbrot oder Plätzchen ließen sich auch damit nur sehr begrenzt aus dem Ärmel zaubern, und das nicht nur, weil Butter, Zucker, Eier und Mehl knapp waren. Da die Briten schon zu Beginn des Krieges eine Seeblockade errichtet hatten, war das Deutsche Reich schon lange von der Zufuhr überseeischer Gewürze wie Nelken, Vanille und Piment abgeschnitten.
Die katastrophale Versorgung betraf aber nicht nur die Familien zu Hause: spätestens seit dem Winter 1916/17 war auch die Verpflegung der Truppen im Feld so miserabel, dass oft noch nicht einmal mehr die Mengen der »eisernen Ration« abgedeckt waren und die bestand nur aus mageren 250 Gramm Zwieback, 200 Gramm Dosenfleisch, 150 Konservengemüse, 25 Gramm Kaffee und 17 Gramm Zucker pro Tag. Und an Getränken gab es meist nur noch Brackwasser, das nicht nur grauslig schmeckte, sondern wegen der völlig unzureichenden Hygiene im Feld auch mit gefährlichen Keimen verseucht war, weshalb ganze Kompanien von Ruhr, Typhus und anderen Infektionskrankheiten niedergestreckt wurden. Die Familien hatten zwar die Möglichkeit, den Soldaten Pakete zu schicken, doch angesichts der immer leereren Läden an der Heimatfront versiegte auch diese Quelle zunehmend. In der Vorweihnachtszeit 1917 wurde wegen Personalknappheit bei der Militärpost dann sogar eine Sperre für den privaten Paketverkehr erlassen, so dass selbst Angehörige, die noch die eine oder andere Leckerei in petto hatten, ihre Männer nicht mehr unterstützen konnten.
Vereine und Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz bemühten sich allerdings mit öffentlichen Spendenaktionen, den Mangel zumindest bei Gelegenheiten wie Weihnachten auszugleichen, doch zaubern konnten auch sie nicht und selbst die bestgemeinten Gaben konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Krieg ein bisher nicht gekanntes Ausmaß an Not und Elend verursachte, und ein Ende dieses gegenseitigen Mordens war auch im vierten Kriegsjahr nicht in Sicht. Stattdessen erging man sich in Berlin im Dezember 1917 in wehleidiger Propaganda mit dem Tenor, dass Deutschland schon ein Jahr zuvor bereit gewesen wäre, Frieden zu schließen und nur der böse Feind nicht bereit gewesen sei, dieses großzügige Ansinnen anzunehmen. Tatsächlich war das im Dezember 1916 erfolgte Angebot aber von Anfang an so gestrickt, dass es für den Gegner unannehmbar war, da Kaiser Wilhelm II. als oberster deutscher Heerführer nur Forderungen gestellt hatte, seinerseits aber zu keinerlei Zugeständnissen bereit war, wie zum Beispiel die Räumung der belgischen Gebiete, deren Besetzung der Grund für den Eintritt Großbritanniens in den Krieg gewesen war. Die deutsche Bevölkerung kannte aufgrund der strengen Zensur nur die gefilterten Informationen aus Berlin, wobei nicht nur die Berichterstattung in den Tageszeitungen streng überwacht wurde. Auch auf dem Büchermarkt durften nur politisch unkritische und stattdessen patriotisch entsprechend gefärbte Elaborate erscheinen, wie der als »vaterländisches Prachtwerk« angepriesene Doppelband »Unsere Bayern im Felde«, in dem – angeblich reale – Kriegsteilnehmer ihre Erlebnisse schildern. Der Ton der in ich-Form gehaltenen Erzählungen passt allerdings eher zu jungen Burschen auf Schüleraustausch statt zu Frontsoldaten, die in zerlumpter und von Ungeziefer befallener Uniform im eisigkalten Schützengraben kauern und darauf hoffen, dass kein fremdes Geschoss sie zerfetzt: »Heut hat oaner 14 Tag Urlaub kriegt, der is angstaunt und beneidet worden, 14 Tage aus dem Drecksfrankreich außa und zu Leut, vor allem Frauen und Kinder kommen, die deutsch reden, wie das wohl klingen wird … Das Herz hämmert einem bis in den Kopf hinauf, wenn man sich die dereinstige Rückkehr ins Vaterland vorstellt, so man lebt. Jetzt san’s so gut und sagn’s Fräulein J. herzlichsten Dank für die Bücher, da is heut scho a Gelauf drum gewesen, hat sie oaner an Fuaß verstaucht und möchte jetzt lesen. Und jetzt Eahna no vielen Dank vom Vaterland und mir für dös guade Kaserl und an Ihre Eltern, alle Bekannte und Sie vom Huaba Maxl«, ist zum Beispiel im Briefwechsel eines sicher fiktiven Soldaten mit einem gewissen »Fräulein P.« zu lesen. Die hunderttausenden von Gefallenen – allein auf bayerischer Seite sterben rund 200000 Soldaten –, die unzähligen schwer verwundeten, oft fürchterlich verstümmelten Opfer dieses Krieges werden von den Zensur- und Propagandabehörden genauso unter Verschluss gehalten wie die Ereignisse, als britische, französische und deutsche Frontsoldaten 1914 gemeinsam Weihnachten feierten.
An der Westfront waren die Linien damals schon seit Monaten so festgefahren, dass den Truppen hüben wie drüben nichts anderes übrig geblieben war, als sich nach und nach in immer ausgedehnteren Stellungen zu verschanzen und sich aus dem Schützengraben heraus zu beschießen. Heiligabend 1917 verstummten die Waffen dann aber auf beinahe wundersame Weise: »Plötzlich flammten auf den deutschen Grabenwällen Lichter auf. Es waren Kerzen auf geschmückten Christbäumen, ihr Schein strahlte in die frostklare Luft«, beschrieb ein englischer Grenadier den Moment, als die bei Ypern in Belgien stationierten, deutschen Truppen, darunter auch das Hauptkontingent der bayerischen Armee, ihre Maschinengewehre und Granaten beiseite legten. Um die Moral der Truppen zu erhalten, hatte die Oberste Heeresleitung nicht nur dafür gesorgt, dass die Männer im Feld zu Weinachten mit damals noch reichlich vorhandenem Tabak, Alkohol und Lebensmitteln versorgt wurden, sondern es wurden auch zehntausende mit Kugeln, Lametta und Kerzen geschmückte, zusammenklappbare Mini-Christbäume an die Front geschickt. Und deren Lichter leuchteten nun, zum Erstaunen der Briten und Franzosen, in der Dunkelheit auf. Statt nun aber die Kerzen als Wegweiser für mögliche Ziele zu nutzen, beschlossen die Gegner der Deutschen, ihre MGs und Granaten ebenfalls beiseite zu legen.
Als dann tatsächlich auf beiden Seiten keine Schüsse mehr fielen, kamen die ersten zaghaften Rufe aus den Gräben, ob man sich nicht offiziell auf eine Waffenruhe einigen könne, was dann auch tatsächlich geschah. Daraufhin krochen die Soldaten auf beiden Seiten nach und nach aus ihrem Unterstand: »Die Franzmänner winkten ganz freundlich und wir auch. Doch hatte keiner die Schneid, zu uns herüberzugehen. Da machten sich vier Mann von uns auf und gingen hinüber, reichten ihnen die Hand und ein kleines Weihnachtsgeschenk, nämlich einen kleinen Christbaum und eine Schachtel Zigaretten«, berichtet ein bayerischer Kriegsteilnehmer aus Egloffstein über diesen magischen Moment. Bald saßen die Männer, die kurz zuvor noch aufeinander geschossen hatten, in kleinen Grüppchen im Niemandsland zwischen den feindlichen Linien zusammen, zeigten sich gegenseitig Fotos von ihren Familien und leerten die eine oder andere Flasche miteinander. Südlich von Ypern wurde sogar eine gemeinsame Gedenkfeier für die Gefallenen abgehalten, deren Leichname erst jetzt ohne Kugelhagel aus dem Niemandsland geborgen werden konnten. Der Gefreite Josef Wenzl vom Königlich Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment schrieb später an seine Eltern in Schwandorf über jene Nacht: »Unsere Leute zündeten einen mitgebrachten Christbaum an, stellten ihn auf den Wall und läuteten mit Glocken. Es war dies etwas Ergreifendes: Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Man sieht bald, dass der Mensch weiterlebt, auch wenn er nichts mehr kennt in dieser Zeit als Töten und Morden ... Weihnachten 1914 wird mir unvergesslich bleiben.« Das Weihnachtsfest drei Jahre später sollte Josef Wenzl genauso wenig erleben wie das Ende dieses bis dahin verheerendsten Krieges im November 1918. Der Schwandorfer fiel im Mai 1917 in der Nähe von Reims.
Susanne Mittermaier
50/2017