Ein Zufallsfund
Alte Luftaufnahme im Protokollbuch der »Traunsteiner akademischen Studiengenossenschaft«





Natürlich sollte historische Forschung keinesfalls auf Zufälligkeiten aufgebaut sein – im Gegenteil: Umfassendes und konsequentes Studium aller Quellen und der einschlägigen Literatur, Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse, gegebenenfalls die Befragung noch lebender Zeitzeugen sowie die Sichtung und Auswertung des vorhandenen Bildmaterials sind die unabdingbaren Grundlagen, um am Ende eine vernünftige, seriöse und nachprüfbare Arbeit zu einem geschichtlichen Thema präsentieren zu können. Beispiel Familienforschung: Hier ist es erforderlich, sich von der Gegenwart Schritt für Schritt, das heißt Generation für Generation, in die Vergangenheit zurück zu arbeiten, um am Ende eine gesicherte Ahnentafel erstellen zu können, soweit es die Quellensituation zulässt. Sammelt man stattdessen aber einfach nur Personen gleichen Nachnamens, egal, wo immer sie auftauchen, ist eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen diesen dem Zufall geschuldet, die Arbeit somit mehr oder weniger wertlos.
Zufälle eben
Allerdings, jeder historisch Forschende, vom einfachen Heimatforscher bis hin zum bedeutenden Universitätsgelehrten, hat in seinem Leben schon mindestens einmal das Glück gehabt, einen Zufallsfund für sich nutzen zu können. Dass man dieses Phänomen dann auch seiner geneigten Leserschaft kundtut, versteht sich von selbst. »Ein Zufallsfund konnte in der Salzburger Landes-Zeitung von 1855 (…) gemacht werden«, schreibt Friederike Zaisberger in der Einleitung des von ihr herausgegebenen, bemerkenswerten Sammelbandes »Der Russlandfeldzug 1812 und der Salzachkreis«.(1) Der Leser spürt förmlich den Stolz und die Freude der Autorin über dieses unverhoffte Glück, das ihren akribischen Recherchen zu Hilfe kam. Und er spürt wenige Zeilen zuvor die Enttäuschung, wenn sie feststellt: »Aus den folgenden 150 Jahren wurden bisher noch keine Zufallsfunde gemacht«. Warum, so meint man herauszuhören, konnte hier, wo alles mühevolle und langwierige Forschen vergebens war, nicht auch der Zufall seine helfende Hand reichen?
Quellen an Orten, wo man sie nicht vermutet, Berichte, auf die man beim Blättern unvermutet stößt, Fotos, die einem in die Hand fallen, Zufälle eben: Man darf nicht von ihnen abhängig sein, sollte aber stets beherzt und dankbar zugreifen, wenn sie denn einmal auftauchen. Ein aktuelles und in Ansätzen kurioses Beispiel möchte der Autor nun vorstellen; ein erfreuliches Ereignis, das nur leider etwas zu spät eingetreten ist, um noch in die entsprechende Arbeit einfließen zu können. Und so ist dieser Beitrag auch als Richtigstellung einer Einschätzung zu sehen, die von einem Zufallsfund überholt worden ist.
Rückblende
Im letzten Jahr konzipierte das Stadtarchiv unter dem Titel »Über Traunstein« eine Ausstellung, die Luftaufnahmen aus 100 Jahren zeigte. Begleitend dazu erschien das gleichnamige Buch, das nicht nur alte und neue Luftaufnahmen gegenüberstellt, sondern sich auch mit der Geschichte der Luftfahrt in Traunstein befasst und eine Chronologie der ältesten bekannten Luftbilder der Stadt bietet.(2) Vorbereitend wurden dazu weit über 1000 Luftbilder gesichtet und verzeichnet. Als älteste Bilder, die aus einem Flugzeug heraus fotografiert worden waren, kristallisierten sich bald schon fünf »Flug-Postkarten« heraus. Für das Buch wurde folgender Text verfasst:
»1914 – das Jahr lässt sich aus verschiedenen Bildinhalten weitgehend sicher erschließen – war es soweit. Die ersten »Flugzeugaufnahmen von Traunstein« entstanden und wurden als Serie, insgesamt fünf gedruckte »Flug-Postkarten«, von der in München (Sonnenstraße 12) ansässigen »Flugphoto-Verlagsgesellschaft« herausgegeben. Der Verlag, der von vielen Orten ähnliche Motive anbot (Traunstein trägt die laufenden Nummern 502 bis 506), ließ sich diese Neuerung sogar als Deutsches Reichsgebrauchsmuster (D.R.G.M.), ein von 1891 bis 1945 verliehenes »Patent des kleinen Mannes«, auf zehn Jahre schützen. Auf der Rückseite kennzeichnet die abstrakte Darstellung eines Fliegers, der seine Kamera aus dem Flugzeug hält, die für die Briefmarke vorgesehene Stelle. Nicht festgestellt werden konnte, wer der/die Fotograf(en) war(en). Es haben sich zwar Originalaufnahmen erhalten (Seite 6 und Seite 47), diese sind jedoch weder signiert noch datiert. Interessant ist, dass mindestens fünf Traunsteiner Geschäfte diese Postkartenserie in ihrem Sortiment hatten: die Schreibwarenhandlungen Franz Dachs und Karl Ullrich, die Druckerei Anton Miller, die Buchhandlung Magnus Endter sowie das Kaufhaus Franz Unterforsthuber. Die Nachfrage war, so scheint es, groß!«(3)
Wie kam es zu dieser zeitlichen Einordnung auf das Jahr 1914? Vorab, die Rückseiten der Karten boten keinerlei Hilfe. Die Mitteilungen der tatsächlich gelaufenen Exemplare waren nicht datiert, die Poststempel unleserlich oder erst aus den 1930er Jahren stammend. Man konnte sich also nur an Gebäulichkeiten orientieren, und hier bot diese Serie zwei markante Objekte: die bereits vorhandene Wandelhalle an der Haslacher Straße, feierlich eröffnet am 17. August 1913, und das noch vorhandene Karl-Theodor-Sudhaus, gesprengt am 22. April 1924. Frühestens 1913 – spätestens 1924, in diesem Rahmen bewegten sich also diese Aufnahmen. Und, obwohl mehrere Stunden lang weitere Anhaltspunkte gesucht, wurden, es ging auch nicht genauer. Dass in dieser Zeit, vom 1. Weltkrieg über Revolution und Räterepublik bis zur Hyperinflation, »die Bautätigkeit (…) gänzlich darnieder« lag, wie im Verwaltungsbericht der Stadt 1917/18 treffend festgestellt wurde,(4) diese Tatsache kann niemanden verwundern. Das villenartige Wohnhaus St.-Oswald-Straße 19, auf einer der Postkarten ebenfalls gut zu erkennen, war 1913 der letzte nennenswerte Privatbau.
Warum nun 1914 und nicht 1916, 1922 oder irgend ein anderes Jahr? Je älter, je spektakulärer, je besser für das Buch und die Ausstellung? Nein, das war sicher nicht das Argument, das der Entscheidung zu Grunde lag. Vielmehr waren es rationelle, nachvollziehbare Überlegungen. Im Kriegsverlauf hatte man sicher anderes zu tun, als Luftaufnahmen zu produzieren, außerdem hätte wohl irgend etwas auf die Verwendung des Karl-Theodor-Sudhauses als Zivil- und Kriegsgefangenenlager hinweisen müssen. Nach dem Ende des 1. Weltkriegs schränkte der Versailler Vertrag zunächst auch die zivile Luftfahrt stark ein, auch wirtschaftlich waren die Zeiten schlecht. Es war also nur logisch, das Frühjahr 1914 als Entstehungszeitpunkt anzunehmen, zumal sich auch der Baumbewuchs im Bereich der 1913 eröffneten Wandelhalle kaum verändert hatte.
Die Traunsteiner Studiengenossenschaft
Vor einigen Wochen erhielt das Stadtarchiv aus Privatbesitz zwei Protokollbücher der »Traunsteiner akademischen Studiengenossenschaft« als Ergänzung seiner Bestände, ein Vorgang, wie er nicht jeden Tag, aber auch nicht nur alle heiligen Zeiten vorkommt. Immer wieder einmal denken Bürgerinnen und Bürger mit einem Sinn für Heimatgeschichte, oftmals auch Auswärtige mit Traunsteiner Wurzeln, beim Auftauchen alter Unterlagen nicht sofort an den Altpapiercontainer, sondern an das Stadtarchiv. So manches historische Kleinod ist auf diese Weise vor dem endgültigen Verlust bewahrt und ans Tageslicht befördert worden.
»Es war am 19. Januar 1906, als sich im großen Saale des Löwenbräukellers auf Einladung des damaligen cand. arch.(5) Josef Angerer eine Schar Traunsteiner Studenten und Philister(6) zusammenfanden, um dortselbst im Rahmen eines kameradschaftlichen Abends einige frohe Stunden zu erleben. (…) Man kam überein, sich allwöchentlich einmal auf einer Kneipe zu treffen, (…). Von hier aus nahm der »Traunsteiner Abend«, später (in) »Traunsteiner akademische Studiengenossenschaft« umbenannt, seine Entwicklung (…).« Mit dem Ausbruch des 1. Weltkriegs erfuhr diese ein jähes Ende. Josef Angerer (1882-1918), dem unermüdlichen Heimatfreund und geistigen Vater des Traunsteiner Heimathauses, gelang es unter anderem mit der Herausgabe gedruckter »Kriegsnachrichten«, die Grundwerte – Geselligkeit und Kameradschaft – zu bewahren. 1920 wurde die »zwanglose Vereinigung akademisch gebildeter Landsleute aus dem Chiemgau«, so die Satzung von 1908, neu belebt.
Diese Studiengenossenschaft, sie bestand wohl bis hinein in die 1930er Jahre, vor allem die hübschen Illustrationen in ihren Kneipzeitungen, wären alleine schon einen Beitrag wert. Sie näher zu beleuchten, muss aber einem späteren Zeitpunkt vorbehalten bleiben.(7) Die beiden Protokollbücher, Steine des Anstoßes für diesen Aufsatz, dokumentieren in der Hauptsache den Verlauf der jeweiligen geselligen Abende und die dabei anwesenden Personen. Daneben befassen sich die Einträge auch mit dem Zeitgeschehen; beispielsweise schildern sie die Herausgabe von Notgeld, die Ordnungsarbeiten Georg Schierghofers im städtischen Archiv oder den Aufmarsch der Einwohnerwehr zum Chiemgauschießen Anfang September 1920 in Rosenheim. Oftmals sind auch Fotografien oder Postkarten beigeklebt.
Der Pilot Johann Czermak
Und hier wird es interessant. Denn auf Seite 25 des 2. Bandes findet sich eine Luftaufnahme, die sich unschwer als Vorlage für eine der fünf vorgenannten Flug-Postkarten identifizieren lässt. Unterhalb der Abbildung ist handschriftlich vermerkt: »Traunstein aus dem Flugzeug. Aufnahme v. (Graf = gestrichen) Czermak, Ising.« Es handelt sich um Johann Czermak, Sohn des Isinger Schlossgutsbesitzers Leopold Czermak(8), geboren am 16. April 1896, verstorben am 10. Februar 1928, Leutnant der Fliegertruppe a. D., (wohl ab 1917) Jagdflieger und gegen Ende des Krieges für kurze Zeit Angehöriger des legendären Jagdgeschwaders Freiherr von Richthofen.(9)
Da haben wir ihn, den Zufallsfund. Jetzt musste nur noch ein bisschen Recherche dazukommen. Im Gästebuch der Familie Czermak findet sich für den 25./26. April 1920 folgender Eintrag: »Hans, Dolli Schuster und Leutnant Stark im Flugzeug«. Weitere Flüge sind für Anfang Mai notiert.(10) In die Chronologie des Protokollbuches fügt sich das Jahr 1920 ebenfalls ein. Allerdings ist das Bild an dieser Stelle völlig ohne inhaltlichen Bezug allein als dekoratives Objekt eingefügt und könnte durchaus auch schon früher entstanden sein. Dennoch, alle Fakten sprechen dafür, dass es Ende April beziehungsweise Anfang Mai 1920 von Hans Czermak oder einem seiner Mitflieger aufgenommen wurde. Dies darf man mit einigem Recht auch für die vier weiteren Motive der Serie annehmen, die augenscheinlich von einer Hand stammen und zeitlich kaum auseinanderliegen. Wie die Flugphoto-Verlagsgesellschaft zu den Vorlagen gelangte, ist nicht bekannt. Die Briefmarke »Die Saar kehrt heim« sowie der Poststempel auf einem gelaufenen Exemplar(11) belegen jedenfalls, dass die Karten noch 1935 in Verwendung waren.
Somit bedarf schon wenige Monate nach dem Erscheinen eines aufwändig erarbeiteten Buches eine nicht gerade unwesentliche Datierung der Korrektur: 1920, nicht schon 1914, ist die Stadt Traunstein erstmals aus einem Flugzeug heraus fotografiert worden (aus einem Ballon allerdings nach wie vor bereits 1913). Und nein, er ist auch nicht mehr unbekannt, der Fotograf. Hans Czermak hieß der Mann, der es mit den Einschränkungen der Sieger von Versailles scheinbar nicht so genau genommen hatte, wie vom Verfasser bei seinem Datierungsversuch vorausgesetzt.
Ein Fehler? In Anbetracht der neuen Erkenntnisse zweifellos, wenn auch keinesfalls leichtfertig, sondern eigentlich wohlüberlegt begangen. Schade? Nein, eigentlich nicht. Denn zwei Dinge belegt diese heimatkundliche Randnotiz. Geschichte lebt! Immer wieder gibt es unbekannte Quellen, mit denen zu beschäftigen es sich lohnt, die neue Erkenntnisse liefern. Und, um abschließend noch einmal aus dem Sammelband »Der Russlandfeldzug 1812« zu zitieren: Der Forscher genießt bei allen Mühen die »Faszination, die sich stets aus der Beschäftigung mit einer Primärquelle ergibt«.(12)
Franz Haselbeck
Anmerkungen
1 Friederike Zaisberger (Hrsg.), Der Russlandfeldzug 1812 und der Salzachkreis. Schicksale im Krieg und daheim, in: Schriftenreihe des Salzburger Landesarchivs 20, 2013 (Zitate S. 10).
2 Franz Haselbeck, Über Traunstein. Luftaufnahmen aus den Jahren 1913 bis 2012, Traunstein 2012 (144 Seiten, 204 Abbildungen).
3 Haselbeck, Über Traunstein, S. 30.
4 Stadtarchiv Traunstein, A 026/2-1.
5 cand. = candidatus = Student vor der Abschlussprüfung; arch. = architecturae = Architektur.
6 Philister hier nicht im Sinne von Klein- bzw. Spießbürger oder Nicht-Akademiker, sondern als Bezeichnung für »Alten Herren«, wie studentische Verbindungen ihre ins Berufsleben ausscheidenden Mitglieder bezeichnen.
7 Die genannten sowie weitere Unterlagen zur »Studiengenossenschaft« sind im Sammlungsbestand des Stadtarchivs unter den Signaturen DOK 24 sowie DOK 261 (Kneipzeitungen) abgelegt.
8 Gerd Evers, Leopold Czermak und seine Zeit, in: Ising. Geschichte - Quellen - Impressionen, Grabenstätt 1990, S. 80-89.
9 Internet: www.frontflieger.de/ 2-jg1portrait.html (Die Angehörigen des Jagdgeschwaders Freiherr von Richthofen); Zugriff am 21. Mai 2013.
10 Freundliche Auskunft von Herrn Gerd Evers, Ising. Das Gästebuch kann als eine Art Familientagebuch betrachtet werden. Ein Bezug von Johann (Hans) Czermak zur Studiengenossenschaft oder auch zur Stadt Traunstein konnte nicht festgestellt werden. Lediglich Alice Czermak (1887-1961), die Witwe des früh Verstorbenen, zog in ihren letzten Lebensjahren am 7. November 1957 in das Evangelische Altersheim an der Haslacher Straße und verstarb hier am 18. Dezember 1961.
11 Stadtarchiv Traunstein, Sammlung Luftbilder, LB 401.
12 Barbara Koller-Brettenthaler und Fritz Koller, Salzburg und der Salzachkreis in der »Correspondance de Napoléon«, in: Zaisberger (Hrsg.), Der Russlandfeldzug 1812 (wie Anm. 1), S. 59-76 (Zitat S. 60).
27/2013