Jahrgang 2005 Nummer 41

Ein »Nordlicht« in Bayern

Vor 250 Jahren ist Samuel Thomas Soemmerring geboren

Samuel Thomas Soemmerring, Lithographie 1826

Samuel Thomas Soemmerring, Lithographie 1826
Der elektrische Telegraph von Soemmerring, Aquarell von Christian Koeck, München 1809

Der elektrische Telegraph von Soemmerring, Aquarell von Christian Koeck, München 1809
Samuel Thomas Soemmerring, der vor 250 Jahren in Thorn in Westpreussen zur Welt kam, war einer der namhaftesten Mediziner und Naturforscher seiner Zeit. König Maximilian I. Joseph berief den Anatomieprofessor als Leibarzt und Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften nach München, wo er aus nächster Nähe die Schicksale Bayerns unter Napoleon und den tiefgreifenden Wandel des Landes durch Montgelas miterlebte. Seine erst in diesem Jahr veröffentlichten Tagebücher geben einen interessanten Einblick in das Privatleben des Gelehrten, aber auch in das gesellschaftliche Leben Münchens in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Als Soemmerring im Jahre 1805 in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, hatte er schon eine bemerkenswerte wissenschaftliche Karriere hinter sich. Das Interesse an der medizinischen Forschung war ein Erbteil seines Vaters, der in Thorn als Stadtphysikus wirkte und den schon der zehnjährige Samuel Thomas bei Obduktionen über die Schulter sah. Nach dem Studium in Göttingen wurde er Professor für Anatomie und Physiologie in Kassel und später in Mainz und veröffentlichte wichtige Arbeiten über das menschliche Gehirn und das Nervensystem. Seine fünfbändige Ezyklopädie »Vom Bau des menschlichen Körpers« war das bedeutendste deutsche Anatomiebuch seiner Zeit. Auf Soemmerring geht auch die Entdeckung des Gelben Flecks im Auge zurück, der Stelle des deutlichsten Sehens der Netzhaut, weil hier die meisten Sehzellen vorhanden sind. Er experimentierte mit der Kuhpockenimpfung, ließ den ersten mit Gas gefüllten Freiballon steigen, polemisierte gegen die Anwendung der Guillotine und gegen die Korsetts der Damen, weil durch die enge Einschnürung nicht nur die Rippen verformt, sondern auch die inneren Organe in ihrer Funktion geschädigt werden.

Soemmerring stand mit bekannten Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Literatur in Kontakt, darunter mit Kant, Lichtenberg und den Brüdern Humboldt. Eine langjährige Freundschaft verband ihn mit Goethe. Der Dichter hatte ihn für seine Untersuchungen zum Zwischenkieferknochen um Überlassung eines präparierten Elefantenschädels gebeten, weil dessen Stoßzähne im Zwischenkieferknochen sitzen.

In München beschäftigte sich Soemmerring hauptsächlich mit der Paläontologie, der Lehre von den Pflanzen und Tieren vergangener Erdepochen. Die reichen Sammlungen der Bayerischen Akademie boten ihm reichlich Material für seine Untersuchungen. Sechs seiner insgesamt neun paläontologischen Schriften sind in seiner Münchner Zeit zwischen 1805 und 1819 erschienen. Untersuchungsgegenstand waren vor allem fossile Krokodile und Flugsaurier, die er allerdings für Verwandte der Fledermäuse hielt.

Etwas außerhalb seines Fachgebiets begab sich Soemmerring mit der Konstruktion eines Telegrafen, zu der ihn Bayerns allmächtiger Minister Graf Montgelas ermuntert hatte. Die Signalübertragung beruhte nach einer zeitgenössischen Beschreibung auf der durch Strom bewirkten Wasserzersetzung bzw. Gasausscheidung. Die weitere Nutzung der Erfindung wurde jedoch eingestellt, nachdem Napoleon die Erfindung geringschätzig als »une idee germanique« abqualifiziert hatte.

Wie manches andere »Nordlicht« genoss Soemmerring den Aufenthalt in München, weil er allgemein als bedeutender Wissenschaftler anerkannt wurde. Besonders gut verstand er sich mit dem Physiker und Optiker Joseph Fraunhofer, dem Leiter der ursprünglich in Benediktbeuern ansässigen Optischen Betriebe in der bayerischen Landeshauptstadt. Der König ehrte Soemmerring für seine Verdienste durch die Ernennung zum Geheimrat und die Erhebung in den persönlichen Adel, sodass er sich Ritter von Soemmerring nennen durfte.

Mit zunehmendem Alter fühlte sich Soemmerring in München unbehaglich. Seine Frau war gestorben, der einzige Sohn weggezogen, die alten Freunde verloren sich und das rauhe bayerische Klima machte seiner Gesundheit zu schaffen. Er entschloss sich zur Übersiedlung nach Frankfurt, seiner zweiten Heimat. Bis zuletzt betrieb er astronomische Studien und verfolgte die Fortschritte der Paläontologie und der Anatomie. Wenige Wochen vor seinem Tod im April 1828 beschloss er sein bis dahin sorgfältig geführtes Tagebuch mit Datum und Unterschrift, als würde er sein nahes Ende vorausahnen.

JB



41/2005