Ein Bild des Jammers
Die Dornenkrone – evangelische Realität, christliches Zeichen












Gleichgültig, wie abwesend, blickt der im roten Umhang schlaff dasitzende Schmerzensmann zu Boden, obwohl ihm ein Soldat soeben die Dornenkrone aufs Haupt drückt. Zwei weitere Männer stehen da, ein junger mit höhnischer Miene und einem Knüppel in der Hand, und ein alter, als Hohepriester gewandet, dem die Folterung vor seinen Augen anscheinend zu weit geht, sie jedoch nicht verhindern kann. Ein Kapuziner kniet nieder und reicht dem Gepeinigten zaghaft ein Tuch. Dieser hält ein Schilfrohr fest. Geduldig erträgt er, was mit ihm geschieht: Jesus Christus, Gottes Sohn und Mensch.
»Geduld. Geduld, wenn mich falsche Zungen stechen. Leid‘ ich wider meine Schuld Schimpf und Spott, ei, so mag der liebe Gott meines Herzens Unschuld rächen.« (Picander, vertont von J. S. Bach: »Matthäuspassion«, Nr. 40, 41).
Realistisch, beinahe in Lebensgröße, wirkt die Passions-Gruppe von I. Huber (um 1900) im Kreuzgang der Stiftskirche zu Altötting (Abb. 1). Sie zeigt, als eine von mehreren Stationen zur Passion, Jesu Dornenkrönung dar. Dieses Bild des Jammers hält die christliche Kunst seit Jahrhunderten fest. Ein barockes, beidseitig verwendbares Fensterbild aus zarter, vergilbter Naturseide liegt zwischen zwei durchscheinenden Glasplatten (Abb. 2), Der mit einem Kupferstich bedruckte Stoff hat bereits begonnen sich aufzulösen - was die bedauernswerte Hinfälligkeit der Leidensdarstellung auf bedeutsame Weise noch unterstreicht. Das Thema wird hier weniger raubeinig und drastisch, beinahe zurückhaltend, angeschlagen als es die bunt bemalte Stiftskirchen-Plastik sich erdreistet. Christus sitzt nur mit einem Lendentuch bekleidet »in der Rast«, wie der meist skulptural verwendete Bildtypus heißt. Die Geißelsäule steht, mit Peitsche und Rutenbüschel behängt, wie zur Stütze da, wird jedoch nicht beachtet, weder von Christus noch von seiner ebenso anwesenden Mutter. Der Geschundene, zum Kreuzestod Verurteilte, sitzt wieder sinnend, eine Hand auf das Kinn gestützt, in Erwartung seines weiteren Leidenswegs. Maria ist bei ihm, als Mit-Leidende durchbohren ihr Herz sieben Schwerter.
»O Schmerz! Hier zittert das gequälte Herz! Wie sinkt es hin, wie bleicht sein Angesicht! Der Richter führt ihn vor Gericht, da ist kein Trost, kein Helfer nicht. Er leidet alle Höllenqualen, er soll für fremden Raub bezahlen. Ach, könnte meine Liebe dir, mein Heil, dein Zittern und dein Zagen vermindern oder helfen tragen, wie gerne blieb‘ ich hier.« (Ebenda, Nr. 25).
Von allen verlassen blickt der blutüberströmte Gegeißelte, die beiden Umstehenden missachtend, in die Ferne (Abb. 3). Einer der Männer zeigt sich betroffen. Er weist schüchtern auf den Gefesselten. Drei Rot verwendete der vor etwa 200 Jahren am Werk gewesene, anonyme Email-Maler für dieses veritable Herz-«Stück« der Passionszeit. Es war, so klein wie es ist und so kostbar dazu, als Anhänger nicht etwa an einer Halskette, sondern vermutlich am Prunkrosenkranz zu tragen.
Übermäßig groß fällt die Dornenkrone auf einem spätgotischen Kölner Holzrelief aus (Abb. 4). Hier hat sie das frische Grün verloren, das sich auf dem Email-Herz geradezu hoffnungsfroh ausnimmt. Ein knorriges, braunes Geflecht, die Dornen spitz und gefährlich, umgibt das hier zur Seite geneigte Haupt Jesu, dessen Gesichtsfarbe und Hautbeschaffenheit auf Krankheit und Elend weisen. Zusätzlich drückt die vergoldete Bogen-Rahmung des Tafelbildes das Antlitz nieder. Ein erledigter König, einer, dessen Reich nicht von dieser Welt ist. »O Haupt voll Blut und Wunden, voll Schmerz und voller Hohn! O Haupt, zu Spott gebunden mit einer Dornenkron‘. O Haupt, sonst schön gezieret mit höchster Ehr‘ und Zier, jetzt aber hoch schimpfieret, gegrüßet seist du mir!« (ebenda, Nr. 63/1.)
Christi Antlitz grub sich in das Schweißtuch der hilfreichen, weinenden Veronika, die den Kreuzweg säumte, ein - so sieht es lange Zeit die sakrale Kunst. Hier übernimmt die Dornenkrone die Funktion als das einzige Zeichen für des Herrn Leiden, wie es das Kreuz für dessen Tod ist, ein christliches Symbol, das auf der evangelischen Realität fußt. Die beiden seitlich knieenden Engel, die das Schweißtuch von der Größe eines Linnen mahnend hochhalten (Abb. 5), wie es etwa ein kurzzeitig abgestelltes, farbig gefasstes Holztrelief aus dem 19. Jahrhundert in einer kleinen, abseits eines Dorfes auf freiem Feld stehenden Kirche im oberösterreichischen Mühlviertel zeigt, gestikulieren theatralisch. Sie wehren sich gegen das, was Christus angetan wurde. Sie übernehmen die Trauer für die, um derentwillen Christus sein Blut vergoss. Das »Volto Santo« (heiliges Antlitz) wurde zu einer weltweit berühmten Ikone, verwendet auch in den sogenannten Sudarienbildern, die heute noch teilweise besonders in Südtirol und weiter südlich bis Sizilien, zu finden sind.
»Du edles Angesichte, vor dem sonst schrickt und scheut das große Weltgerichte, wie bist du so bespeit! Wie bist du so erbleichet! Wer hat dein Augenlicht, dem sonst kein Licht nicht gleichet, so schändlich zugericht‘?« (ebenda, Nr. 63/2.) .
Auf Golgatha, die »Schädelstätte«, wo der Gekreuzigte zwischen den beiden Schächern sein Leben aushauchte, richtet ein zarter Schwarzscherenschnitt, vielleicht aus der Schweiz vom Ende des 19. Jahrhunderts (Abb. 6) den Blick des Betrachters: Dornengeflecht umgibt die Hügel-Szene, die ohne es desolat wäre. Das stilisierte Gestrüpp umgibt locker, flockig, wie Asparagus, die drei Kreuze, als wollte der Scherenschneider die spektakulärste Todesszene der Weltgeschichte versöhnlich gestalten. Bei genauem Hinsehen meint man, auf Christi Haupt noch die Dornenkrone zu sehen.
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Wir waren vor allem im Matthäus- Evangelium (27; 27 ff.) mit den ersten sechs Bildern. Jesu Dornenkrone war Realgegenstand. Als Marterwerkzeug mit Verspottungstendenz, korrespondierend mit der I.N.R.I.-Tafel, die ans Kreuz geheftet worden war, um »Jesus, den Nazarener als Rex (König) Judaeorum« zu kennzeichnen, fungierte die rund geflochtene Krone. Kein kunstvoll geschmiedetes, mit Edelsteinen besetztes goldenes Insignum der Würde eines großen Herrschers, im Gegenteil: ein jämmerlicher Ersatz aus Naturmaterial, das eigentlich für das Feuer bestimmt ist. Brutalität, Schändlichkeit, Herabstufung. Erniedrigung statt Erhöhung. Entwürdigung statt Verehrung. Christus stirbt als Dornenbekrönter, Gegeißelter, Geschlagener, Bespiener, Geschundener den bittersten Tod.
Die Dornenkrone wurde in der hohen Kunst wie in der Volkskunst zum christlichen Zeichen. Auch ohne das Haupt des Herrn wird sie seit jeher mit diesem assoziiert, wenn sie etwa das »IHS«-Zeichen umschlingt, das über einer üppigen Szenerie aus der Biedermeierzeit mit einem auf dem Kreuz liegenden, halbnackten Jesusknaben (Abb. 7) oder geschmiedet in riesigem Ausmaß auf Eisenstäben schwebt wie auf dem Gelände des Passionsspielhauses von Erl in Tirol (Abb. 8).
Im Zentrum einer feinen Klosterarbeit aus der Mitte des 19. Jahrhunderts (Abb. 9): ein dorniger brauner Zweig eines nicht näher zu definierenden Strauches - platziert als Devotionalie pars pro toto. Gewiss kein echter Teil der Dornenkrone Christi. Ebenso wenig dürfte die vom französischen König Ludwig XI. vor fast 800 Jahren aus Konstantinopel geholte Dornenkronen-Reliquie (heute in der Kathedrale von Notre Dame, Paris) echt sein. - Der Pelikan steht für Jesus Christus selbst, der, wie der Vogel, sein Blut für die Seinen opfert. Auf einem gut 100 Jahre alten Andachtsbildchen (Abb. 10) mit dem Gebetstext »Heil‘ger Pelikan, o süßer Jesu mein, / Mich Unreinen mach‘ in Deinem Blute rein« bildet eine Dornenkrone das Nest für die Brut. Ein treffliches »Imago« für das Geborgensein der Menschen in einem kreisförmig sie umschließenden, allerdings »dornenreichen« Umfeld.
Nicht einfach Stacheldraht, sondern die in Wellen aufgelöste Partie einer Dornenkrone umgibt auf einer Gedenkkarte das KZ Dachau (Abb. 11). Die Karte wurde zum 1. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers 1946 von der US-Militärbehörde gedruckt (Sammlung Ariel Muzicant, Wien). Die Dornen als so schnell nicht verheilende Wunden reißende spitze Stacheln. Schmerz verursachen sie. Wer schon mal Rosen in Händen hielt, deren Dornen noch am Stiel hafteten, spürt die blutigen Risse der Haut. Eine Qual. Keine Folter von der Tragweite, der Jesus ausgesetzt war, die zu seiner Verhöhnung führte: »Ecce homo!« Seht doch, welch ein Mensch! Ein klein wenig von dem Weh, das Jesus erduldete, trifft den von einem Dorn Geritzten.
Wenige Heilige sind eng mit der Dornenkrone verbunden. Die Mystikerin Birgitta von Schweden beschreibt als Seherin Jesu Bekrönung am Kreuz. Achatius, da und dort zu den 14 Nothelfern gehörig, hat einen dornigen Ast als Attribut. Bernhard von Clairvaux 1090 - 1153), Gründer der Zisterzienser, ist stets mit dem Kreuz Christi und Leidenswerkzeugen dargestellt. Auf einem Barockgemälde des ehemaligen Zisterzienserklosters Raitenhaslach (Abb. 12) meditiert der Charismatiker die »Arma Christi«. Die Dornenkrone hält er mit spitzen Fingern so waagerecht, wie sie das Haupt des Erlösers am Kreuz zierte. Von Leid, Sorge und Siechtum aufgerieben, starb der Heilige, nachdem er Kaiser Konrad III. für einen Kreuzzug gewonnen hatte. Auch Bernhard: ein Bild des Jammers.
Dr. Hans Gärtner
12/2013