»Durch vorbitt Unser Lieben Frau«
Salzburgs reichster Schatz an Votivtafeln in Maria Kirchental






Vor gut 200 Jahren war's, als sich der »Königlich Baierische Feld Jeger« Jacob Döckl »zu Unser Lieben Frau in Kirchendall« wandte. »In grester Lebensgefahr« befand er sich, als ihn am Pass Lueg »Tyroler Schizen« in arge Bedrängnis gebracht hatten. »Durch vorbitt Maria von Kirchendall ist er glicklich von ihnen kommen.« So steht's in gut lesbarer, mit dem Pinsel gemalter Schrift auf einer kleinen Holztafel, die Döckl der wundertätigen Gottesmutter in den Loferer Steinbergen stiftete. Das »Verlöbnis« mit einer Votivtafel als äußeres Zeichen des Dankes für erfahrene Hilfe »von oben« ist in Maria Kirchental hunderte Male gegeben worden. Ist also eigentlich nichts Besonderes. Doch die Zusatz-Spende des Votanten ist selten. Der Bayer Döckl legte noch eins drauf: eine »Silberne Kugel«. Der Votivtafelschreiber platzierte sie inmitten der Schriftzeilen. Ist die Kugel hohl oder vollrund? Wer hat sie gefertigt? Wie viel hat der unversehrt dem Kugelregen der »Tyroler Schizen« Entkommene wohl für das kostbare Exemplar berappen müssen? Wir machen uns da unsere Gedanken.
Wir – das sind die Pilger, die heutzutage ins Obere Pinzgau reisen, um einen der schönsten, zwischen sanfte Hügel und schroffe Berge eingebetteten, magischen Orte der Alpenregion zu besuchen. Gewiss sind da nicht nur Hilfesuchende und Dankschuldige unter denen, die allein oder in Gruppen der in der Sonne leuchtenden Kirche mit ihrer hellen Renaissance-Fassade zustreben. Manche kommen aus bloßer Neugier. Sie hörten von einem »optischen Highlight« der Salzburger Alpen. Andere kommen wegen der exzeptionellen sakralen Rarität. Gewiss rechtfertigt die Schönheit des Heiligtums allein schon eine Pilgerfahrt zum Pinzgauer Dom, wie das Gotteshaus von Maria Kirchental nicht ohne Pathos heißt, auf nahezu 900 Metern Seehöhe gelegen, 240 Meter überm Saalachtal.
Die »Kirchenbauern« rund um die Pfarrkirche St. Martin bewirtschafteten einst im Hochtal Wald und Weidegründe. An die Stelle der von ihnen errichteten hölzernen Kapelle kam 1688 eine gemauerte Kirche. Die Pfarrei St. Martin hatte eine gotische Statue, eine sitzende Maria mit Kind, übrig. Die erbaten sich die frommen »Kirchenbauern« für ihre hoch gelegene Holzknechtskapelle. Der von der zauberhaften Gegend begeisterte Fürsterzbischof Johann Ernst Graf Thun aus Salzburg setzte Maria und Jesuskind eine goldene Krone auf, kam mehrmals an den »begnadeten« Ort, der schon vor ihm viele Pilger angezogen hatte und hörte sich eine Wundergeschichte an: Drei Kornähren wuchsen aus der schneebedeckten Wiese gegen den Talschluss hin, worauf es für den Grafen klar war: hierher und nicht an die alte Stelle muss eine neue, um vieles größere Kirche! Kein junger Bursch, kein gestandenes Mannsbild unter den Wallfahrern durften damals ohne Baumaterial mitzutragen ins »Kirchenthal« hoch steigen. Das Kirchenvolk sollte auch Eigenleistung erbringen. Sie wertete die Summe des Salzburger Baugeldes in besonderer Weise auf. Pinzgauer Gemeinden gewährten zudem Kredit. »Z'amm'helfen « machte den Bau der neuen Barockkirche möglich, der sich ab 1694 etliche Jahre hinzog. Warum aber ist das älteste Votivbild auf das Jahr 1690 datiert? Weil schon lange Zeit vor Errichtung und Inbetriebnahme der neuen Wallfahrtskirche Maria Kirchental ein frequentiertes Pilgerziel war. Der gräfliche Fürsterzbischof hatte den Neubau versprochen. Seinem Einsatz, dem Engagement des k. und k. Hofingenieurs Johann Bernhard Fischer von Erlach als Architekt und der Tatkraft des aus St. Martin gebürtigen Maurermeisters Stephan Millinger ist das »Wunder Kirchental« zu danken. Es ist, neben Maria Plain, bis zur Stunde das begehrteste Pilgerziel der Katholiken im Salzburger Land.
In Scharen kommt man 2014 freilich nicht mehr ins Kirchental, das über eine Mautstraße von St. Martin aus zu erreichen ist. Die Blütezeit der Wallfahrt lag hier, wie anderswo auch, zwischen 1750 und 1800. In zwei Bänden sind die Mirakel von Maria Kirchental aufgezeichnet. Sie umfassen die Jahre 1690 bis 1729 (Teil 1) und 1730 bis 1750 (Teil 2). Ein drittes Bändchen zog Wesentliches aus diesen beiden Ausgaben zusammen, raffte vieles und komprimierte die »führnehmsten Wunderthaten der Gnadenfrau in dem Kirchenthale« bis ins Jahr 1778. Aus diesem Büchlein (es ist im Besitz des Schreibers dieser Zeilen) geht hervor, dass – von Aising bis Wurmannsquick – 102 Pilger aus dem nahe gelegenen Bayern Wunderbares durch die Kirchentaler Gottesmutter erfahren durften. Am häufigsten war der Wallfahrerzustrom aus Berchtesgaden, Inzell, Reichenhall, Teisendorf und Traunstein.
Was viele kunsthistorisch und volkskundlich Interessierte nach Maria Kirchental zieht, ist die große Votivtafel- Sammlung. Sie legt Zeugnis ab von Gebetserhörungen, die Gläubige über Jahrzehnte hinweg erfahren durften. An die 1500 bunt bemalte, teils beschriftete, teils nur oder hauptsächlich illustrierte »Taferl« wurden gezählt. Dass sie von Anfang der 2000er Jahre an ein gutes Jahrzehnt lang restauriert werden konnten – und damit fachgerecht konserviert sind, um der Nachwelt erhalten zu bleiben –, ist nicht zuletzt der Münchner Edith-Haberland-Wagner-Stiftung zuzuschreiben. Sie hat sich große Verdienste um die Bewahrung eines einzigartigen, sakralen Kulturguts der Alpenregion erworben, das sie als »größten Bestand historischer Votivbilder in Österreich« bezeichnet.
Die Präsentation der Kirchentaler »Taferl« ist originell. Ein beträchtlicher Teil reicht vom Boden bis dicht unter die Kirchendecke hinter dem offenen, lang nach oben gestreckten Choraltar. Man kann um ihn herumgehen. Nicht alle Votivtafeln sind ohne Weiteres »lesbar«. Dazu hängen die meisten zu weit weg. Die »Geschichten« sind, wie die des Jacob Döckl, in der Regel ziemlich prekär. Wie auch im Mirakelbuch ist von mancherlei seltsamen Geschehnissen unterschiedlicher Menschen die Rede, etwa von einer »WeibsPersohn, welche behafft mit einem verzauberten Zuestand«, von der Inzeller Schuhmachertochter Maria Mayerin, die unter fünf beladene Schlitten geraten oder vom »9-jährigen Söhnlein« des Franz Hiernsperger aus Berchtesgaden, »welches im ganzen Angesichte mit wildem Fleische überwachsen« war. Die Kranken wurden, auf die Fürbitte der Mutter des Herrn – Maria vom Kirchental sei Dank! – gesund.
Vom Kirchen-Museum mit erlesenen Exponaten aus der Wallfahrtsgeschichte führt eine Wendeltreppe zur Fortsetzung der Votivtafel-Schau. Einigen dicht an dicht gedrängten Stücken steht der Besucher unmittelbar gegenüber. Er erfährt in Wort und Bild von weiteren, oft unwahrscheinlich anmutenden Heilungen. Dem verweilenden Betrachter dürfte nicht entgehen, dass manche Votivtafel im nicht restaurierten Zustand belassen wurde. Ein solches »rohes Taferl« ist mit Absicht in seiner alten, wurmstichigen, blassen Ursprünglichkeit verblieben. Einerseits belegt das die Echtheit der Votivbilder, andererseits aber erhöht es den Respekt vor der erfolgreichen Arbeit der Restauratoren.
Die meisten Kirchentaler Votivtafeln schmückt das über dem jeweiligen Votanten und der da und dort geradezu blutigen Ereignis-Szene von Wolken getragene Gnadenbild, die königlich ausstaffierte Gottesmutter mit dem gekrönten Jesuskind. Kein anonymer Votivbildmaler hielt sich in jedem Detail an das »echte« Vorbild, das, im Zentrum des Hochaltars angebracht, sofort den Blick des Besuchers an- und nach oben zieht. Es ist jene Statue aus der alten gotischen Pfarrkirche von St. Martin: Sitzend hält Maria im blauen Mantel das Jesuskind auf den Knien. Auf dessen linker Hand hat ein Distelfink Platz genommen. Der rechte Zeigefinger weist auf ihn. Damit zeigt sich uns Jesus als Freund der Armen und Leidtragenden, all derer also, die in Maria Kirchental aus ihren Nöten erlöst werden wollen.
Vor Aufbruch nach Maria Kirchenthal zog ich ein mir von einem früher in Altötting beheimateten Freund überlassenes, gut 900 Seiten starkes, schön und reich bebildertes Buch zu Rate, um mich über mein Reiseziel kundig zu machen. Titel: »Des Österreichers Wallfahrtsorte«. Verfasser: ein pensionierter Pfarrer des Priester- Kranken- und Defizienten-Instituts zu Wien, Alfred Hoppe. Erschienen: 1913 im Wiener St. Norbertus-Verlag. In dem Ziegelstein-schweren Folianten ist viel über »Kirchental« auf den Seiten 415 bis 419 zu lesen: »Örtliche Lage«, »Anstieg zum Heiligthume«, die Gnadenkirche und ihre Geschichte, 640 Gebetserhörungen in 212 Jahren etc. Nichts Aktuelles, klar, denn das alles wurde vor mehr als einem Jahrhundert zusammengetragen. Die Votivbilder ließ der redselige geistliche Autor links liegen. Dennoch lohnte sich die Lektüre, um über die Entwicklung von »Maria Kirchental« Bescheid zu erhalten. Bevor der Wälzer geschlossen wurde – eine Entdeckung: Links oben auf dem geradezu fein austapezierten Frontispiz befindet sich die handschriftliche Eintragung »Ex libris Hans Strauß – Altötting 1914«. Also ein 100 Jahre altes Relikt ist dieses Wallfahrtsbuch. Ob Hans Strauß in Maria Kirchental war? Oder ob er das Buch – unter anderem – deshalb erworben oder geschenkt bekommen hat, weil er seinen Heimatort Altötting darin als bevorzugteste Pilgerstätte der Österreicher an allererster Stelle genannt und auf sage und schreibe 20 Seiten dargestellt vorfinden konnte? Noch vor Maria Zell? Selten und zugleich selten schön: die den Altötting-Artikel krönende Schluss-Vignette nach Johann Ulrich Krauß, Augsburg 1706, mit dem »Altöttinger Gnadenbild im Skapulier-Gewande«.
Dr. Hans Gärtner
39/2014