Jahrgang 2003 Nummer 11

Die Papyrus-Villa von Herkulaneum bei Neapel

Nach fast 2000 Jahren unter Lavaschlamm kann sie nun wieder besichtigt werden

Fast 2000 Jahre nachdem sie von den Lavamassen des Vesuvs begraben wurde, ist die wegen ihrer antiken Bibliothek einzigartige römische »Villa dei Papiri« für Besucher seit einigen Tagen geöffnet. Die Villa mit den Papyrus-Handschriften kann nach Jahrzehnte langen Ausgrabungen im süditalienischen Herkulaneum bei Neapel besichtigt werden. Das etwa 250 Quadratmeter große Gebäude war beim Vesuv-Ausbruch am 24. August 79 nach Christus, dem auch das nahe gelegene Pompeji zum Opfer fiel, von einer 30 Meter dicken vulkanischen Schlammschicht begraben worden.

An jenem schicksalhaften Tag wurden die beiden blühenden Städte Pompeji und Herkulaneum innerhalb weniger Stunden komplett verschüttet. »...Schon fiel Asche, immer heißer und dichter...der Boden... war rasch mit einem Gemisch aus Asche und Bimstein bedeckt«, beschrieb der römische Schriftgelehrte Plinius der Jüngere den Vesuv- Ausbruch, bei dem tausende Menschen starben.

Die »Villa dei Papiri« war 1750 vom Schweizer Archäologen Karl Weber entdeckt worden. Er stieß bei seinen Grabungen auf einen großen Raum voller Schränke, in denen über 1700 Buchrollen lagen. Erst später erkannte man den Wert jener schwärzlichen Päckchen – die Weber zum Teil achtlos weggeworfen hatte: Es handelte sich um kostbare Werke altgriechischer Philosophen. Sie stellen heute die weltweit einzige erhaltene, fast 2000 Jahre alte römische Bibliothek dar. Diesen Papyrusrollen verdankt die Villa ihren Namen.

Die Villenanlage war im 1. Jahrhundert vor Christus von Lucius Calpurnius Piso, dem Schwiegervater von Julius Caesar, erbaut worden. Zur Zeit des Vesuv-Ausbruchs war er längst gestorben und die Villa in der Hand seiner Erben. Piso galt schon zu Lebzeiten als großer Literatur-Liebhaber und ließ zwei Privatbibliotheken bauen, von denen bisher nur die »griechische« Bibliothek gefunden worden ist. Die zweite Bibliothek mit lateinischen Werken soll in den kommenden Jahren freigelegt werden.

Die Archäologen stießen bisher auf eine Wand, die Tür ist verschüttet. »Wir können die Wand nicht einfach einreißen. Die Gefahr ist viel zu groß, dass kostbare Buchrollen dabei beschädigt werden«, betont die Grabungsleiterin Anna Paola Guidobaldi. »Das größte Hindernis beim Ausgraben ist in Herkulaneum der verhärtete Lavaschlamm, während Pompeji nur von Asche und Bimstein-Bröckchen begraben wurde«, erklärt der archäologische Führer Antonio Esposito.

In der Bibliothek vermuten Forscher sensationelle Schriftstücke. Solche großen Privatbibliotheken wurden gewöhnlich von einem Gelehrten, zum Beispiel einem Philosophen, verwaltet und gepflegt. »Piso's Leidenschaft für Bücher war schon in der Antike bekannt«, berichtet Esposito, »daher sind wir schon sehr gespannt, welche unbekannten Werke wir noch finden werden«.

Die Villa lag direkt am Meer und besaß auch eine kleine Hafenanlage. Das Gebäude brannte bei der Katastrophe nicht aus – wie viele Häuser in Pompeji zum Beispiel – vielmehr wurde sie durch den hart gewordenen Lavaschlamm für fast 2000 Jahre hermetisch versiegelt. »Das erklärt auch den guten Erhaltungszustand vieler Möbel, wie auch der Buchrollen, die sonst zu Asche verbrannt wären«, sagt Guidobaldi. Die gesamte Inneneinrichtung wurde aus Sicherheitsgründen entfernt und soll bald durch Kopien ersetzt werden.

Der Besucher – zugelassen sind nur geführte Gruppen – wandelt 30 Meter unter dem modernen Straßenniveau durch die nahezu perfekt erhaltenen Räume der Villa. Prächtige Wandmalereien und wertvolle Mosaiken zeugen vom Geschmack der Hausherren. Man könnte fast glauben, die Villa sei bis vor kurzem bewohnt gewesen. »Manchmal habe ich das Gefühl, der alte Piso könnte jeden Augenblick um die Ecke kommen und mich fragen, was ich denn hier suche«, lacht Esposito am Schluss des Rundganges.

MS



11/2003