Die Natur als Vorbild und Lehrmeisterin
Ein Beitrag zur Bionik-Ausstellung im Rosenheimer Lokschuppen

Die Oberkiefer des Ameisenlöwen (links) sind wie eine Kombizange (rechts) konstruiert.

Leonardo da Vincis Flugapparat war nach dem Vorbild von Fledermausflügeln konstruiert.

Die Spindelform des Pinguins ist optimal für einen geringen Strömungswiderstand, darunter das Modell eines ähnlich gebauten Flugzeugtyps.
Der für die Londoner Weltausstellung von 1851 gebaute Kristallpalast galt als ein Weltwunder seiner Zeit – ein Pionierwerk der reinen Eisen- und Glasbaukunst. Sein Architekt Joseph Paxton wurde für die geniale Konstruktion in den Adelsstand erhoben. Aber die konstruktive Idee stammte nicht von ihm selbst, sondern sie war der tropischen Teichrose »Victoria amazonica« nachempfunden. Ihre kreisrunden Blattflächen von etwa zwei Meter Durchmesser werden durch einen mehrere Zentimeter hohen Rand so versteift, dass sie ein Kind tragen können.
Die Technik der Vergangenheit machte allerdings nur ausnahmsweise Anleihen bei Vorbildern der Natur. Es fehlte an systematischen Forschungen und an der interdisziplinären Zusammenarbeit von Biologen, Architekten, Physikern und Ingenieuren. Die Botaniker und die Zoologen stellten zwar gelegentlich verschiedene Versuche über technische Großleistungen bei Pflanzen und Tieren an, aber es ging ihnen dabei mehr um die erstaunliche Entsprechung von Bau und Funktion als um eine praktische Verwertung der Gesetzmäßigkeit für den Menschen.
Erst der in den USA entstandene Forschungszweig der Bionik unternimmt planmäßig den Versuch, für die Lösung technischer Probleme Modelle der Natur zu Rate zu ziehen. Das Kunstwort »Bionik« besteht aus den Elementen Biologie und Technik. Die Bioniker erstreben keine unkritische Nachahmung der Natur. Sie suchen nach prinzipiellen Erkenntnissen zu der Frage, wie die Natur ihre Probleme in meist sehr materialsparender und wenig Energie verbrauchender Art gelöst hat. Die Ausstellung »Bionik – Vorbild Natur«, die noch bis zum 23. März im Ausstellungszentrum Lokschuppen in Rosenheim gezeigt wird, erläutert das anhand eindrucksvoller Beispiele. Die Schau wurde vom Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim zusammen mit dem Siemens-Forum (München) entwickelt und war bisher in Berlin, Prag und Wien zu sehen.
Bis in das 19. Jahrhundert war die Kenntnis des Menschen über die Natur sehr lückenhaft. So verwundert es nicht, dass viele menschliche Erfindungen erst spät erfolgten, obwohl die Natur hervorragende Analogiefälle bereithielt. Die Ingenieure und Techniker wussten nichts vom Vorbild.
Während der erste Kompass vermutlich im dritten vorchristlichen Jahrhundert von den Chinesen konstruiert wurde, nutzen manche Schlammbakterien schon seit vielen Jahrmillionen das Magnetfeld der Erde zur Orientierung. Sie besitzen winzige Magnetpartikel aus Eisenoxid, die wie eine Perlenschnur aneinanderliegen. Wird das Wasser aufgewirbelt, dreht das Magnetfeld die Bakterien wie eine Kompassnadel schräg nach oben, so dass sie schnell wieder den Grund erreichen.
Hochinteressante Beispiele der Bionik stammen aus der modernen Medizin. Der von Fledermäusen zur Orientierung angewandte Ultraschall hat bei der Diagnostik von krankem Gewebe Eingang gefunden. Die Echosignale erscheinen als Sonogramme am Bildschirm. Gleichfalls zur Früherkennung von Geschwulstbildungen bedient man sich der Infrarotaufnahme der Haut, um bereits minimale Temperaturerhöhungen zu orten – nach dem Vorbild der Grubenotter. Sie kann nämlich mit ihren Infrarotdetektoren am Kopf auch in der Dunkelheit Beutetiere feststellen, weil diese Wärme abstrahlen. Auch die Reizstromtherapie, mit der Durchblutungsstörungen und Nervenleiden behandelt werden können, hat ein biologisches Vorbild: die auf Kalium-Natrium-Basis arbeitenden elektrischen Felder mancher Meeresfische. Schon Griechen und Römer behandelten übrigens gewisse Krankheiten mit den Elektroimpulsen des Zitterrochens.
Zu den Analogien zwischen Natur und Technik gehören auch die Fallschirme mancher Pflanzensamen, der Propellerantrieb der Ahornfrüchte, der raffinierte Häkchenverschluss der Klette, die Saugnäpfe an den Füßen des Gelbrandkäfers, die Steigeisen der Flöhe, der Bohrer der Holzwespen, das Kugelgelenk mancher Insekten, die zu einer Kombizange umgeformten Oberkiefer des Ameisenlöwen und die Stromlinienform der Pinguine und Delfine. Bisher unerreicht ist die Fähigkeit der Pflanzen, mithilfe des Chlorophylls (Blattgrün) das Potential der Sonnenenergie optimal zu nutzen; die Photovoltaik ist ein erster Schritt in diese Richtung. Die Sonnenstrahlung könnte theoretisch das mehr als Tausendfache des derzeitigen Weltenergiebedarfs decken, wenn der Mensch die raffinierte Nutzung der Sonnenenergie so beherrschen würde, wie das die Pflanzenzelle seit Millionen von Jahren kann.
Die Evolution ist das Ergebnis vieler kleiner und kleinster Schritte. Sie hat immer nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum« gearbeitet, Ungeeignetes wurde ausgeschieden, das Bewährte weiterentwickelt. Dabei sind riesige Zeiträume verstrichen. Heute blicken wir auf rund drei Milliarden Jahre Entwicklung des Lebendigen zurück. Dagegen steht der menschliche Fortschritt dauernd unter Zeitdruck. Mit Tricks kann man dennoch versuchen, der Natur auf die Schliche zu kommen. So nutzte der Bioniker Ingo Rechenberg die Evolutionsstrategie bei der Produktion von Düsenrohren mit Hilfe einer Computersimulation, indem er die Rohrtypen so lange in kleinsten Schritten abänderte, bis sie die gewünschten Eigenschaften aufwiesen. Eine Versuchsreihe, für welche die Natur Millionen gebraucht hätte, wurde auf wenige Stunden zusammengerafft.
Bei der Ergründung der Arbeitsprinzipien der Natur sind der Bionik in den letzten Jahren große Fortschritte gelungen. Das trifft besonders auf das Forschungsgebiet der künstlichen Intelligenz zu, wo es darum geht, intelligente Fähigkeiten wie sprachlichen Ausdruck und visuelle Wahrnehmung auf Computer zu übertragen. Damit stößt die Maschine in die Nähe der menschlichen Gehirnleistungen vor.
In diesem Mikrobereich benötigt eine Schaltung nur noch die Zeit von milliardstel Sekunden. Die elektronischen Schaltelemente werden immer winziger. Experten diskutieren schon ernsthaft die Möglichkeiten, die Schaltungen – auch hier der Natur folgend – wie menschliche Nervenzellen nach chemischen Prinzipien zu konstruieren. Man sieht: Die Bionik hat noch eine große Zukunft vor sich.
JB
5/2003
Die Technik der Vergangenheit machte allerdings nur ausnahmsweise Anleihen bei Vorbildern der Natur. Es fehlte an systematischen Forschungen und an der interdisziplinären Zusammenarbeit von Biologen, Architekten, Physikern und Ingenieuren. Die Botaniker und die Zoologen stellten zwar gelegentlich verschiedene Versuche über technische Großleistungen bei Pflanzen und Tieren an, aber es ging ihnen dabei mehr um die erstaunliche Entsprechung von Bau und Funktion als um eine praktische Verwertung der Gesetzmäßigkeit für den Menschen.
Erst der in den USA entstandene Forschungszweig der Bionik unternimmt planmäßig den Versuch, für die Lösung technischer Probleme Modelle der Natur zu Rate zu ziehen. Das Kunstwort »Bionik« besteht aus den Elementen Biologie und Technik. Die Bioniker erstreben keine unkritische Nachahmung der Natur. Sie suchen nach prinzipiellen Erkenntnissen zu der Frage, wie die Natur ihre Probleme in meist sehr materialsparender und wenig Energie verbrauchender Art gelöst hat. Die Ausstellung »Bionik – Vorbild Natur«, die noch bis zum 23. März im Ausstellungszentrum Lokschuppen in Rosenheim gezeigt wird, erläutert das anhand eindrucksvoller Beispiele. Die Schau wurde vom Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim zusammen mit dem Siemens-Forum (München) entwickelt und war bisher in Berlin, Prag und Wien zu sehen.
Bis in das 19. Jahrhundert war die Kenntnis des Menschen über die Natur sehr lückenhaft. So verwundert es nicht, dass viele menschliche Erfindungen erst spät erfolgten, obwohl die Natur hervorragende Analogiefälle bereithielt. Die Ingenieure und Techniker wussten nichts vom Vorbild.
Während der erste Kompass vermutlich im dritten vorchristlichen Jahrhundert von den Chinesen konstruiert wurde, nutzen manche Schlammbakterien schon seit vielen Jahrmillionen das Magnetfeld der Erde zur Orientierung. Sie besitzen winzige Magnetpartikel aus Eisenoxid, die wie eine Perlenschnur aneinanderliegen. Wird das Wasser aufgewirbelt, dreht das Magnetfeld die Bakterien wie eine Kompassnadel schräg nach oben, so dass sie schnell wieder den Grund erreichen.
Hochinteressante Beispiele der Bionik stammen aus der modernen Medizin. Der von Fledermäusen zur Orientierung angewandte Ultraschall hat bei der Diagnostik von krankem Gewebe Eingang gefunden. Die Echosignale erscheinen als Sonogramme am Bildschirm. Gleichfalls zur Früherkennung von Geschwulstbildungen bedient man sich der Infrarotaufnahme der Haut, um bereits minimale Temperaturerhöhungen zu orten – nach dem Vorbild der Grubenotter. Sie kann nämlich mit ihren Infrarotdetektoren am Kopf auch in der Dunkelheit Beutetiere feststellen, weil diese Wärme abstrahlen. Auch die Reizstromtherapie, mit der Durchblutungsstörungen und Nervenleiden behandelt werden können, hat ein biologisches Vorbild: die auf Kalium-Natrium-Basis arbeitenden elektrischen Felder mancher Meeresfische. Schon Griechen und Römer behandelten übrigens gewisse Krankheiten mit den Elektroimpulsen des Zitterrochens.
Zu den Analogien zwischen Natur und Technik gehören auch die Fallschirme mancher Pflanzensamen, der Propellerantrieb der Ahornfrüchte, der raffinierte Häkchenverschluss der Klette, die Saugnäpfe an den Füßen des Gelbrandkäfers, die Steigeisen der Flöhe, der Bohrer der Holzwespen, das Kugelgelenk mancher Insekten, die zu einer Kombizange umgeformten Oberkiefer des Ameisenlöwen und die Stromlinienform der Pinguine und Delfine. Bisher unerreicht ist die Fähigkeit der Pflanzen, mithilfe des Chlorophylls (Blattgrün) das Potential der Sonnenenergie optimal zu nutzen; die Photovoltaik ist ein erster Schritt in diese Richtung. Die Sonnenstrahlung könnte theoretisch das mehr als Tausendfache des derzeitigen Weltenergiebedarfs decken, wenn der Mensch die raffinierte Nutzung der Sonnenenergie so beherrschen würde, wie das die Pflanzenzelle seit Millionen von Jahren kann.
Die Evolution ist das Ergebnis vieler kleiner und kleinster Schritte. Sie hat immer nach dem Prinzip »Versuch und Irrtum« gearbeitet, Ungeeignetes wurde ausgeschieden, das Bewährte weiterentwickelt. Dabei sind riesige Zeiträume verstrichen. Heute blicken wir auf rund drei Milliarden Jahre Entwicklung des Lebendigen zurück. Dagegen steht der menschliche Fortschritt dauernd unter Zeitdruck. Mit Tricks kann man dennoch versuchen, der Natur auf die Schliche zu kommen. So nutzte der Bioniker Ingo Rechenberg die Evolutionsstrategie bei der Produktion von Düsenrohren mit Hilfe einer Computersimulation, indem er die Rohrtypen so lange in kleinsten Schritten abänderte, bis sie die gewünschten Eigenschaften aufwiesen. Eine Versuchsreihe, für welche die Natur Millionen gebraucht hätte, wurde auf wenige Stunden zusammengerafft.
Bei der Ergründung der Arbeitsprinzipien der Natur sind der Bionik in den letzten Jahren große Fortschritte gelungen. Das trifft besonders auf das Forschungsgebiet der künstlichen Intelligenz zu, wo es darum geht, intelligente Fähigkeiten wie sprachlichen Ausdruck und visuelle Wahrnehmung auf Computer zu übertragen. Damit stößt die Maschine in die Nähe der menschlichen Gehirnleistungen vor.
In diesem Mikrobereich benötigt eine Schaltung nur noch die Zeit von milliardstel Sekunden. Die elektronischen Schaltelemente werden immer winziger. Experten diskutieren schon ernsthaft die Möglichkeiten, die Schaltungen – auch hier der Natur folgend – wie menschliche Nervenzellen nach chemischen Prinzipien zu konstruieren. Man sieht: Die Bionik hat noch eine große Zukunft vor sich.
JB
5/2003