Die Michaels-Grotte fasziniert seit 120 Jahren
Beliebtes und meditatives Wanderziel bei Ruhpolding unterhalb des Hochfellns









Unweit der Steinberg-Alm, etwas versteckt im Gebiet der Strohnalm unterhalb des Hochfellns gelegen, gibt es seit 120 Jahren einen abgeschiedenen Ort, der die Menschen seither in seinen mystisch anmutenden Bann zieht: Es ist die Michaels-Klause, in der Region auch als Michaels- oder Lourdes-Grotte bekannt. Als Entdecker dieser geologischen Formation, die auf den ersten Eindruck den Eingang zu einer Felsenhöhle vermuten lässt, gilt der 1871 in Feldwies geborene Michael Schnellinger. Auf ihn geht auch die sakrale Gestaltung zurück, so wie sie sich heute noch in ihren Grundzügen den vorbeikommenden Wanderern und Naturliebhabern präsentiert. Schilder und verschiedene Ansichtskarten weisen als Entdeckungsdatum den 10. August 1902 aus. Man darf allerdings davon ausgehen, dass diese Felseneinbuchtung bereits vorher schon bekannt gewesen sein dürfte, denn Sennerinnen, Jäger und nicht zuletzt die Zunft der Wilderer waren in jener Zeit sicher mal abseits unterwegs, um auf der Suche nach Almvieh oder einem Stück Wildbret Ausschau zu halten.
Was aber bewegt einen Menschen wie Michael Schnellinger dazu, an dieser markanten Stelle einen solch berührenden Andachtsort zu schaffen, der ihn Zeit seines langen Lebens nicht mehr los lassen sollte und der es heute noch vermag, die Nachwelt in Staunen zu versetzen? War es ein persönliches Gelübde, oder spielten vielleicht Schicksalsschläge, spirituelle Erlebnisse, Krankheit oder sogar Suizidgedanken eine wesentliche Rolle? Flüchtete er letztlich vor der Lebenswirklichkeit hinauf in die Abgeschiedenheit der Berge, um dort eine heile Welt vorzufinden, die seinen Vorstellungen entsprach? Jedenfalls kann man ihm in der Rückschau betrachtet einen gewissen Hang zur Religiosität nicht absprechen. Oder handelte es sich im Grunde doch um eine ausgeprägte Geschäftstüchtigkeit oder Effekthascherei rund um seine Person, wie man sie ihm verschiedentlich nachsagte? Nun, dieser Beitrag, der auf dem Versuch einer aus dem Jahr 1984 verfassten Lebensbeschreibung beruht, soll etwas Licht in das bewegte, unstete Dasein dieses interessanten Chiemgauers bringen.
Geboren ist Michael Schnellinger am 31. März 1871 als Sohn des katholischen Hammerarbeiters Josef Schnellinger (verschiedentlich auch als Schmied, Hammerschmied und Hochofenarbeiter bezeichnet), damals wohnhaft in Eisenärzt, und Maria Schnellinger, Denktochter aus Feldwies, Gemeinde Übersee, wo er noch am selben Tag in der Überseer Pfarrkirche getauft wurde. Taufpriester war Pfarrer Josef Probst Taufpate Michael Wagner, Krämer von Feldwies. Aus der Ehe seiner Eltern, die ein Jahr zuvor in Siegsdorf geheiratet hatten, gingen sieben Kinder (fünf Söhne, zwei Töchter) hervor. Über seine Kindheit und Jugendzeit ist wenig bekannt, nur so viel, dass er nach dem Besuch der Volksschule (wahrscheinlich in Bergen) das Schmiedehandwerk erlernte. Ob in der dortigen Königlichen Maximilianshütte, in der auch sein Vater arbeitete, oder in der Glockenschmiede am Haßlberg bei Ruhpolding, wie er selbst gegenüber späteren Bekannten erzählte, ist nicht sicher. Zumindest wird er nach der Lehrzeit mehrmals mit der Maxhütte in Verbindung gebracht, wo er mehr oder weniger beständig als »Former« sein Brot verdient hat; möglicherweise auch während des Ersten Weltkriegs 1914 bis 1918, denn als Soldat trat Schnellinger offenbar nicht in Erscheinung. Wenn in Unterlagen oder Gesprächen die Rede ist von der »Maxhütte Bergen«, dann ist zu beachten, dass mit dieser Bezeichnung sowohl das ehemalige Eisenhüttenwerk als Betrieb und Arbeitgeber, als auch die Maxhütte als bewohnter Ortsteil von Bergen gemeint sein kann.
Im Januar 1897 heiratete Schnellinger, 26-jährig als »lediger Gütler«, wie es in den Akten des Standesamtes Übersee heißt, die 18-jährige Theresia Lipp aus Traunstein, Dienstmagd in Grassau. Das Gebäudeverzeichnis des Pfarramts Übersee weist ihn zu diesem Zeitpunkt als Besitzer des alten »Denk- oder Laxgangergütl« in Feldwies aus, dem Geburtshaus seiner Mutter. Im Verehelichungszeugnis des Königlichen Bezirksamts Traunstein ist sein Wohnort zwar mit »Feldwies« angegeben, als seine Heimat jedoch »Bergen«. Diese Unterscheidung war damals gängige Praxis und geht auf das »Gesetz über Heimat, Verehelichung und Aufenthalt« zurück, das König Ludwig II. am 16.4.1868 erlassen hatte. Nach diesem Gesetz konnten unter bestimmten Voraussetzungen bei einem Bürger ein Ort der Wohnsitz und gleichzeitig ein anderer Ort die Heimat sein. Entscheidend in solchen Fällen war unter anderem, wo die Eltern das Heimatrecht besaßen. Folgerichtig müssen diese damals in Bergen gewohnt und dort das Heimatrecht besessen haben.
Doch bereits zwei Jahre nach der Hochzeit verkaufte Schnellinger das geerbte Haus und zog im März 1899 mit seiner schwangeren Frau nach München. Dies geht aus einer alten Steuerliste im Stadtarchiv der Landeshauptstadt hervor, die die Neubürger unter der Berufsbezeichnung »Messerschmied und Güterstationsgehilfe« sowie »Falzerin« führten. Noch im Oktober schien das Familienglück perfekt zu sein, als sich mit Tochter Maria Theresia Nachwuchs einstellte. Mit dem Umzug in die Stadt hatte sich das Paar auf Dauer wohl eine bessere Perspektive erhofft als auf dem Land. Offenbar ein Trugschluss: Denn im Dezember 1901 verließ nach fünfjähriger Ehe Theresia Schnellinger mitsamt Tochter ihren Mann; wie es heißt für immer. Ein Schicksalsschlag, der jene entscheidende Wende in seinem weiteren Leben einleitete, der wir die Michaelsklause verdanken. Jedenfalls sprechen die Fakten dafür. Schnellinger verließ nämlich Hals über Kopf München, um für drei Jahre wieder in Bergen zu wohnen, ohne jedoch zur Ruhe zu kommen. Der Verlust seiner kleinen Familie musste den 30-jährigen komplett aus der Bahn eines halbwegs bürgerlichen Lebens geworfen haben. Über »seine« Entdeckung der Grotte kursieren noch heute verschiedene Theorien.
Nachvollziehbar ist jene, dass er auf der Suche nach einem geeigneten Felsen, von dem er sich herabstürzen und seinem jungen Leben ein Ende bereiten wollte, durch überirdische Zeichen auf die Grotte gestoßen sei. Die eigenartige Felspartie, der er später den Namen »Rote Wand« gab, muss eine überwältigende Faszination auf ihn ausgeübt haben, noch dazu, weil ihm plötzlich aus einem Felswulst neben dieser »Roten Wand« ein menschliches Gesicht entgegenblickte, das er »Berggeist« nannte. Anschließend habe er seitlich davon die Grotte entdeckt und aus dem Gefühl seiner Errettung heraus beschlossen, zu Ehren der Gottesmutter eine Lourdes-Grotte mit Einsiedelei einzurichten. Auf diese magische Erscheinung weist auch eine VersTafel in der Klause hin, wo es zum Schluss heißt: »Woher ist dein Name mir bekannt / Das erfragst Du bei der roten Wand.« Weniger dramaturgisch, aber genauso plausibel könnte die Erklärung sein, dass er schutzsuchend vor einem drohenden Unwetter die Grotte entdeckt und darin Unterschlupf gefunden hat. Aber das wäre, zugegeben, fast zu banal.
In dem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass gerade an der Wende zum 20. Jahrhundert in katholischen Gegenden zahlreiche Lourdes-Kapellen entstanden, die die Marienerscheinungen nach dem Vorbild von Massabielle in Südfrankreich szenisch darstellen. In diesen Zeitrahmen fallen beispielsweise die Fischerkapelle (1889), die Dögerlkapelle (1896), beide im Raum Übersee, die Grottenkapelle an der Straße Bergen-Grassau zwischen Egerndach und Avenhausen sowie die Lourdes-Kapelle im Pfarrgarten am Traunsteiner Maxplatz, die erst heuer im April durch einen Brand zerstört wurde. Vielleicht wusste Schnellinger von Berichten über jenen Abbe Bouin, der zur Seherin Bernadette von seiner Absicht gesprochen hatte, als Einsiedler in die Grotte von Lourdes ziehen zu wollen. Zudem war Michael ein glühender Verehrer König Ludwig II., dessen tragisches Ende ihn als Jugendlichen sichtlich bewegt haben muss. Mit Stolz trug er das Bildnis des Märchenkönigs im Hosenträgerkreuz sowie den filigran eingefassten Ludwigstaler an der Uhrkette, wie manche Fotos zeigen. So durfte in der Grotte nie ein Foto des Monarchen fehlen. Eine kolorierte Darstellung mit dem Titel »Der Einsiedler von der Michaelsklause am Hochfelln« zielt wahrscheinlich bewusst auf eine Ähnlichkeit mit dem Wittelsbacher-Regenten ab, der sich bekanntlich, dem politischen Alltag überdrüssig, gerne als Einsiedler in künstlich gestaltete Tropfsteinhöhlen (siehe Neuschwanstein und Linderhof) zurückzog.
All diese Dinge könnten Schnellinger dazu inspiriert haben, die Grotte nach seinen Vorstellungen auszugestalten. Den alten Fotografien nach zu urteilen, war die Madonna die erste und wohl auch für längere Zeit die einzige Figur in der Grotte. Sie dürfte dort zwischen 1902 und 1904, also noch vor der Einweihung der Grotte aufgestellt worden sein. Es heißt, der damalige Freiherr von Cramer-Klett von Hohenaschau, einer der einflussreichsten Industriellen seiner Zeit, habe die Madonna gestiftet. Die später hinzugekommene Bernadette ist nicht dieselbe Figur, die heute in der Grotte vorhanden ist, wie man an Hand der aufbewahrten Ablichtungen feststellen kann. Die Figur des Heiligen Michaels stammt dagegen aus der Werkstatt des Ruhpoldinger Bildhauers Georg Hinterseer in Brand und dürfte in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts geschaffen worden sein.
Nach Schnellingers eigenen Angaben ist die Grotte am 3. Juli 1904 von einem Pater (Wilhelm?) vom Kloster Maria Eck eingeweiht worden, nachdem der damalige Ruhpoldinger Ortsgeistliche diesen Akt verweigerte. Allerdings ist darüber im Klostertagebuch der FranziskanerMinoriten von 1904 keine Eintragung enthalten.
Wenn die Ablehnung zutrifft, dann hat Schnellinger dieses Problem mit einem Trick gelöst: Am 14.6.1904 verließ Pfarrer Joseph Danegger die Pfarrei, sein Nachfolger Joseph Ficker nahm erst im August seinen Dienst auf. Diese kurze pfarrerlose Vakanz könnte Michael als Argument genutzt haben, um doch noch zu »seiner« Einweihung zu kommen. Gesicherte Nachweise darüber existieren allerdings nicht. Sicher ist jedoch, dass er mit viel Herzblut an der Grotte gearbeitet hat.
Vor der Felsspalte rechts der Hauptgrotte brachte er zum Schutz gegen Wind und Kälte einen hausähnlichen Vorbau an, seine »Berghütte«, wie er dieses Bauwerk nannte. Im Innern befanden sich Vorratslager und eine Schlafkiste, die mit Decken und Farnkraut (gegen Rheuma?) ausgelegt war. Meistens jedoch zog er die bequemeren Übernachtungsmöglichkeiten auf den umliegenden Almen vor, erzählten sich die Leute damals. Seine Mahlzeiten bereitete er auf einem eisernen Dreibock zu. Ein Foto gibt darüber Aufschluss, darunter im Bildrand und die in etwas ungelenker Sütterlin-Schrift festgehaltene Einladung »Magst an Holzknechtschmarrn?«. Großen Wert legte er auf Sauberkeit und den passenden Girlandenschmuck aus frischen Latschenzweigen, Silber- und Kugeldisteln, mit dem er das Aussehen der Grotte verschönerte. Außerdem war ihm wichtig, dass im ganzen Umfeld andächtige Stille herrschte. Valentin Zeller, vulgo Matzl Voit, Hornist der Trachtenkapelle D’Miesenbacher, erzählte einmal, dass der Einsiedler dem jungen Ruhpoldinger MusikantenBuam verbot, in der Grotte Musik zu machen und zu schuhplatteln.
In der Zeit von 1905 bis zur Zerstörung der Grotte, die 1937 vermutlich durch nationalsozialistische Anhänger verübt wurde, hielt sich Schnellinger in den Sommermonaten längere Zeit in seiner Klause auf. Die kalte Jahreszeit verbrachte er immer wieder in München, nicht zuletzt auch aus dem Grund, um seine familiären Verhältnisse zu regeln. 1906 erwirkte er die rechtskräftige Scheidung von seiner Frau Theresia. Im Scheidungsurteil wird der damals 35-jährige als Invalide bezeichnet, in der Folgezeit in den Steuerlisten als »Ausgeher« (Bote) und Einkassierer in der Kriegsopferbewegung, für die er im hohen Alter eine Auszeichnung erhielt. Welche körperlichen Beeinträchtigungen letztlich zur Berufsunfähigkeit führten, blieb wie vieles im Leben Schnellingers ambivalent und widersprüchlich. Zeitzeugen bestätigten jedenfalls, er sei immer gut zu Fuß gewesen.
1912 musste er einen weiteren Schicksalsschlag hinnehmen, als seine 13-jährige Tochter bei einem tragischen Bootsunfall ums Leben kam. Man kann sich vorstellen, dass dieser Einschnitt seine Rastlosigkeit weiter steigerte, die ihn zwischen seiner Chiemgauer Heimat und München hin und her pendeln ließ. Denn so richtig sesshaft wurde Schnellinger nie. In all den Jahren blieb aber die Naturfelsengrotte sein spiritueller Mittelpunkt und zugleich seine Geldquelle. Schon früh, etwa ab 1902 wusste er sie mit dem Verkauf von Bildpostkarten, teilweise vom Verlag Nikolaus Redwitz in Frauenornau, aber auch im Eigenverlag (!) editiert, einträglich zu vermarkten. Dabei bewies er eine bemerkenswerte Kreativität, zumal er zwischenzeitlich auch eine Kamera besaß und damit experimentierte. Den Tod der Tochter Maria versuchte er mit einer raffinierten Fotomontage zu verarbeiten: Das ertrunkene Mädchen schwebt eng umschlungen mit einem Engel über der abgebildeten Unglücksstelle geradewegs in den Himmel. Als Vorlage diente ihm wohl Wilhelm von Kaulbachs berühmtes Gemälde mit dem Titel »Zu Gott«, ein beliebtes Motiv für Kinder-Sterbebilder.
In der Beschreibung seines Aussteiger-Lebens kommen noch viele Begebenheiten und Stationen zur Sprache, wobei man sich manches Schmunzeln und Kopfschütteln nicht verkneifen kann. Eine Geschichte soll stellvertretend herausgegriffen sein. 1942 übersiedelte Schnellinger, mittlerweile 71 Jahre alt, als »Bombenflüchtling« in die Ramsau bei Berchtesgaden, später dann zu einem entfernten Verwandten in das Lauchlehen in Maria Gern. Dort begann er als selbst ernannter »Kräuter-Doktor« eine bescheidene Karriere zu machen, indem er verschiedene Kräuter-Präparate unter dem hochtrabenden Logo »Kräuterhaus Neuschwanstein« an seine Kundschaft verhökerte. Mit durchschlagendem Erfolg: So soll die Hauptdarstellerin im Film »Geierwally«, Heidemarie Hatheyer, ganze siebzig (!) Flaschen Arnikageist gekauft haben.
Anfang 1956, in seinem 85. Lebensjahr, wurde Michael Schnellinger bettlägerig und in die damalige Heil- und Pflegeanstalt nach Gabersee gebracht, wo er am 11. März 1956 verstarb. Wie es ausdrücklich heißt, sei er nicht »narrisch« gewesen, sondern geplagt von starkem Rheuma und anderen Leiden. Zudem wollte man ausschließen, dass seine hölzerne Krankenstube durch brennende Kerzen in Brand gerät. Sein Grab ist im November 1976 aufgelassen worden.
Zum Schluss sei noch erwähnt, dass es der Familie von Edi und Gitti Gnadl aus Surberg zu verdanken ist, die sich als Pächter des Oberleiter-Kasers auf der Strohnalm über vierzig Jahre lang gleichzeitig auch um den Erhalt und die Pflege der Grotte gekümmert hat. Erhard Hiebl und seine Angehörigen haben diese Aufgabe freundlicherweise übernommen und bereits anstehende Instandsetzungsarbeiten ausgeführt. Sicherlich wird es auch weiterhin zu verschiedenen Anlässen Gottesdienste und Gedenkfeiern geben, wie 1981 anlässlich der Einweihung des vom verstorbenen Ruhpoldinger Erwin Poller geschaffenen Gipfelkreuzes auf der Strohnschneid. Von ihm stammen sowohl das stilvolle Kreuz mit der ausdrucksstarken Figur des Gekreuzigten als auch der hölzerne Grotten-Altar. Den folgenden Text, der sich zum Ende der interessanten Lebensbeschreibung findet, könnte man als passendes Vermächtnis Schnellingers ins Besucher-Buch schreiben. So, als käme er direkt aus seinem Munde:
Die Michaels-Grotte ist ein Ort, den Menschen in Not mit Hoffnung auf Hilfe aufsuchen, an dem sie betend und bittend verweilen und den sie getröstet verlassen. Sie ist aber auch ein Platz, an den sich frohe Menschen mit Dankbarkeit im Herzen begeben.
Ludwig Schick
41/2022