Jahrgang 2003 Nummer 21

Die Herreninsel im Chiemsee

Einsame Wege zum ehemaligen Kloster im alten Schloss

Ansicht des Klosters nach einem Wandgemälde von Franz Tiefenbrunner 1770.

Ansicht des Klosters nach einem Wandgemälde von Franz Tiefenbrunner 1770.
Die Klosterkirche wurde als Brauhaus genutzt.

Die Klosterkirche wurde als Brauhaus genutzt.
Klostergebäude des Augustiner-Chorherrn-Stiftes.

Klostergebäude des Augustiner-Chorherrn-Stiftes.
Wer von Stock-Prien aus mit dem Schiff die Herreninsel ansteuert, hat in der Regel den Besuch des Ludwig-Schlosses im Sinn. Für viele ist das Schloss Ludwigs II. noch immer ein Erlebnis. Ob die Imitation der barocken Architektur, die aufwendigen Zierformen der Bilder, Spiegel und Figuren nun als Kunst hoch gepriesen oder als Imitation verachtet wird, das Schloss ist Ziel eines nie abreiflenden Touristenstromes und damit eine sichere Einnahmequelle. Hätte Ludwig für den Bau des Schlosses einen Kredit aufgenommen, wäre dieser längst abbezahlt.

Begegnung mit König Ludwig II. im Park

Heute haben wir uns keine Schlossbesichtigung vorgenommen. Die Herreninsel hat noch viele Kostbarkeiten zu bieten, die es zu entdecken gilt. Auf der Suche nach den verborgenen Schönheiten der Insel machen wir uns auf den Weg und wenden uns gleich nach der Schiffsanlegestelle nach rechts zu der auf einer Landspitze gelegenen Seekapelle. Zwei Stunden lang werden wir nun unterwegs sein in einem Laubwald mit uralten Bäumen eines Naturparks von 230 Hektar Gröfle. Der Weg führt an Äckern, Wiesen und Viehkoppeln vorbei. Über den der Insel vorgelagerten Schilfgürtel schweift der Blick über den See zu den Chiemgauer Bergen vom Wendelstein bis zum Hochfelln. Im Osten schlieflt sich die Ketten der Berchtesgadener Alpen mit dem Zwiesel und dem Hochstaufen an. Schatten spenden Laubbäume, unter denen Buchen, Eichen, Ulmen und Linden zu finden sind. Bäume, deren mächtigen Stammumfang auf ihr hohes Alter schlieflen lässt. Vereinzelt mischen sich auch Nadelbäume unter den Bestand.

Die Insel war schon zu Lebzeiten Ludwigs dicht bewaldet. 1873 hatten Holzeinkäufer die Absicht, den Baumbestand abzuholzen und wirtschaftlich zu verwerten. Ludwig II. hat dies durch den Ankauf der Insel verhindert. So ist dem König nicht nur das Schloss sondern auch der Erhalt des urwüchsigen Baumbestandes zu verdanken. Wir sind ein gutes Wegstück weitergewandert, aufmerksam alles beachtend, was da am Rande des Wegs wächst und gedeiht. Seltene Pflanzen haben sich auf der von den Umweltschäden unserer Tage fast unberührten Insel erhalten. Ihre exponierte Lage im See hat die Insel einem Gletscher zu verdanken, der sich in der Eiszeit vom Gebirge her über das Vorland erstreckte und beim Abschmelzen das Bett des Chiemsees und der vielen kleinen Seen ausschob. Härtere Gesteinsschichten widerstanden dem Gletscher und blieben als Inseln erhalten.

Unvermittelt endet unser Weg am Kanal, der den Blick auf die Hauptfassade des Schlosses lenkt. Für das in der Mitte der Insel gelegene Schloss sollte ein Zugang zum See von beiden Seiten her offen gehalten werden. Der Kanal ist nicht fertig geworden. Auch das Schloss, in dem Ludwig II. das Versailles Ludwigs XIV. von Frankreich nachbauen wollte, ist auch ein Torso geblieben. Nach der Vorstellung des Königs sollte Versailles in seiner ganzen Größe auf der Insel neu entstehen. Im 18. Jahrhundert, in dem die Kopie alter Stile beliebt war und in Neuromanik, Neugotik und Neubarock auch in den Schlössern Ludwigs zu finden ist, war der Nachbau eines Schlosses durchaus nicht ungewöhnlich. Allein die Dimension des Versailler Schlosses hätten den landschaftliches Rahmen der Insel gesprengt. Ludwig dachte aber nur in außergewöhnlichen Dimensionen.

Der einsame König und der Latonabrunnen

Nach der Umgehung des Kanals erreichen wir in einer guten halben Stunde den südlichsten Punkt der Insel, der in der Karte als »Ottosruhe« eingetragen ist und mit einer von einem Holzschirm überdachten Bank zur Rast einlädt. Der Name erinnert an Otto, den unglücklichen Bruder des Königs, der schon mit 23 Jahren einer Geisteskrankheit verfiel und im Schloss Fürstenried unter ärztlicher Aufsicht gehalten wurde. Vom Rastplatz aus auf dem erhöhten Ufer der Insel bietet sich ein reizvoller Blick auf den See und die Berge. Gerade hier können wir nachempfinden, wie sehr die Berge und der See diese Landschaft prägen und ihren besonderen Reiz ausmachen. Im nahen Wald finden sich die Reste einer keltischen Wallanlage, die auf eine frühgeschichtliche Besiedlung der Insel schließen lassen. Die in jüngster Zeit entdeckten Tonscherben in der Nähe des Keltenwalles erhärten die These einer keltischen Siedlung auf Herrenchiemsee.

Unser Wanderweg führt uns am Südufer der Insel entlang. Nach einer weiteren halben Stunde werden wir den Aussichtspunkt »Paulsruhe« erreichen, der mit der »Ottosruhe« vergleichbar wieder einen reizvollen Blick auf den See und die Berge bietet, wobei diesmal die östlichen Berge im Vordergrund stehen. Falls wir einer Abkürzung den Vorzug geben, wenden wir uns in der Mitte der Insel einem bezeichneten Weg zu, der uns direkt zum Schloss führt. Durch die Bäume dringt schon das Sprudeln der Wasserfontainen und verrät die Nähe des Schlosses.

Auf unserer Inselumrundung sind wir gerade zwei Wanderern begegnet, obwohl der Sommertag zum Wandern einlud. Wir denken darüber nach, was Ludwig II. bewogen haben mag, gerade auf dieser weltfernen Insel sein ÑVersaillesì zu bauen. Das war auch damals äußerst ungewöhnlich. Die bayerischen Könige bauten ihrer Schlösser in der Landeshauptstadt. Sein Großvater Ludwig I. und sein Vater Maximilian II. haben dies so gesehen und München nach ihren Vorstellungen baulich gestaltet. Aber Ludwig II. liebte die Einsamkeit, weit weg vom Volk, das ihm die Regierung anvertraut hatte. Das hatte sicher auch eine krankhafte Komponente und war für die Lebenslinie Ludwigs bezeichnend, der einmal von sich eingestanden hat: »Ein Geheimnis will ich bleiben, mir und der Welt.«

So findet unser Wanderweg bei den Brunnen vor dem Schloss vorläufig sein Ende. Da die Brunnen gerade sprudeln und angenehm kühlende Frische spenden, wollen wir ein wenig verweilen und den Latonabrunnen in der Mitte der Anlage betrachten. Er zeigt die griechische Göttin Latona, umgeben von Bauern und Fröschen. Wieder ein Bild für den eigenwilligen König. Die Sage erzählt, dass die Göttin Latona Bauern, die sie begafften und verspotteten, in Frösche verwandelte. So dachte Ludwig über die lästigen Besucher, die er aus der ihm allein vorbehaltenen Märchenwelt verbannt wissen wollte. Ein Glück, dass der König das Gedränge der Besucher bei den heutigen Schlossführungen nicht erlebt hat.

Vom Tassilo-Kloster zu den Augustinern

Nun wollen wir den König in seinem Schloss allein lassen und uns dem alten Schloss zuwenden, das uns viel über die Geschichte der Insel verrät. Schon der Name »Herreninsel« erinnert an die Klostergründung durch den Agilolfinger Herzog Tassilo III. 765. Ebenso wie auf der Fraueninsel hatte der Bayernherzog die Absicht, mit der Ansiedlung von Benediktinerinnen bzw. von männlichen Angehörigen dieses Ordens, das ihm zu Lehen gegebene Land zu kolonisieren und damit für eine Besiedlung nutzbar zu machen. Dass er für die Klöster Inseln ausgesucht hatte, ist aus deren Schutzfunktion zu erklären. Die Abwehr feindlicher Angriffe galt es zum ersten Mal zu erproben, als 908 die Ungarn plündernd und mordend ins Land einfielen und auch das Inselkloster zerstörten.

Das Benediktinerkloster, zu dem auch eine kleine Kirche gehörte, wurde vollständig zerstört. Nachdem die Mönche vertrieben waren, erlosch das Leben auf der Insel. Aber der Grundstock für eine Besiedlung war nun einmal gelegt. Zwei Jahrhunderte gingen ins Land, bis Erzbischof Konrad von Salzburg 1122 mit der Gründung des Augustiner Chorherrnstiftes einen neuen Ansatzpunkt für die Besiedlung des Landes am See schuf. Die Augustiner, denen die seelsorgerische Betreuung der Bevölkerung des Umlandes besonders am Herzen lag, zeigten sich auch geneigt, die von den Benediktinern begonnene Kolonisieren des Landes fortzusetzen.

Das Kloster stand bereits an der Stelle, an der wir noch heute das als »Altes Schloss« bezeichnete Bauwerk vorfinden. Das Wesen eines Stiftes bestand darin, dass Gläubige ihr Vermögen schon zu Lebzeiten oder durch Testament von Todes wegen um ihres Selenheils willen dem Kloster vermachten. Gleich mit der Gründung hatte der Erzbischof zusammen mit adeligen Stiftern dem Kloster großzügig Ländereien vermacht, die sich bis nach Südtirol erstreckten. So konnte das Kloster, der Zeit und dem Vermögen angepasst, seine Bauten im Geviert des Klosters erweitern.

Michael Wening hat uns um 1700 einen Kupferstich geschenkt, aus dem wir ein recht umfassendes Bild des alten Chiemseeklosters der Augustiner gewinnen können. Das im Viereck angelegte Kloster schloss auch die Kirche mit ihren beiden Türmen mit ein. Wie eine mächtige Festung, von Ecktürmen gerahmt und von Gärten umgeben, liegt das Kloster auf einem dem See zugewandten Bergrücken, der gleichzeitig der höchste Punkt der Insel ist. Einige Wirtschaftsgebäude schließen sich dem Klosterkomplex an. Neben dem Inseldom fällt noch eine kleine gotische Kirche auf, die nach dem Wening-Stich einst inmitten des Klosterfriedhofes lag. Die Kirche galt als Pfarrkirche der Inselgemeinden und blieb deswegen von der Säkularisation verschont.

Archidiakonat und Bistum Chiemsee

Wenn wir das Bild auf dem Wening-Stich mit dem heutigen baulichen Bestand vergleichen, dann wird uns das ganze zerstörerische Ausmaß der Säkularisation erst richtig bewusst. Wir folgen dem Wegweiser zum ÑMuseum im Alten Schlossì, wo uns eine Ausstellung auch in die Geschichte des Inselklosters einführt. 1130 erhob Erzbischof Konrad von Salzburg das Augustinerstift zum Archidiakonat. Dem Archidiakon, der gleichzeitig Propst des Klosters war, waren vom Erzbischof kirchenrechtliche Befugnisse übertragen worden, zu denen auch die Einsetzung von Priestern in ihren Pfarreien, deren Visitation und eventuell notwendige Strafgewalt gehörten. Der Sprengel des Archidiakonats erstreckte sich über das Inntal bis zum Brenner.

Ein zweiter Höhepunkt in der Geschichte des Klosters war die Gründung des Bistums Chiemsee durch den Salzburger Erzbischof Eberhard II. 1215. Dem Salzburger Erzbischof war es bei der riesigen Ausdehnung des Erzbistums wohl nicht mehr möglich, seine bischöflichen Funktionen ordnungsgemäß wahrzunehmen, so dass neben Chiemsee noch Gurk, Lavant und Seckau als selbständige Bistümer eingerichtet wurden. Die Bischöfe dieser Bistümer hatten zwar durchaus eigenständige Funktionen, unterstanden aber gleichwohl direkt dem Salzburger Erzbischof. Der Bischof von Chiemsee hatte seinen Amtssitz im Chiemseehof in Salzburg, dem heutigen Sitz der Salzburger Landesregierung. In der Klosterkirche auf Herrenchiemsee, die den Augustinern gehörte, stand ihm nur sein Bischofsthron zu. Die Grenzen des Bistums verliefen vom Chiemsee »bis zum Pass Thurn in Tirol und über das Achental zum Chiemsee.« Festschrift S. 7 45 Bischöfe residierten auf dem Chiemseer Bischofsthron, bis die Säkularisation 1803 auch diesem Bistum ein Ende bereitete.

Im Barock erlebte das Augustinerstift, wie viele andere Klöster in Bayern, eine Blütezeit. Propst Jakobus Mayr ließ um 1710 den Kaisersaal durch Benedikt Albrecht aus München ausmalen. »Der Kaisersaal gehört zu den schönsten und repräsentativsten Schöpfungen des frühen 18. Jahrhunderts. Die Wände sind ganz mit Figuren und Architekturmalerei bedeckt, die Türen ziert verschwenderisch reiche Reliefschnitzerei.« ( Alois Weichselgartner a. a. O.). Johann Baptist Zimmermann aus Wessobrunn, stattete den Bibliothekssaal des Klosters in feinstem Rokoko aus. Obwohl dieser Saal die verschwenderische Pracht des Kaisersaal nicht erreicht, lässt er doch die Gestaltungskraft der Künstler jener Zeit erahnen, die auch hinter Klostermauern in der Kunst die Fülle des Lebens sahen.

Neben dem Kloster wurde auch der ursprüngliche gotische Dom im Geiste des Barocks großzügig umgebaut und dem Zeitgeschmack entsprechend ausgestattet. Licht, Farbe und vielfältige Formen prägten den Chiemseer Dom und machten ihn zu einem Muster spätbarocker Kirchenbaukunst. Der Baumeister Lorenzo Sciasca, der Stuckateur Giulio Zuccalli und der Freskomaler Joseph Eder lieferten einen Beweis ihres meisterlichen Könnens.

Die Zerstörung der Säkularisation

Nur knapp ein Jahrhundert lang überdauerte der barocke Glanz von Kloster und Kirche, bis die Säkularisation alles zerstörte. 1803 wurde das Augustiner Chorherrnstift aufgehoben. Die Klostergebäude und die Kirche wurden versteigert. Die privaten Nachbesitzer entschlossen sich zur konsequenten Zerstörung der Gebäude und zur Verschleuderung der Einrichtung. Die beiden Kirchtürme wurden abgebrochen. Im Langhaus wurde ein Zwischengeschoss eingezogen. Die Kirche wurde zu einem Brauhaus umfunktioniert.

Die Säkularisation ist ein tiefer Einschnitt in die Kultur- und Kunstgeschichte unseres Landes. Was in Herrenchiemsee von privater Hand mit staatlicher Duldung an Zerstörung angerichtet wurde, sucht seinesgleichen. Ein blindwütiger Sadismus trieb offensichtlich primitive Geister zur sinnlosen Zerstörung unersetzlicher Kunstwerke. Obwohl im Stift schon eine Brauerei vorhanden war, ließ man sich für den barocken Inseldom nichts anderes einfallen als die Umwandlung in ein Brau- und Sudhaus.

Der Verfassungssaal im Alten Schloss

Im Schloss-Museum treffen wir auch wieder auf König Ludwig II., der sich hier zwei Zimmer einrichten ließ, um den Fortgang der Bauarbeiten an seinem Schloss beobachten zu können. Neben einem Schlafzimmer ist ein Empfangszimmer mit barockem Mobiliar eingerichtet. Der Grundstein zum Neuen Schloss wurde am 21. Mai 1878 gelegt. Erst seit September 1881 bewohnte Ludwig die im Alten Schloss eingerichteten Räume. Kurz nachdem der König zum ersten und einzigen Mal im September 1885 in seinem Schloss gewohnt hatte, mussten die Bauarbeiten aus Geldmangel leingestellt werden.

Eigenartig ist es schon, dass der König, der die alte barocke Herrlichkeit, wenn auch durch die Säkularisation geschändet, im Kloster und in der Kirche vor sich sah, in unmittelbarer Nachbarschaft ein Schloss bauen ließ, in dem eben dieser Barockstil nur nachgeahmt wurde. Wollte Ludwig das wieder gutmachen, was seine Vorfahren vor knapp einem dreiviertel Jahrhundert kaputt gemacht hatten? Aber vielleicht dachte Ludwig in seiner Begeisterung für das französische Barock gar nicht so weit.

Als Ludwig voller Ungeduld im Alten Schloss der Bauvollendung seines Schlosses entgegenfieberte, hätte er es sich wohl nicht träumen lassen, dass in dem mit Eichenholz getäfelten Saal gleich nebenan nur 62 Jahre später die verfassungsrechtlichen Grundlagen für ein neues Deutschland gelegt wurden. Der Verfassungs-konvent von Herrenchiemsee breitete 1948 unter Beteiligung namhafter Politiker und Wissenschaftler den Bericht zur redaktionellen Fassung des Grundgesetzes vor, der dann als Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland im Mai 1949 in Kraft gesetzt wurde.

So umspannt die Insel auf einer kleinen Fläche Zeugnisse einer großen Vergangenheit von der keltischen Frühzeit bis zu den Anfängen der Verfassung unseres Landes. Und nicht nur in der geographischen Mitte der Insel liegt das unvollendete Schloss Ludwigs II., in das sich als Märchenkönig zurückzog. König Ludwig ist eben noch öfters auf seiner Insel anzutreffen, wenigstens in seinen Gedanken und Träumen.

DD

Verwendete Literatur:
Alois Weichselgartner »Das andere Chiemsee« Unser Bayern. Beilage der Bayerischen Staatszeitung August 1978. »Kloster und Domstift Herrenchiemsee« Festschrift der Freunde von Herrenchiemsee 1982.



21/2003