Die Geschichte der Zementfabrik Kroher in Staudach
Seminararbeit am LSH Marquartstein zum Thema Industrialisierung im Achental

Zementwerk in der Hadergasse.

Warentransport um 1860

Bahnbedienstete in Übersee um 1900
Das Zementwerk und der Steinbruch in Staudach im Chiemgau haben eine bemerkenswerte Geschichte. Einem Mann ist es zu verdanken, dass der Ort – zumindest in Fachkreisen der Beton- und Zementindustrie – eine gewisse Bekanntheit erlangte. Irgendwann im Jahr 1844 wurde das Dach einer kleinen Hütte gedeckt, jedoch nicht mit den uns heute wohl bekannten Tondachziegeln. Eben dieses Dach war das erste Staudachs, Deutschlands und vielleicht sogar der Welt, welches mit Betondachziegeln aus dem später so berühmten Staudacher Zement gedeckt wurde. Diese Ziegel waren so stabil und haltbar, dass sogar heute noch einige davon existieren. Diese über 160 Jahre alten Ziegel sind weder spröde noch verfallen.
Als ich Erika Müller-Tolk, die Urenkelin des Firmengründers Adolph Kroher besuchte, erzählte sie trotz ihres kürzlichen viermonatigen Krankenhausaufenthaltes voller Begeisterung von den Errungenschaften ihrer Vorfahren. Allen voran war es ihr Urgroßvater Adolph Kroher, der die Zementherstellung revolutionierte. Er war nach Aussage von Frau Müller-Tolk der Erste, der Betondachziegel herstellte und vermarktete.
Ein weiteres Indiz für die Qualität des Zements war seine Stabilität. Zum Bau des Hochwasserschutzes an der Tiroler Ache in Staudach und Grassau wurde dieser Zement ebenfalls verwendet. Als der Schutzwall erneuert und vergrößert werden sollte, sahen die Pläne vor, die alte Schutzmauer einzureißen. Bei der Planung dieses Projekts hatte man jedoch nicht mit der enormen Widerstandsfähigkeit des Zements gerechnet. Die Mauer war zu stabil um sie einzureißen. Nachdem sich ein Bagger mehrere Tage abmühte und ein Loch von ungefähr zwei Meter Länge in die Mauer geschlagen hatte, wurden die Abrissarbeiten eingestellt und der neue Hochwasserschutz wurde über die bereits bestehende Mauer gebaut.(1)
Bis zum heutigen Tag gelang es Niemanden mehr, einen ähnlich stabilen und haltbaren Zement herzustellen. Diese Eigenschaften waren und sind bis heute Gründe für die große Bekanntheit dieses Baustoffes, erfunden und produziert in Staudach.
Das Zementwerk hat die Entwicklung des Achentals in wirtschaftlicher und infrastruktureller Hinsicht entscheidend geprägt.
Die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Abwendung von der Selbstversorgung sorgten für einen höheren Lebensstandard. Höhepunkt der wirtschaftlichen Erschließung war der Bau der Bahnlinie Übersee - Marqartstein. Der Bau forderte von vielen beteiligten Achentalern Höchstleistungen, welche besonders in den logistischen Bereichen des Vorhabens zum Tragen kamen. Die daraus resultierenden Veränderungen sollen nachfolgend erläutert werden.
Firmengeschichte der Zementfabrik Kroher in Staudach
Adolph Kroher (3. Mai 1825 - 23. April 1892) war ein Augsburger Papierfabrikant. Er verbrachte um ca. 1840 seinen Urlaub in Grassau im Chiemgau.(2) Bei einer der vielen Wanderungen, die Kroher unternahm, machte er Bekanntschaft mit den beiden ortsansässigen Herren Pauli und Graf, die einen Putzmörtel aus örtlichen Mineralablagerungen herstellten.(3) Adolph Kroher interessierte sich sehr für die Arbeit der beiden Achentaler und beschloss, die Herstellung von Zement nach kommerziellen Maßstäben zu beginnen.
Um in den Besitz des Steinbruchs zu gelangen, musste er einen Gutshof in Staudach kaufen, der ihm das Recht gab, 29,5 Kubikmeter Holz pro Jahr zu schlagen. Daraufhin führte Kroher Verhandlungen mit dem Forstamt Marquartstein, da die Nutzung des Geländes als Steinbruch nicht vorgesehen war. Die beiden Verhandlungspartner einigten sich schließlich darauf, dass Kroher auf das Schlagen von Holz verzichtete und als Gegenleistung ein Grundstück nordöstlich von Staudach mit der Genehmigung Stein abzubauen erhielt.(4)
Im Jahre 1843 wurde die Arbeit im Steinbruch aufgenommen und bereits ein Jahr später die ersten Rautendachsteine hergestellt. Es war Adolph Kroher, der den Betondachstein erfand und eine Industrie gründete, die heute von weltweiter Bedeutung ist. Die Firma wurde 1856 in das Handelsregister eingetragen.(5)
Bei der Weltausstellung 1873 erhielt Kroher ein Anerkennungsdiplom für die von ihm produzierten Dachziegel und Säulen.
In Folge dessen bekam Kroher von der österreichischen Regierung den größten Auftrag, den er je erhalten hatte. Er erstreckte sich auf alle Dachsteine, die für die Dächer der Bahnstationen, Signalstationen, Arbeiterhäuser und anderer Gebäude der Tauernbahn benötigt wurden, die damals von Salzburg nach Süden gebaut wurde.(6)
Zu dieser Zeit waren schon etwa 120 Arbeiter in der Firma beschäftigt, zu der auch die Zementfabrik in der Hadergasse in Staudach mit ihren 14 Meter hohen Brenntürmen gehörte.
Von 1878 bis 1879 wurde eine Drahtseilbahn vom Steinbruch über das Mühlstetterfeld bis zur Zementfabrik erbaut.
Nicht zuletzt wegen seiner Festigkeit und Haltbarkeit wurde der Staudacher Zement auch 1882 zum Bau des Münchner Justizpalastes verwendet.
1892 starb Adolph Kroher und die Firma wurde von seinem Sohn Adolf Kroher übernommen (11. Juli 1855 - 30. Januar 1934).
Als die Firma 1924 Kapital benötigte, wurden Aktien herausgegeben, Sammelurkunden über fünf Aktien zu je 1000 Mark, von denen jedoch nicht viele in Umlauf kamen. Anfang 1925 gab die Firma erneut Aktien aus, im Nennwert von 20 Mark. Die Firma erbte in diesem Jahr Eugen Kroher, der Sohn Adolf Krohers (19. Juli 1882 - 26. Januar 1964).
1929 stellte die Firma Kroher die Produktion von Zementprodukten ein. Hauptursache waren Inflation, die Konkurrenz des Tonziegels und des Portlandzements.
1950 wurden die Hochöfen der ehemaligen Zementfabrik abgerissen und die Drahtseilbahn abgebaut. Auf den Resten der Fabrik stehen heute Wohnhäuser.(7)
Die Tochter von Eugen Kroher, Erika Müller-Tolk, lebt heute noch im vom Urgroßvater Adolph Kroher erbauten Familienwohnsitz.
Situation in Staudach vor der Gründung des Zementwerks
Als Adolph Kroher das erste Mal Staudach besuchte, bewohnten nur ungefähr 300 Menschen den Ort. Neben der Landwirtschaft war der einzige Verdienst der Holzhandel, der allerdings auch erst in dieser Zeit langsam einen Aufschwung erlebte.
Staudach war um 1840 relativ abgeschieden. Für Behördengänge oder Ähnliches musste ein weiter Weg zurückgelegt werden. Da es noch keine Nahverkehrsmittel gab, musste die Strecke entweder zu Fuß, ein Marsch von mehreren Stunden, oder nach Möglichkeit mit einem Pferd oder einer Kutsche zurückgelegt werden.(8)
Dies änderte sich grundlegend nach der Gründung des Zementwerks Kroher und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung, der auch zum Bau der Bahnlinie Übersee - Marquartstein führte.
Abbau des Gesteins
Der Staudacher Steinbruch lag oberhalb der heutigen Bergener Straße zwischen Staudach und Avenhausen.
Bei dem im Steinbruch vorkommenden Gestein handelte es sich um eine Mischung aus Mergel und hellen Kalkstein. Kroher hatte für den hellen Kalkstein keine Verwendung und ließ ihn nach Norden den Abhang hinunter kippen. Die alte Straße von Staudach nach Bergen verlief früher von Staudach über Steinach direkt nach Gastätt und weiter nach Einöd und Kitzbichl. Im Jahre 1830 wurde diese Straße weiter nach Norden verlegt. Die ehemalige Trasse südwestlich von Gastätt wurde mit Abraum vom Steinbruch zugeschüttet.
Zur Herstellung des Zements wurde nur der dunkle Stein verwendet. Der Abbau war eine sehr gefährliche und körperlich anstrengende Arbeit. Frau Müller-Tolk berichtete, dass ihr Urgroßvater – der Firmengründer – eine Reise nach Italien unternahm, um im Bereich der Bozener Porphyrbrüche Fachkräfte für seinen Betrieb anzuwerben. Kroher brauchte erfahrene Sprengmeister, die er in der näheren Umgebung nicht fand, um das Material für seinen Zement abzubauen.(9)
Mit Hilfe von Frau Müller-Tolk konnte der Abbau des Gesteins rekonstruiert werden.
Zwei bis drei Leitern von je 7 - 8 m Länge wurden zusammengebunden und an die Felswand gelehnt. Um neue Sprenglöcher zu bohren, mussten drei Männer hinaufsteigen und sich einen sicheren Halt suchen.
Ein Arbeiter lehnte mit dem Rücken an der Felswand und bohrte mit einem Steinbohrer zwischen seinen Knien hindurch, schräg gegen die Wand. Die zwei anderen Männer schlugen mit Hämmern abwechselnd von links und rechts auf den Bohrer.
Nach jedem Schlag wurde der Steinbohrer um etwa 120 Grad gedreht. Nach rund 50 Schlägen zog man den Bohrer heraus und entfernte das Bohrmehl mit einem langen, dünnen Löffel.
War das Bohrloch fertig ausgehöhlt wurde es mit Schwarzpulver befüllt und die Zündschnur eingelegt. Nach Zündung und Explosion mussten aus der Felswand zuerst alle losen Brocken entfernt werden, damit die unten stehenden Arbeiter keinen Steinschlag riskieren mussten.
Abtransport und Verarbeitung des Gesteins
Im Steinbruch gab es auf drei verschiedenen terrassenartigen Höhenstufen waagrecht verlegte Gleisanlagen, die bis nahe an den Ort der Sprengung heranführten. Dort wurde das abgesprengte Gestein in kleine eiserne Schienenfahrzeuge, sogenannte Loren, geschaufelt. Größere Gesteinsbrocken mussten vor dem Einfüllen mit schweren Hämmern in handliche, etwa kopfgroße Stücke zerkleinert werden. Die Loren liefen auf Schienen mit geringem Rollwiderstand und konnten von Arbeitern bis zum oberen Ende des Bremsschachtes bzw. der Seilbahn oder der Bremsbahn, geschoben werden.
Vom Steinbruch aus wurden die Loren über eine Rampe in den turmartigen Bremsschacht geschoben und daraufhin an einer Kette, die über ein Zahnrad verlief, zur unteren Ebene des Steinbruchs hinuntergelassen. Von dort ging es ebenfalls über eine ebene Rollstrecke zur Radhütte am oberen Ende der Seilbahn, die zur sogenannten Steinbreche führte. Auch diese Seilbahn wurde mit einem langen Hebel von Hand nach Gefühl gebremst. Der Bremshebel drückte dazu einen Holzklotz an die Seilumlenkrolle, die wettergeschützt in der Radhütte befestigt war. Von der Radhütte ist manchmal im Herbst noch das Fundament und die Verankerung zu sehen. Die Steinbreche ist ein oben offenes, trichterförmiges Gebäude aus Naturstein. Die Überreste des Gebäudes sind ebenfalls noch erhalten. In die Steinbreche wurden von oben die Seilbahnladungen eingefüllt und unten aus kleinen Öffnungen die Steine zum Weitertransport wieder entnommen. Anfangs wurden die Steine mit Pferdefuhrwerken zu den Brennöfen in Mühlwinkel gebracht. Von 1878 - 1879 wurde zum schnelleren Transport eine weitere Seilbahn zu den Brennöfen erbaut. Angetrieben wurde sie durch ein Wasserrad, welches in Mühlwinkel die Wasserkraft eines Alpenbaches nutzte. Im Zementwerk wurden die Steine im 14 Meter hohen Brennofen gebrannt. Anschließend wurden die gebrannten Steine in einer ebenfalls durch den Bach angetriebenen großen Trommel gedreht und dabei von innenliegenden, etwa faustgroßen Eisenkugeln zu Zement zermahlen.(10)
Abtransport der fertigen Produkte
Der fertige Zement wurde in Säcke verpackt und auf Pferdefuhrwerke verladen. Diese Fuhrwerke gehörten meist ortsansässigen Landwirten, die sich durch den Transport einen Nebenverdienst geschaffen hatten.
Vor dem Bau der Bahnlinie Übersee - Marquartstein musste der gesamte Transport mit Pferdekarren abgewickelt werden. Als die Bahn ihren Betrieb aufgenommen hatte, erfolgte nur noch der Transport vom Steinbruch bis zum Bahnhof Staudach mit Pferdekarren. Dort wurde der Zement teilweise schon zu Dachziegeln verarbeitet.(11)
Bahnlinie Übersee - Marquartstein
Das Achental war bis in das 20. Jahrhundert überwiegend durch die Landwirtschaft und die damit verbundene Lebensweise geprägt. Die Existenzgrundlage der Bevölkerung war die Subsistenzlandwirtschaft, also die Selbstversorgung. Im allgemeinen wurden Felder abwechselnd umgepflügt um Getreide, Kartoffeln und andere Nutzpflanzen anzubauen. Durch den Transport von Gütern, Anfang des 19. Jahrhunderts vorwiegend Agrarprodukte, konnten sich die Bewohner des Achentals einen Nebenverdienst schaffen. Mit dem zunehmenden Transportaufkommen in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestaltete sich die Ausfuhr aus dem Tal jedoch schwieriger.
Die Infrastruktur des Achentals war jedoch fast oder so gut wie nicht vorhanden, da sie bis ca. 1840 auf Grund der bereits erwähnten Subsistenzlandwirtschaft nicht benötigt wurde. Die einzige Möglichkeit, Güter zu größeren Orten wie Traunstein oder Prien am Chiemsee zu schaffen, war diese auf kleinen Karren über die Distriktstraße zu befördern. Jene Transportstraße kann am besten mit den heutigen Forstwegen verglichen werden. Die Breite betrug an manchen Stellen weniger als drei Meter und der Zustand der Straße war sehr schlecht.(12)
Mit dem steigenden Aufkommen an Holzprodukten und der Gründung des Zementwerks in Staudach durch Adolph Kroher wurde es beinahe unmöglich Güter abzutransportieren.
Die ohnehin schlechte Straße wurde nun durch immer mehr Pferdefuhrwerke, welche das Holz und den Zement zu den Absatzmärkten brachten, belastet. Zudem war diese Art des Abtransports für die noch in den Kinderschuhen steckenden Achentaler Gewerbebetriebe und im besonderen für den einzigen Industriebetrieb der Gegend, dem Zementwerk in Staudach, überaus kostspielig. Die Fahrten dauerten lange, die Karren waren nicht für solche Belastungen ausgelegt und erlitten somit häufig Pannen. Solche Ausfälle blockierten oft Stunden lang den Weg und führten zu wirtschaftlichen Einbußen.
Warentransport um 1860(13)
Als im Jahr 1860 die Bahnlinie Rosenheim - Salzburg ihren Betrieb aufnehmen konnte, entspannte dies die Verkehrssituation erheblich. Die Strecke bis zum nächsten Umschlagplatz verringerte sich enorm. Mussten ehemals rund 20 Kilometer bis nach Traunstein zurückgelegt werden, betrug nunmehr die Beförderungsstrecke Staudach - Übersee nur noch 8 Kilometer.
Obwohl die Bahnlinie nach Übersee für einen besseren Warenabtransport sehr hilfreich war, mussten die Unternehmen und Forstbetriebe hohe Kosten in Kauf nehmen. Bereits bei der Planung der Hauptstrecke Rosenheim - Salzburg setzten sich die Gemeinden des Achentals für eine Trassierung der Strecke durch das Tal ein. Auch Adolph Kroher erkannte damals schon die Bedeutung einer Bahn für das Achental. Besonders sein 1840 gegründetes Zementwerk in Staudach hatte viele und besonders schwere Güter zu transportieren. Kroher war sich, im Gegensatz zu vielen anderen Achentalern, von Anfang an darüber im Klaren, dass die Hauptstrecke im besten Fall nur bis an Übersee herangeführt werden würde. Als die Entscheidung für den Verlauf der Strecke fiel, setzte er sich umgehend mit dem Forstamt Marquartstein in Verbindung. Anfangs arbeiteten nur Kroher und das Forstamt, später auch die Gemeinden Marquartstein, Staudach und Grassau an der Realisierung einer Nebenbahn von Übersee nach Unterwössen. Da der geplante Streckenabschnitt Marquartstein - Unterwössen aufgrund einer sehr aufwändigen Streckenführung die Kosten für die Bahn verzehnfacht hätte, entschlossen sich Kroher und seine Mitstreiter im Jahr 1887 den Plan mit einer verkürzten Strecke bis Marquartstein der Bayerischen Regierung vorzulegen.(14)
Der Plan sah vor, eine 8 Kilometer lange Strecke von Übersee nach Marquartstein, mit Haltestellen in Mietenkam und Staudach, zu errichten.
Da wichtige Entscheidungsträger die Kosten für die Bahn als zu hoch erachteten, wurde das Vorhaben einige Zeit auf Eis gelegt. Besonders Kroher hielt jedoch weiter an der Nebenbahn fest. In den kommenden zwei Jahren nutzte er seinen schon beträchtlichen Einfluss aus, um vor allem den Distriktrat Traunstein von den Vorteilen der Strecke zu überzeugen.
Die Werbung für die Bahn zeigte Erfolg. Im Jahr 1880 wurde die Firma Kraus & Companie aus München beauftragt, ein Gutachten zum Bau und Betrieb, den die Firma ebenfalls übernehmen sollte, zu erstellen. Die Kosten für das Gutachten wurden zum Teil von Adolph Kroher, der sich als Vater der Bahnlinie sah, selbst übernommen.(15)
Kraus & Companie legte einen Kostenvoranschlag von 300 000 Mark vor, welcher von dem Distriktrat als zu teuer angesehen wurde.
Am 28. April 1882 wurde allerdings von der bayerischen Regierung das Vizinalbahngesetz (Dotationsgesetz), welches den Bau von staatlichen Lokalbahnen erheblich erleichtern sollte, beschlossen. So richtete der Distriktrat des Kreises Traunstein unter Berufung auf das genannte Gesetz, eine Petition an die Staatsregierung, die Lokalbahn Übersee - Marquartstein zu erbauen. Der Bau der Bahn bis Marquartstein wurde in gegenseitigem Einverständnis mit den Interessenten in das Dotationsgesetz vom 21. April 1884 aufgenommen.(16) Adolph Kroher hatte somit nach vielen Jahren sein großes Ziel, sein Werk an die Bahn anzubinden und so weitere Absatzmärkte zu erschließen, erreicht.
Bau der Bahnlinie
Die Staatsregierung genehmigte 1884 für den Bau der Strecke ein Budget von 319 000 Mark. Somit konnte nach der Vermessung der Strecke mit dem Bau begonnen werden.
Die Bauarbeiten der Bahnlinie und deren Streckenverlauf beschreibt das Traunsteiner Wochenblatt am 15. August 1885 folgendermaßen: »Der Bahnbau wurde unter Leitung des Ingenieurs W. Fischer (München) am 25. Februar ds.Js begonnen; die Bahn selbst ist normalspurig mit eisernen Langschwellen, lehnt sich großenteils an die Distriktstraße an, überschreitet in der Nähe von Staudach die Soleleitung von Reichenhall nach Rosenheim und steigt bis zur Station Marquartstein.«
Am Bau der ca. 8 Kilometer langen Strecke waren zeitweilig bis zu 100 Arbeiter beschäftigt. Da nur geringfügige Erdarbeiten und kaum Kunstbauten auszuführen waren, konnte die Bahn in wenigen Monaten fertiggestellt werden. Die Gleisanlagen waren schon 1885 sehr aufwändig. Beachtliche Rangier- und Verladeanlagen, besonderes am Haltepunkt Staudach, wo die meisten Güter verladen wurden, sowie ein kleines Betriebswerk für die Lokomotiven, waren vorhanden. Am 10. August 1885 konnte die Bahn schon dem öffentlichen Verkehr übergeben werden.
Bedeutung der Bahnlinie für das Zementwerk Kroher und das Achental
Wie bereits erwähnt, wurden vor der Eröffnung der Lokalbahn die Güter mit Hilfe von Pferdefuhrwerken befördert. In den Jahren von 1879 bis 1881 wurden so ca. 4000 Tonnen Zement bzw. Zementprodukte von Staudach nach Übersee gebracht. Mit dieser Menge war auch die gesamte vorhandene Transportkapazität ausgeschöpft, was die Weiterentwicklung der Industrie im Achental einschränkte.
Jedoch nicht nur der Gütertransport war von Bedeutung für das Werk. In seiner Blütezeit beschäftigte Kroher über 250 Angestellte in dem Werk selbst oder im Steinbruch.(17) Der Bedarf an Arbeitskräften konnte nicht mit der Achentaler Bevölkerung, die damals wenige tausend Menschen betrug, gedeckt werden. Besonders wurden Facharbeiter dringend benötigt, die naturgemäß nicht alle in der näheren Umgebung zu finden waren.
Durch die Bahnlinie konnten die Anfahrtsprobleme der Beschäftigten gelöst werden. Der Weg, den die Arbeiter zu Fuß zurücklegen mussten, verkürzte sich auf die Strecke Staudach-Bahnhof bis zum Zementwerk bzw. Steinbruch.
Die Zementprodukte konnten nun direkt von Staudach aus nach ganz Deutschland und Österreich verschickt werden. Die Folgen für Kroher waren von großer Bedeutung.
Die Transportkosten wurden in erheblichen Umfang verringert und die Endprodukte somit günstiger.
Der schnellere Abtransport behob auch das Problem des oben genannten Kapazitätsmangels. Dank der kurzen Strecke vom Zementwerk in Staudach zum Haltepunkt der Bahnlinie konnten mehr Güter in kürzerer Zeit verschickt werden, sodass das Zementwerk selbst expandieren konnte.(18) Diese Expansion wiederum schuf neue Arbeitsplätze und brachte erhöhte Steuereinnahmen mit sich.
Der Bahn ist es folglich zu verdanken, dass der Staudacher Zement seinen guten Ruf in der Baubranche festigen konnte, da nun ausreichende Mengen produziert und verschickt werden konnten.
Von diesem wirtschaftlichen Aufschwung des Zementwerks Kroher, dem größten Arbeitgeber im Achental, profitierte die gesamte Region, indem mehr Arbeitsplätze entstanden und höhere Steuereinnahmen erzielt werden konnten. Ein weiterer indirekter Verdienst der Bahn Übersee - Marquartstein.
Julian Denk
Quellenhinweis:
1: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
2: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 21 Z. 27ff
3: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 22 Z. 4f
4: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 24 Z. 16ff
5: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 24 Z. 1
6: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 26 Z. 28ff
7/8/9/10: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
11: Aufzeichnungen Adolf Kroher
12: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
13: Aufzeichnungen Adolph Kroher 1855
14/15: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
16:100 Jahre Bahnlinie Übersee - Marquartstein, Traunsteiner Wochenblatt 1985
17/18: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
35/2011
Als ich Erika Müller-Tolk, die Urenkelin des Firmengründers Adolph Kroher besuchte, erzählte sie trotz ihres kürzlichen viermonatigen Krankenhausaufenthaltes voller Begeisterung von den Errungenschaften ihrer Vorfahren. Allen voran war es ihr Urgroßvater Adolph Kroher, der die Zementherstellung revolutionierte. Er war nach Aussage von Frau Müller-Tolk der Erste, der Betondachziegel herstellte und vermarktete.
Ein weiteres Indiz für die Qualität des Zements war seine Stabilität. Zum Bau des Hochwasserschutzes an der Tiroler Ache in Staudach und Grassau wurde dieser Zement ebenfalls verwendet. Als der Schutzwall erneuert und vergrößert werden sollte, sahen die Pläne vor, die alte Schutzmauer einzureißen. Bei der Planung dieses Projekts hatte man jedoch nicht mit der enormen Widerstandsfähigkeit des Zements gerechnet. Die Mauer war zu stabil um sie einzureißen. Nachdem sich ein Bagger mehrere Tage abmühte und ein Loch von ungefähr zwei Meter Länge in die Mauer geschlagen hatte, wurden die Abrissarbeiten eingestellt und der neue Hochwasserschutz wurde über die bereits bestehende Mauer gebaut.(1)
Bis zum heutigen Tag gelang es Niemanden mehr, einen ähnlich stabilen und haltbaren Zement herzustellen. Diese Eigenschaften waren und sind bis heute Gründe für die große Bekanntheit dieses Baustoffes, erfunden und produziert in Staudach.
Das Zementwerk hat die Entwicklung des Achentals in wirtschaftlicher und infrastruktureller Hinsicht entscheidend geprägt.
Die Schaffung neuer Arbeitsplätze und die Abwendung von der Selbstversorgung sorgten für einen höheren Lebensstandard. Höhepunkt der wirtschaftlichen Erschließung war der Bau der Bahnlinie Übersee - Marqartstein. Der Bau forderte von vielen beteiligten Achentalern Höchstleistungen, welche besonders in den logistischen Bereichen des Vorhabens zum Tragen kamen. Die daraus resultierenden Veränderungen sollen nachfolgend erläutert werden.
Firmengeschichte der Zementfabrik Kroher in Staudach
Adolph Kroher (3. Mai 1825 - 23. April 1892) war ein Augsburger Papierfabrikant. Er verbrachte um ca. 1840 seinen Urlaub in Grassau im Chiemgau.(2) Bei einer der vielen Wanderungen, die Kroher unternahm, machte er Bekanntschaft mit den beiden ortsansässigen Herren Pauli und Graf, die einen Putzmörtel aus örtlichen Mineralablagerungen herstellten.(3) Adolph Kroher interessierte sich sehr für die Arbeit der beiden Achentaler und beschloss, die Herstellung von Zement nach kommerziellen Maßstäben zu beginnen.
Um in den Besitz des Steinbruchs zu gelangen, musste er einen Gutshof in Staudach kaufen, der ihm das Recht gab, 29,5 Kubikmeter Holz pro Jahr zu schlagen. Daraufhin führte Kroher Verhandlungen mit dem Forstamt Marquartstein, da die Nutzung des Geländes als Steinbruch nicht vorgesehen war. Die beiden Verhandlungspartner einigten sich schließlich darauf, dass Kroher auf das Schlagen von Holz verzichtete und als Gegenleistung ein Grundstück nordöstlich von Staudach mit der Genehmigung Stein abzubauen erhielt.(4)
Im Jahre 1843 wurde die Arbeit im Steinbruch aufgenommen und bereits ein Jahr später die ersten Rautendachsteine hergestellt. Es war Adolph Kroher, der den Betondachstein erfand und eine Industrie gründete, die heute von weltweiter Bedeutung ist. Die Firma wurde 1856 in das Handelsregister eingetragen.(5)
Bei der Weltausstellung 1873 erhielt Kroher ein Anerkennungsdiplom für die von ihm produzierten Dachziegel und Säulen.
In Folge dessen bekam Kroher von der österreichischen Regierung den größten Auftrag, den er je erhalten hatte. Er erstreckte sich auf alle Dachsteine, die für die Dächer der Bahnstationen, Signalstationen, Arbeiterhäuser und anderer Gebäude der Tauernbahn benötigt wurden, die damals von Salzburg nach Süden gebaut wurde.(6)
Zu dieser Zeit waren schon etwa 120 Arbeiter in der Firma beschäftigt, zu der auch die Zementfabrik in der Hadergasse in Staudach mit ihren 14 Meter hohen Brenntürmen gehörte.
Von 1878 bis 1879 wurde eine Drahtseilbahn vom Steinbruch über das Mühlstetterfeld bis zur Zementfabrik erbaut.
Nicht zuletzt wegen seiner Festigkeit und Haltbarkeit wurde der Staudacher Zement auch 1882 zum Bau des Münchner Justizpalastes verwendet.
1892 starb Adolph Kroher und die Firma wurde von seinem Sohn Adolf Kroher übernommen (11. Juli 1855 - 30. Januar 1934).
Als die Firma 1924 Kapital benötigte, wurden Aktien herausgegeben, Sammelurkunden über fünf Aktien zu je 1000 Mark, von denen jedoch nicht viele in Umlauf kamen. Anfang 1925 gab die Firma erneut Aktien aus, im Nennwert von 20 Mark. Die Firma erbte in diesem Jahr Eugen Kroher, der Sohn Adolf Krohers (19. Juli 1882 - 26. Januar 1964).
1929 stellte die Firma Kroher die Produktion von Zementprodukten ein. Hauptursache waren Inflation, die Konkurrenz des Tonziegels und des Portlandzements.
1950 wurden die Hochöfen der ehemaligen Zementfabrik abgerissen und die Drahtseilbahn abgebaut. Auf den Resten der Fabrik stehen heute Wohnhäuser.(7)
Die Tochter von Eugen Kroher, Erika Müller-Tolk, lebt heute noch im vom Urgroßvater Adolph Kroher erbauten Familienwohnsitz.
Situation in Staudach vor der Gründung des Zementwerks
Als Adolph Kroher das erste Mal Staudach besuchte, bewohnten nur ungefähr 300 Menschen den Ort. Neben der Landwirtschaft war der einzige Verdienst der Holzhandel, der allerdings auch erst in dieser Zeit langsam einen Aufschwung erlebte.
Staudach war um 1840 relativ abgeschieden. Für Behördengänge oder Ähnliches musste ein weiter Weg zurückgelegt werden. Da es noch keine Nahverkehrsmittel gab, musste die Strecke entweder zu Fuß, ein Marsch von mehreren Stunden, oder nach Möglichkeit mit einem Pferd oder einer Kutsche zurückgelegt werden.(8)
Dies änderte sich grundlegend nach der Gründung des Zementwerks Kroher und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung, der auch zum Bau der Bahnlinie Übersee - Marquartstein führte.
Abbau des Gesteins
Der Staudacher Steinbruch lag oberhalb der heutigen Bergener Straße zwischen Staudach und Avenhausen.
Bei dem im Steinbruch vorkommenden Gestein handelte es sich um eine Mischung aus Mergel und hellen Kalkstein. Kroher hatte für den hellen Kalkstein keine Verwendung und ließ ihn nach Norden den Abhang hinunter kippen. Die alte Straße von Staudach nach Bergen verlief früher von Staudach über Steinach direkt nach Gastätt und weiter nach Einöd und Kitzbichl. Im Jahre 1830 wurde diese Straße weiter nach Norden verlegt. Die ehemalige Trasse südwestlich von Gastätt wurde mit Abraum vom Steinbruch zugeschüttet.
Zur Herstellung des Zements wurde nur der dunkle Stein verwendet. Der Abbau war eine sehr gefährliche und körperlich anstrengende Arbeit. Frau Müller-Tolk berichtete, dass ihr Urgroßvater – der Firmengründer – eine Reise nach Italien unternahm, um im Bereich der Bozener Porphyrbrüche Fachkräfte für seinen Betrieb anzuwerben. Kroher brauchte erfahrene Sprengmeister, die er in der näheren Umgebung nicht fand, um das Material für seinen Zement abzubauen.(9)
Mit Hilfe von Frau Müller-Tolk konnte der Abbau des Gesteins rekonstruiert werden.
Zwei bis drei Leitern von je 7 - 8 m Länge wurden zusammengebunden und an die Felswand gelehnt. Um neue Sprenglöcher zu bohren, mussten drei Männer hinaufsteigen und sich einen sicheren Halt suchen.
Ein Arbeiter lehnte mit dem Rücken an der Felswand und bohrte mit einem Steinbohrer zwischen seinen Knien hindurch, schräg gegen die Wand. Die zwei anderen Männer schlugen mit Hämmern abwechselnd von links und rechts auf den Bohrer.
Nach jedem Schlag wurde der Steinbohrer um etwa 120 Grad gedreht. Nach rund 50 Schlägen zog man den Bohrer heraus und entfernte das Bohrmehl mit einem langen, dünnen Löffel.
War das Bohrloch fertig ausgehöhlt wurde es mit Schwarzpulver befüllt und die Zündschnur eingelegt. Nach Zündung und Explosion mussten aus der Felswand zuerst alle losen Brocken entfernt werden, damit die unten stehenden Arbeiter keinen Steinschlag riskieren mussten.
Abtransport und Verarbeitung des Gesteins
Im Steinbruch gab es auf drei verschiedenen terrassenartigen Höhenstufen waagrecht verlegte Gleisanlagen, die bis nahe an den Ort der Sprengung heranführten. Dort wurde das abgesprengte Gestein in kleine eiserne Schienenfahrzeuge, sogenannte Loren, geschaufelt. Größere Gesteinsbrocken mussten vor dem Einfüllen mit schweren Hämmern in handliche, etwa kopfgroße Stücke zerkleinert werden. Die Loren liefen auf Schienen mit geringem Rollwiderstand und konnten von Arbeitern bis zum oberen Ende des Bremsschachtes bzw. der Seilbahn oder der Bremsbahn, geschoben werden.
Vom Steinbruch aus wurden die Loren über eine Rampe in den turmartigen Bremsschacht geschoben und daraufhin an einer Kette, die über ein Zahnrad verlief, zur unteren Ebene des Steinbruchs hinuntergelassen. Von dort ging es ebenfalls über eine ebene Rollstrecke zur Radhütte am oberen Ende der Seilbahn, die zur sogenannten Steinbreche führte. Auch diese Seilbahn wurde mit einem langen Hebel von Hand nach Gefühl gebremst. Der Bremshebel drückte dazu einen Holzklotz an die Seilumlenkrolle, die wettergeschützt in der Radhütte befestigt war. Von der Radhütte ist manchmal im Herbst noch das Fundament und die Verankerung zu sehen. Die Steinbreche ist ein oben offenes, trichterförmiges Gebäude aus Naturstein. Die Überreste des Gebäudes sind ebenfalls noch erhalten. In die Steinbreche wurden von oben die Seilbahnladungen eingefüllt und unten aus kleinen Öffnungen die Steine zum Weitertransport wieder entnommen. Anfangs wurden die Steine mit Pferdefuhrwerken zu den Brennöfen in Mühlwinkel gebracht. Von 1878 - 1879 wurde zum schnelleren Transport eine weitere Seilbahn zu den Brennöfen erbaut. Angetrieben wurde sie durch ein Wasserrad, welches in Mühlwinkel die Wasserkraft eines Alpenbaches nutzte. Im Zementwerk wurden die Steine im 14 Meter hohen Brennofen gebrannt. Anschließend wurden die gebrannten Steine in einer ebenfalls durch den Bach angetriebenen großen Trommel gedreht und dabei von innenliegenden, etwa faustgroßen Eisenkugeln zu Zement zermahlen.(10)
Abtransport der fertigen Produkte
Der fertige Zement wurde in Säcke verpackt und auf Pferdefuhrwerke verladen. Diese Fuhrwerke gehörten meist ortsansässigen Landwirten, die sich durch den Transport einen Nebenverdienst geschaffen hatten.
Vor dem Bau der Bahnlinie Übersee - Marquartstein musste der gesamte Transport mit Pferdekarren abgewickelt werden. Als die Bahn ihren Betrieb aufgenommen hatte, erfolgte nur noch der Transport vom Steinbruch bis zum Bahnhof Staudach mit Pferdekarren. Dort wurde der Zement teilweise schon zu Dachziegeln verarbeitet.(11)
Bahnlinie Übersee - Marquartstein
Das Achental war bis in das 20. Jahrhundert überwiegend durch die Landwirtschaft und die damit verbundene Lebensweise geprägt. Die Existenzgrundlage der Bevölkerung war die Subsistenzlandwirtschaft, also die Selbstversorgung. Im allgemeinen wurden Felder abwechselnd umgepflügt um Getreide, Kartoffeln und andere Nutzpflanzen anzubauen. Durch den Transport von Gütern, Anfang des 19. Jahrhunderts vorwiegend Agrarprodukte, konnten sich die Bewohner des Achentals einen Nebenverdienst schaffen. Mit dem zunehmenden Transportaufkommen in der Mitte des 19. Jahrhunderts gestaltete sich die Ausfuhr aus dem Tal jedoch schwieriger.
Die Infrastruktur des Achentals war jedoch fast oder so gut wie nicht vorhanden, da sie bis ca. 1840 auf Grund der bereits erwähnten Subsistenzlandwirtschaft nicht benötigt wurde. Die einzige Möglichkeit, Güter zu größeren Orten wie Traunstein oder Prien am Chiemsee zu schaffen, war diese auf kleinen Karren über die Distriktstraße zu befördern. Jene Transportstraße kann am besten mit den heutigen Forstwegen verglichen werden. Die Breite betrug an manchen Stellen weniger als drei Meter und der Zustand der Straße war sehr schlecht.(12)
Mit dem steigenden Aufkommen an Holzprodukten und der Gründung des Zementwerks in Staudach durch Adolph Kroher wurde es beinahe unmöglich Güter abzutransportieren.
Die ohnehin schlechte Straße wurde nun durch immer mehr Pferdefuhrwerke, welche das Holz und den Zement zu den Absatzmärkten brachten, belastet. Zudem war diese Art des Abtransports für die noch in den Kinderschuhen steckenden Achentaler Gewerbebetriebe und im besonderen für den einzigen Industriebetrieb der Gegend, dem Zementwerk in Staudach, überaus kostspielig. Die Fahrten dauerten lange, die Karren waren nicht für solche Belastungen ausgelegt und erlitten somit häufig Pannen. Solche Ausfälle blockierten oft Stunden lang den Weg und führten zu wirtschaftlichen Einbußen.
Warentransport um 1860(13)
Als im Jahr 1860 die Bahnlinie Rosenheim - Salzburg ihren Betrieb aufnehmen konnte, entspannte dies die Verkehrssituation erheblich. Die Strecke bis zum nächsten Umschlagplatz verringerte sich enorm. Mussten ehemals rund 20 Kilometer bis nach Traunstein zurückgelegt werden, betrug nunmehr die Beförderungsstrecke Staudach - Übersee nur noch 8 Kilometer.
Obwohl die Bahnlinie nach Übersee für einen besseren Warenabtransport sehr hilfreich war, mussten die Unternehmen und Forstbetriebe hohe Kosten in Kauf nehmen. Bereits bei der Planung der Hauptstrecke Rosenheim - Salzburg setzten sich die Gemeinden des Achentals für eine Trassierung der Strecke durch das Tal ein. Auch Adolph Kroher erkannte damals schon die Bedeutung einer Bahn für das Achental. Besonders sein 1840 gegründetes Zementwerk in Staudach hatte viele und besonders schwere Güter zu transportieren. Kroher war sich, im Gegensatz zu vielen anderen Achentalern, von Anfang an darüber im Klaren, dass die Hauptstrecke im besten Fall nur bis an Übersee herangeführt werden würde. Als die Entscheidung für den Verlauf der Strecke fiel, setzte er sich umgehend mit dem Forstamt Marquartstein in Verbindung. Anfangs arbeiteten nur Kroher und das Forstamt, später auch die Gemeinden Marquartstein, Staudach und Grassau an der Realisierung einer Nebenbahn von Übersee nach Unterwössen. Da der geplante Streckenabschnitt Marquartstein - Unterwössen aufgrund einer sehr aufwändigen Streckenführung die Kosten für die Bahn verzehnfacht hätte, entschlossen sich Kroher und seine Mitstreiter im Jahr 1887 den Plan mit einer verkürzten Strecke bis Marquartstein der Bayerischen Regierung vorzulegen.(14)
Der Plan sah vor, eine 8 Kilometer lange Strecke von Übersee nach Marquartstein, mit Haltestellen in Mietenkam und Staudach, zu errichten.
Da wichtige Entscheidungsträger die Kosten für die Bahn als zu hoch erachteten, wurde das Vorhaben einige Zeit auf Eis gelegt. Besonders Kroher hielt jedoch weiter an der Nebenbahn fest. In den kommenden zwei Jahren nutzte er seinen schon beträchtlichen Einfluss aus, um vor allem den Distriktrat Traunstein von den Vorteilen der Strecke zu überzeugen.
Die Werbung für die Bahn zeigte Erfolg. Im Jahr 1880 wurde die Firma Kraus & Companie aus München beauftragt, ein Gutachten zum Bau und Betrieb, den die Firma ebenfalls übernehmen sollte, zu erstellen. Die Kosten für das Gutachten wurden zum Teil von Adolph Kroher, der sich als Vater der Bahnlinie sah, selbst übernommen.(15)
Kraus & Companie legte einen Kostenvoranschlag von 300 000 Mark vor, welcher von dem Distriktrat als zu teuer angesehen wurde.
Am 28. April 1882 wurde allerdings von der bayerischen Regierung das Vizinalbahngesetz (Dotationsgesetz), welches den Bau von staatlichen Lokalbahnen erheblich erleichtern sollte, beschlossen. So richtete der Distriktrat des Kreises Traunstein unter Berufung auf das genannte Gesetz, eine Petition an die Staatsregierung, die Lokalbahn Übersee - Marquartstein zu erbauen. Der Bau der Bahn bis Marquartstein wurde in gegenseitigem Einverständnis mit den Interessenten in das Dotationsgesetz vom 21. April 1884 aufgenommen.(16) Adolph Kroher hatte somit nach vielen Jahren sein großes Ziel, sein Werk an die Bahn anzubinden und so weitere Absatzmärkte zu erschließen, erreicht.
Bau der Bahnlinie
Die Staatsregierung genehmigte 1884 für den Bau der Strecke ein Budget von 319 000 Mark. Somit konnte nach der Vermessung der Strecke mit dem Bau begonnen werden.
Die Bauarbeiten der Bahnlinie und deren Streckenverlauf beschreibt das Traunsteiner Wochenblatt am 15. August 1885 folgendermaßen: »Der Bahnbau wurde unter Leitung des Ingenieurs W. Fischer (München) am 25. Februar ds.Js begonnen; die Bahn selbst ist normalspurig mit eisernen Langschwellen, lehnt sich großenteils an die Distriktstraße an, überschreitet in der Nähe von Staudach die Soleleitung von Reichenhall nach Rosenheim und steigt bis zur Station Marquartstein.«
Am Bau der ca. 8 Kilometer langen Strecke waren zeitweilig bis zu 100 Arbeiter beschäftigt. Da nur geringfügige Erdarbeiten und kaum Kunstbauten auszuführen waren, konnte die Bahn in wenigen Monaten fertiggestellt werden. Die Gleisanlagen waren schon 1885 sehr aufwändig. Beachtliche Rangier- und Verladeanlagen, besonderes am Haltepunkt Staudach, wo die meisten Güter verladen wurden, sowie ein kleines Betriebswerk für die Lokomotiven, waren vorhanden. Am 10. August 1885 konnte die Bahn schon dem öffentlichen Verkehr übergeben werden.
Bedeutung der Bahnlinie für das Zementwerk Kroher und das Achental
Wie bereits erwähnt, wurden vor der Eröffnung der Lokalbahn die Güter mit Hilfe von Pferdefuhrwerken befördert. In den Jahren von 1879 bis 1881 wurden so ca. 4000 Tonnen Zement bzw. Zementprodukte von Staudach nach Übersee gebracht. Mit dieser Menge war auch die gesamte vorhandene Transportkapazität ausgeschöpft, was die Weiterentwicklung der Industrie im Achental einschränkte.
Jedoch nicht nur der Gütertransport war von Bedeutung für das Werk. In seiner Blütezeit beschäftigte Kroher über 250 Angestellte in dem Werk selbst oder im Steinbruch.(17) Der Bedarf an Arbeitskräften konnte nicht mit der Achentaler Bevölkerung, die damals wenige tausend Menschen betrug, gedeckt werden. Besonders wurden Facharbeiter dringend benötigt, die naturgemäß nicht alle in der näheren Umgebung zu finden waren.
Durch die Bahnlinie konnten die Anfahrtsprobleme der Beschäftigten gelöst werden. Der Weg, den die Arbeiter zu Fuß zurücklegen mussten, verkürzte sich auf die Strecke Staudach-Bahnhof bis zum Zementwerk bzw. Steinbruch.
Die Zementprodukte konnten nun direkt von Staudach aus nach ganz Deutschland und Österreich verschickt werden. Die Folgen für Kroher waren von großer Bedeutung.
Die Transportkosten wurden in erheblichen Umfang verringert und die Endprodukte somit günstiger.
Der schnellere Abtransport behob auch das Problem des oben genannten Kapazitätsmangels. Dank der kurzen Strecke vom Zementwerk in Staudach zum Haltepunkt der Bahnlinie konnten mehr Güter in kürzerer Zeit verschickt werden, sodass das Zementwerk selbst expandieren konnte.(18) Diese Expansion wiederum schuf neue Arbeitsplätze und brachte erhöhte Steuereinnahmen mit sich.
Der Bahn ist es folglich zu verdanken, dass der Staudacher Zement seinen guten Ruf in der Baubranche festigen konnte, da nun ausreichende Mengen produziert und verschickt werden konnten.
Von diesem wirtschaftlichen Aufschwung des Zementwerks Kroher, dem größten Arbeitgeber im Achental, profitierte die gesamte Region, indem mehr Arbeitsplätze entstanden und höhere Steuereinnahmen erzielt werden konnten. Ein weiterer indirekter Verdienst der Bahn Übersee - Marquartstein.
Julian Denk
Quellenhinweis:
1: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
2: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 21 Z. 27ff
3: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 22 Z. 4f
4: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 24 Z. 16ff
5: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 24 Z. 1
6: C. G. Dobson - Die Geschichte des Betonstein S. 26 Z. 28ff
7/8/9/10: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
11: Aufzeichnungen Adolf Kroher
12: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
13: Aufzeichnungen Adolph Kroher 1855
14/15: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
16:100 Jahre Bahnlinie Übersee - Marquartstein, Traunsteiner Wochenblatt 1985
17/18: Gespräch mit Erika Müller-Tolk am 28.10.2010
35/2011