Jahrgang 2014 Nummer 4

Die Czermak-Wehrung-Fehde und ihre Hintergründe

Ein Chiemgauer Politkrimi aus dem Jahre 1923 – Teil II

Schloss Ising im Jahre 1895.
Max Neunzert.
Von der Staatsanwaltschaft Traunstein wurde eine Belohnung ausgesetzt.
Vorführungs-Note der Polizeidirektion München.

So also stellt sich der politische Hintergrund dar für die Verdächtigungen und Anschläge gegen den Kunstmaler Eugen Wehrung. Zumal nach der Besetzung des Ruhrgebietes durch die Franzosen im Frühjahr 1923 konnte jegliche Nähe zu ihnen zur Gefahr werden für Leib und Leben. Der Ruhrkampf hatte die Deutschen über die Parteigrenzen hinweg geeint und war zum ohnmächtigen Symbol des Widerstands gegen die Siegermächte geworden. Überall, auch in Traunstein, fanden Protestdemonstrationen und Sammlungen für die Ruhrbevölkerung statt. Die emotional aufgeheizte Stimmung schuf eine Atmosphäre von Verdächtigung, Bedrohung und Rache.

Die feindliche Konstellation lässt sich schon dem Polizeibericht vom 26. 9. 1923 entnehmen: »Das Misstrauen gegen Wehrung ist also allgemein. Ungünstige Gerüchte über ihn werden naturgemäß in erster Linie von rechts gerichteten Leuten verbreitet, und dass unter diesen der Schlossgutsbesitzer Czermak in Ising in erster Linie steht, ist hoher Stelle bekannt. Andererseits steht aber fest, dass die Gerüchte über Wehrung schon aus der Zeit des Kriegsausbruchs herrühren, und dass Czermak, wie Wehrung selber zugibt, bei deren Entstehen nicht beteiligt gewesen sein kann, denn er ist bereits in den ersten Mobilmachungstagen an die Front abgegangen und meines Wissens im ersten Jahre überhaupt nicht nach Hause gekommen.«(18)

Wehrung suchte sich zu schützen, indem er nach dem zweiten Anschlag im September Polizeischutz beantragte und gar anbot, für die Kosten selbst aufzukommen. Tatsächlich stellte die Polizeidirektion einen Wachmann zur Untersuchung und zum Personenschutz ab. Nach der weiteren Explosion am 13. Dezember wurde gar eine dreiköpfige Schutzwache in das Wehrungsche Anwesen gelegt. Nach der Spurensicherung und Verhaftungsaktion stellte Wehrung auf Anfrage des untersuchenden Kriminalkommissars wegen des anhaltenden Schneetreibens seinen Privatwagen zur Verfügung, damit die inhaftierten Tatverdächtigen ins Traunsteiner Gefängnis gebracht werden konnten.

Verhaftung und Transport riefen die Gegenkräfte auf den Plan. Denn die Verdachtspersonen waren Mitglieder des Bundes Bayern und Reich gewesen, zuletzt allerdings zur Reichsflagge übergegangen, einem weiteren Verband aus dem rechtskonservativen Spektrum, der sich mit dem Bund Oberland und der NSDAP zum Kampfbund zusammengeschlossen hatte.

Als Bezirksleiter des Bundes Bayern und Reich berief Czermak eine Versammlung der Ortsgruppen Seebruck und Tabing ein, die mit Zustimmung der beiden Ortsbürgermeister das folgende Schreiben an die Staatsanwaltschaft in Traunstein schickte:

»Drei der anständigsten Gemeindeangehörigen der Gemeinde Tabing sind heute auf Veranlassung eines Herrn Wehrung eines Verbrechens bezichtigt und aus diesem Grunde verhaftet worden.

Die beiden unterzeichneten Bürgermeister der Gemeinden Tabing und Seebruck sowie die tagende Versammlung der Ortsgruppe von Bund »Bayern und Reich« können den jungen Leuten das beste Zeugnis ausstellen. Sie sind jederzeit nüchterne, anständige Leute und fleißige, tüchtige Arbeiter gewesen, die jedenfalls mit dem ihnen zur Last gelegten Verbrechen nicht das Geringste gemein haben.

Ihre vaterländische Gesinnung, ihr ehrliches Eintreten für die Gemeinde und ihre Nächsten ist mustergültig, und so ist zu hoffen, dass ihre Freilassung sofort erwirkt wird, da sonst das nationale, staatsbürgerliche Interesse der gesamten Gemeinden stark erschüttert werden muss.«(19) Nicht Verdachtsmomente waren demnach entscheidend, sondern die rechte staatspatriotische Gesinnung bzw. die Zugehörigkeit zu einem Vaterländischen Verein. Die Verteidigung der Tatverdächtigen wurde darüber hinaus gestützt durch ein Argument von seltsamer Logik: Ortsansässige könnten gar nicht als Täter in Betracht kommen, da sie ja sicher gewusst hätten, dass Wehrung an diesem Abend nicht zuhause war.

Dem Bezirksamtmann(20), Adolf Ufer, machte Czermak zum Vorwurf, dass die Behörden willfährig allein nach Angaben Wehrungs die willkürliche Verhaftung durchgeführt hätten. Zusammen mit den BUR-Ortsgruppenleitern von Seebruck und Ising setzte er in einer weiteren Entschließung durch, »dass dem Urheber die größte Missachtung entgegengebracht wird und sie (die Mitglieder) deshalb ihm jede Hilfeleistung verweigern und jeden persönlichen Verkehr mit ihm abbrechen wollen.«(21)

Czermak hatte in der Versammlung überaus deutlich zum gesellschaftlichen Boykott gegen Wehrung aufgerufen: »Wenn ich ein Handwerker bin und Wehrung ruft mich, so würde ich sagen, ich kann eine Arbeit nicht übernehmen, mit der Begründung, dass ich mit einem Manne nichts zu tun haben will, auf dessen direkte Veranlassung meine Kameraden in Haft sitzen.«(22) Das bedeutete in der Folge, dass Handwerker sich weigerten, die nötigen Reparaturarbeiten an der Wehrung- Villa auszuführen, und Seebrucker Kaufleute ihm keine Lebensmittel und sonstigen Waren verkauften. Ein Bauer aus Seebruck, der privaten Kontakt mit Wehrung pflegte, sah sich bedroht und fürchtete Vergeltungsmaßnahmen. Die unverblümte Warnung lautete: »Der soll sich sehr in Acht nehmen, wenn er sich noch öfters mit Wehrung sehen lässt.«(23)

Bezirksamtmann Ufer verwahrte sich umgehend gegen den Vorwurf der Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaft und der Parteinahme für Wehrung. Ufer hatte Czermak im Vorfeld von der Einberufung einer Bundesversammlung abgeraten, zumal in der Folge der Beendigung des Ruhrkampfes und des gescheiterten Hitler-Putsches immer noch der Ausnahmezustand herrschte und eine öffentliche Eskalation der Affäre wenig wünschenswert erschien. Dass Czermak sich über seine Warnung hinweggesetzt hatte, empörte den Bezirksamtmann, der im Schreiben an die Regierung von Oberbayern vom 17. 12. 1923 seine kritische Haltung zu Czermak deutlich zum Ausdruck brachte:

»Ich bedauere aufs tiefste die Stellung, welche Czermak in der Sache einnimmt. Das ist keine nationale Haltung mehr, sondern Nationalbolschewismus, wie er im Verfolge der Hitlerbewegung mehrfach hervorgetreten ist. Und ich bedauere noch mehr, dass Czermak es für angezeigt hält, bei seinem Eintreten für die in Untersuchungshaft Genommenen öffentlich und dem Amte gegenüber mit besonderem Nachdruck zu betonen, dass er sich mit seiner Ortsgruppe hinter Excellenz von Kahr(24) gestellt habe. Es dürfte zweckmäßig sein, wenn das, was wohl überall, nur heute nicht in Seebruck, selbstverständlich erscheint, öffentlich erklärt wird, dass das Festhalten an der ordnungsgemäßen Regierung keinen Freibrief gibt für Gewalttaten und Verbrechen.«(25)

Die Auseinandersetzung zwischen Czermak und dem Bezirksamt spitzte sich weiter an der Frage zu, ob die Versammlung überhaupt nichtöffentlich und damit rechtens war angesichts des geltenden Ausnahmezustandes, da neben den Ortsgruppen des BUR auch »befreundete Kreise« eingeladen waren. Auch die Auskunft Czermaks auf einer früheren Versammlung, dass die Tabinger Notpolizei nicht einzugreifen brauche, wenn wieder einmal ein Anschlag in Seebruck ausgeführt werde, wurde zum Streitpunkt. Czermak, der als Vertrauensmann des Bezirksamtes für die Notpolizei agierte, hatte erklärt, dass ein solcher Fall zunächst nur eine Angelegenheit der örtlichen, also der Seebrucker Gendarmerie sei. Ein Eingreifen eines ortsfremden Notbanns sei deshalb nicht erforderlich.

Für seine Anhänger und seine Kritiker ergab sich allerdings vielfach der Eindruck, dass Wehrung nunmehr vogelfrei erklärt sei.

Unterdessen wurde die Fahndung nach den Tätern fortgesetzt. Doch weder Schriftvergleiche, die zu den Urhebern der Flugblätter führen sollten, noch Zeugenaussagen und Hinweise aus der Bevölkerung brachten konkrete Spuren zutage. Im ersten Affekt hatte das Bezirksamt gar den Seebrucker Bürgermeister Bachhuber »der als oberstes Haupt der örtlichen Polizei nach eigenem Eingeständnis auf die ungeheure Explosion hin, die in nächster Nähe seines Hauses geschah, keinen Finger rührte,«(26) von seinem Amte suspendiert und wegen Verletzung der Amtspflicht ein Dienstaufsichtsverfahren angekündigt. Drei Monate später wurde die Suspendierung auf Weisung der Regierung von Oberbayern wieder aufgehoben.(27)

Die Ereignisse waren natürlich auch Gegenstand der öffentlichen Diskussion und Thema der Traunsteiner Zeitungen.(28) Durch Berichte u. a. der Münchner Neuesten Nachrichten, der Frankfurter Zeitung und des Berliner Tagblatts wurden sie auch überregional bekannt. Die Kontrahenten Czermak und Wehrung scheuten sich auch nicht, ihre gegensätzlichen politischen Positionen und persönliche Antipathie in Leserzuschriften der Öffentlichkeit mitzuteilen.

Wehrung bezichtigte Czermak unverhohlen der geistigen Täterschaft, der Waffenverschiebung und des Missbrauchs seiner Stellung als Bezirksführer eines Vaterländischen Verbandes: »Er hat in hiesiger Gegend Zustände hervorgerufen, wie sie schlimmer unter der Räteregierung nicht herrschten.«(29) Czermak seinerseits beschuldigte seinen Gegenspieler antinationaler Propagandareden, kommunistischer Gesinnung, des Vaterlandsverrats und des Kriegsgewinnlertums. Darüber hinaus wird aus Czermaks Stellungnahmen gegenüber dem Bezirksamt ein sehr persönliches Motiv erkennbar: seine Verärgerung darüber, dass Wehrung weder sein Bedauern ausgedrückt noch Hilfe angeboten hatte, als im Juli 1923 Schloss Ising bis auf die Grundmauern abgebrannt war.

Jedenfalls war es nahezu unvermeidlich, dass die beiden Kontrahenten wegen gegenseitiger Beleidigung sehr bald sich vor Gericht gegenüberstanden, im Scheinwerferlicht der lokalen und überregionalen Presse, die zum Teil offen für die eine oder andere Seite Partei nahm.

Den einen Kommentatoren galten die Attentate als das Werk »jugendlicher Hitzköpfe«, andere sahen in den Taten und den nachfolgenden Begleitumständen Beispiele »krassester Sittenverrohung « und ein Zeugnis dafür, »mit welchen Mitteln gewisse Kreise den staatlichen Behörden in Bayern die Arbeit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung hintertreiben«(30), wieder andere spotteten über »die uralte Tragikomödie des Konflikts zwischen Bodenständigkeit und Zugereistheit.«(31)

Mitte Juni 1925 fand vor dem Amtsgericht Traunstein unter dem Vorsitz des Amtsgerichtsdirektors Winkler die Verhandlung in der Sache Czermak contra Wehrung statt.

Der äußerliche Gegensatz zwischen den beteiligten Personen hätte kaum größer sein können.

Auf der einen Seite Eugen Wehrung, ein großer stattlicher Vierziger, schon seiner Erscheinung nach ein Künstler, der bedächtig, zuweilen in einem pastoralen impulsiven Ton sprach und auch das Pathos nicht verschmähte. Auf der anderen Seite der Schlossgutsbesitzer Leo Czermak, eine Mischung aus Diplomat und Offizier, von korrekter Haltung und ruhiger Redeweise, der selten seine Beherrschung verlor.(32)

Gegensätzlich waren auch die Herkunft und die politischen und sozialen Positionen: Elsässer und Österreicher, Republikaner und Monarchist, Liberaler und Konservativer, Kapitaleigner und Landbesitzer, Zugereister ohne engere Einbindung in das örtliche Vereinsleben und (fast)- Bodenständiger mit enger Vernetzung mit der bäuerlichen, konservativen, lokalen Gesellschaft als Arbeitgeber und Bundesführer.

Wehrung wurde von den Rechtsanwälten Graf Pestalozza (München) und Dr. Sebastian Jordan (Traunstein) vertreten, Czermak von Geheimrat von der Pforten (Traunstein). An den beiden Verhandlungstagen beeindruckte die Argumentation der Wehrung- Partei das Gericht derart, dass Wehrung wegen Wahrung berechtigter Interessen freigesprochen wurde, während Czermak in dieser erstinstanzlichen Entscheidung zu einer Geldstrafe von 3000 Mark verurteilt wurde. Zudem war gegen ihn bereits am 3. Dezember 1924 durch das Landgericht Traunstein wegen Vergehens gegen das Sprengstoffgesetz eine Gefängnisstrafe von 3 Monaten verhängt worden.(33)

Der Kommentator des Berliner Tageblatts wertete das Strafmaß als allzu niedrig, da seiner Meinung nach in Betracht gezogen werden müsse, »dass bis vor kurzem der Chiemgau die Hochburg der Reaktion war, dass im Chiemgau auch Fäden der bayerischen Fememorde zusammenlaufen.«(34)

Czermak legte umgehend Berufung ein. Die Berufungsverhandlung fand am 14. Oktober 1925 vor der Strafkammer des Landgerichts Traunstein unter dem Vorsitz des Landgerichtsrates Weiß statt.

Beide Seiten waren nun aber des Streits überdrüssig. Vielleicht gingen ihnen auch die finanziellen Mittel für die juristische Auseinandersetzung langsam aus, oder der jeweilige Rückhalt in der Bevölkerung ließ nach. Jedenfalls wurden schließlich die gegenseitigen Klagen zurückgezogen und ein Vergleich mit dem folgenden Wortlaut geschlossen:

»Herr Czermak erklärt, dass er sich davon überzeugt hat, dass an der politischen und persönlichen Ehre des Herrn Wehrung kein Makel ist, und er nimmt daher die gegenteiligen Behauptungen zurück.

Herr Wehrung erklärt, dass Herr Czermak nicht der Urheber der gegen Herrn Wehrung verbreiteten, unwahren Gerüchte ist und anerkennt, dass Czermak an den gegen Wehrung verübten Anschlägen nicht beteiligt war.

Beide Parteien sind sich darüber einig und versprechen darauf hinzuwirken, dass die gesamten Streitigkeiten im Interesse des Friedens im Chiemgau erledigt sein sollen.«(35)

Die Frankfurter Zeitung kommentierte den Frieden im Chiemgau mit folgenden Worten:

»Das Menschliche und Allgemeingültige des Falles ist: zu erkennen, dass eine angemaßte Feme irgendeines Staates im Staate in ihren Wirkungen zuletzt doch gegen die Gesamtheit ausfallen muss. Warum? Weil sie automatisch die Wildwest- Einstellung auslöst. Diese an sich primitive Erkenntnis weiteren Kreisen erschlossen zu haben, ist ein Verdienst, das man beiden Parteien dieses bayerischen Prozesses zubilligen muss - jeder auf ihre Art.«(36)

Sowohl Wehrung als auch Czermak enthielten sich in der Folgezeit jeglicher persönlicher Angriffe. Wehrung versicherte, »dass von meiner Seite aus ein neuer Angriff gegen die Person des Herrn Czermak nicht erfolgen wird. Ich habe mich immer im Verteidigungszustande befunden und begrüße es deshalb herzlich, dass die Gegenseite diesen Zustand überflüssig macht, indem sie offenbar bereit ist, auf weitere Angriffe zu verzichten…

Ich selbst möchte auch die Erinnerung an die großen materiellen und ideellen Opfer, die mir der Kampf um mein Recht auferlegte, gerne zurückstellen. Ein Punkt muss aber davon ausgenommen sein, nämlich meine Fahndung nach den Tätern der 3 auf mein Haus ausgeübten Attentate.«(37)

Darüber hinaus verwahrte Wehrung sich weiterhin gegen jeden Spionageverdacht.

So also gingen auch nach der Beilegung der Privatklagen die polizeiliche und juristische Aufarbeitung des Falles und damit die Suche nach den Tätern weiter. Von der Staatsanwaltschaft wurde eine Belohnung ausgesetzt. Es häuften sich wiederum Aussagen und Gerüchte, die auf den Kreis der Verdächtigen hinwiesen. Auch Voruntersuchungen wurden begonnen und Klagen eingereicht.

Ein Polizeibericht vom 31. Oktober 1926 dürfte wohl die öffentliche Meinung am genauesten wiedergeben: »Die Bevölkerung Seebruck, Seeon und Umgebung spricht offen die Überzeugung aus, dass die Attentate bei dem Kunstmaler Wehrung politischen Motiven entsprungen sind und von Mitgliedern der damals in dortiger Gegend stark verbreiteten Organisation »Bund Bayern und Reich« ausgeführt wurden…

Die Bevölkerung glaubt nicht, dass Czermak Personen aus seinen Kreisen zu diesen Attentaten direkt angestiftet hat, auch nicht, dass Czermak vor der Ausführung der Attentate Kenntnis davon hatte, aber durch seine fortwährenden Verdächtigungen des Wehrung als Spion haben sich diese Taten aus sich selbst heraus gebildet und, um bei ihren Organisationsvorgesetzten sich höheres Ansehen zu verschaffen, haben dann besonders schneidige Leute der Organisation diese Taten vollbracht, ohne dass es Czermak gewollt hat.«(38)

Die politische Machtstellung des BUR hatte im Laufe der zwanziger Jahre nachgelassen, so dass Mitwisser der Geschehnisse sich eher trauten, das interne Schweigegebot zu brechen:

»Dass die Bevölkerung jetzt eher aus sich heraus geht wie damals, halte ich für möglich, da seinerzeit doch ein gewisser politischer Druck auf der Bevölkerung lastete.«(39)

Erneut wurden Verhöre anberaumt, die Widersprüchliches, Glaubwürdiges und Unglaubwürdiges, Vages und Belastendes zutage brachten. Der Kreis der Verdächtigen entstammte jedenfalls immer den Reihen des Bundes Bayern und Reich. Schließlich erhob die Traunsteiner Staatsanwaltschaft am 20. 4. 1928 Klage gegen Max Neunzert und andere wegen Verbrechens gegen das Sprengstoffgesetz und gegen Leo Czermak wegen Anstiftung zu diesem Verbrechen.(40)

Czermak stritt in der Vernehmung durch den Untersuchungsrichter am 21. 5. 1928 erneut jegliche Anstiftung und Beteiligung an den Attentaten ab und erklärte: »Die Sprengungen waren wohl nur eine Nachwirkung der großen Aufregungen, wie sie der Hitlerputsch in den Köpfen der am Weltkriege beteiligten, vaterländisch gesinnten Personen hervorgerufen hatte.«(41)

Zugleich suchte er Neunzert zu entlasten mit dem Hinweis, dass dieser wegen seiner Beteiligung am Hitlerputsch(42) steckbrieflich gesucht war und deshalb ins Salzkammergut geflüchtet war. Beide Erklärungen können jedoch allenfalls in Bezug auf das Dezember-Attentat geltend gemacht werden, sie sind ohne Relevanz für die vorausgehenden Anschläge.

Neunzert seinerseits ging in die Offensive gegen die Belastungszeugen und bezeichnete sie als angeberisch und unglaubwürdig. Und selbstverständlich leugnete er jegliche persönliche Beteiligung an den Sprengstoffaktionen und Schießereien: »Am Abend des 30. August 1923 befand ich mich, wie die ganze Woche her, bis gegen 11 Uhr im Büro der Oberleitung des Deutschen Kampfbundes. Wir waren stark mit Arbeit überlastet, weil wir auch die Vorbereitungen für den Deutschen Tag in Nürnberg zu treffen hatten, der am 2. September 1923 stattgefunden hatte.«(43) Als Zeugen benannte Neunzert unter anderem den späteren SAFührer, Hauptmann a. D. Ernst Röhm, und den militärischen Führer des Kampfbundes, Hermann Kriebel.

Letztlich befand das Gericht, dass »trotz mancherlei Verdachtsmomente« kein hinreichender Beweis dafür erbracht werden konnte, dass die Angeklagten »am Abend des 30. VIII. 1923 allein oder mit anderen am Wohnhaus des Wehrung Sprengstoffe zur Entladung brachten, so dass das Wohnhaus und verschiedenes Inventar in diesem erheblich beschädigt wurden, ferner dass die sämtlichen 5 Beschuldigten allein oder mit anderen am Abend des 13. XII. 1923 an dem von den Taglöhnereheleuten Krug bewohnten Nebengebäude des Wehrung wiederum Sprengstoffe zur Entladung brachten, so dass auch dieses Nebengebäude erheblich zerstört und die Eheleute Krug an ihrer Gesundheit erheblich beschädigt wurden.«(44)

Die Beschuldigten wurden außer Verfolgung gesetzt.

Die Fahndung wurde jedoch wieder aufgenommen, als Wehrung im Jahre 1932 erneut bedroht wurde und daraufhin die Staatsanwaltschaft Traunstein informierte: »Vorgestern, am 16. August 1932, wurde mir telefonisch mitgeteilt, dass in den nächsten Tagen ein neues Attentat gegen mich verübt werden soll. Ich habe daraufhin den Vorfall sofort der Polizeidirektion München mitgeteilt und habe auch das hiesige Bezirksamt verständigt. Die Polizeidirektion München hat 2 Kriminalkommissäre nach Seebruck entsandt und das Bezirksamt lässt mir dankenswerterweise den persönlichen Schutz zukommen… Ich persönlich bin fest davon überzeugt, dass bei dem geplanten neuerlichen Attentat keine Ortsangehörigen verwickelt sind, sondern dass es diejenigen sind, die schon im Jahre 1923 die Rädelsführer waren. Ich bin auch davon überzeugt, dass Herr Czermak mit dem neuerlichen Plan nichts zu tun hat.«(45)

Man sieht, dass die Privatfehde zwischen Wehrung und Czermak tatsächlich ein Ende gefunden hat. Wehrung vermutete nunmehr den Grund der gegen ihn gerichteten Angriffe in der Tatsache, dass er geborener Elsass- Lothringer war. Die bayerische Staatsangehörigkeit, die er 1917 erworben hatte, hatte er aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages wieder verloren: »Mit Franzosentum habe ich nichts zu tun und bin dafür nicht verantwortlich zu machen, dass ich zufällig in Elsass-Lothringen geboren wurde und Sohn eines deutschen Beamten bin. Der böse Zufall wollte es, dass ich unter einen Paragraphen des Versailler Vertrages gefallen bin, der meine bayerische Staatsangehörigkeit zunichte machte.«(46) In der Tat war ein neuer Einbürgerungsantrag erforderlich. Die Urkunde wurde Eugen Wehrung am 3. Oktober 1933 ausgehändigt.

Auch die nun folgenden Untersuchungen der Münchner Polizeidirektion führten zwar zu neuen Verdachtsmomenten und neuen Anklagen, aber letztlich doch zur Einstellung des Verfahrens.

Die polizeilich und juristisch nie zweifelsfrei aufgeklärten Gewaltakte werfen noch heute mit den durch sie ausgelösten Reaktionen, Emotionen und Prozessfolgen ein bezeichnendes Licht auf die politische Szenerie der Weimarer Zeit.

Die Archivalien geben keine Auskunft über weitere Lebensdaten des Kunstmalers Eugen Wehrung. Leo Czermak verstarb am 18. April 1934 an den Folgen eines Schlaganfalls. Die Trauerfeier beweist noch einmal seine enge Verbundenheit mit seinen Bediensteten, den Nachbarn, Bundesbrüdern, Verbänden und hochedlen Freunden.

Max Neunzert wandelte sich von einem Waffenschieber der Einwohnerwehr und einem Nationalsozialisten der ersten Stunde zu einem erbitterten Feind Hitlers. Er starb 90-jährig nach einem bewegten Leben 1982 in Bad Reichenhall.

 

Gerd Evers


Teil I in den Chiemgau-Blättern Nr. 3/2014


Quellennachweis:
18: StAM LRA 209406
19: StAM StAnw. 15663
20: Die Funktion des Bezirksamtmannes entspricht dem des heutigen Landrates.
21: StAM StAnw. 15663
22: StAM LRA 209406
23: StAM LRA 209406 Niederschrift Ufer vom 20. 12. 1923
24: Gustav von Kahr wurde am 26. 9. 1923 aus Protest gegen den Abbruch des Ruhrkampfes von der bayerischen Staatsregierung zum Generalstaatskommissar mit diktatorischen Vollmachten ernannt. Er verhängte umgehend den Ausnahmezustand über Bayern.
25: StAM LRA 209406
26: StAM LRA 209406
27: Oberbayerische Landeszeitung vom 20. 2. 1924
28: Traunsteiner Wochenblatt vom 20. 12./22. 12. und 29. 12. 1923
29: Traunsteiner Wochenblatt vom 29. 12. 1923
30: Traunsteiner Wochenblatt vom 24. 6. 1925 mit Bezug auf einen Artikel der Münchner Neuesten Nachrichten
31: Frankfurter Zeitung vom 20. 10. 1925
32: StAM LRA 209406
33: StAM StAnw. 15668
34: Berliner Tagblatt vom 11. 8. 1926 in StAM StAnw. 15663
35: StAM LRA 209406
36: Frankfurter Zeitung vom 20. 10. 1925
37: StAM LRA 209406
38: StAM StAnw. 15663
39: ebenda
40: StAM StAnw. 15668
41: StAM Stanw. 15668
42: Über die Rolle von Max Neunzert beim Hitlerputsch sowie seine weitere Tätigkeit während der Nazizeit und nach Ende des 2. Weltkrieges siehe die ausführliche Darstellung von: Carlos Collado Seidel, In geheimer Mission für Hitler und die bayerische Staatsregierung, Der politische Abenteurer Max Neunzert zwischen Fememorden, Hitler- Putsch und Berlin-Krise, in: VfZ 50 (2002), S. 201 ff.
43: StAM StAnw. 15663 Schreiben an das Landgericht Traunstein vom 5. 8. 1927
44: StAM StAnw. 15668
45: ebenda
46: ebenda


Anmerkung der Redaktion
Von Gerd Evers erschienen auch
die Bücher »Traunstein 1918 - 1945«
– Ein Beitrag zur Geschichte der
Stadt und des Landkreises Traunstein,
»Befreiung Besatzung
Erneuerung« – Kreis und Stadt
Traunstein 1945 - 1949, »Ich habe
doch nichts als meine Pflicht getan«
– Eine Dokumentation zur politischen
Geschichte Traunsteins 1918 -
1949 und »Der Landkreis Traunstein
von 1945 bis 1990«. Allesamt
u. a. erhältlich beim Traunsteiner Tagblatt

 

4/2014