Jahrgang 2017 Nummer 22

Die Chronik des Chiemgauer Ranggler- und Haklervereins

Sie spiegelt sportliche Erfolge, gelebte Brauchtumspflege und kuriose Begebenheiten wider

Erstes Fingerhakln in Fritz am Sand, 1960.
Hans Pichler genannt Oberhauser Hans (Initiator des Vereins).
Sepp Posch (von der Gründung bis 1980 Vorstand).
Urgestein Sepp Reiter lieferte packende Zweikämpfe
Fingerhakler-Training auf der Raffner-Alm, 1972.
Eröffnungs-Ranggeln 1961, Anzeige im Ruhpoldinger Gemeindeanzeiger.
Unter den vielen Vereinen und Clubs, die im Freistaat das gesellschaftliche Leben bereichern, kommt dem Chiemgauer Ranggler- und Haklerverein eine Art Sonderstellung zu. Während sich andere Interessengemeinschaften aufgrund ihrer Definition klar in Kategorien wie Brauchtum, Sport, Kultur, Soziales, Kunst und dergleichen einordnen lassen, deckt der Verein mit Sitz in Ruhpolding durch die Erhaltung und Förderung der altüberlieferten Brauchtumssportarten die Bereiche Sport, Brauchtum und Kultur gleichermaßen ab.

Darüber hinaus sieht ein weiterer Satzungspunkt die Kontaktpflege mit den Rangglerverbänden in Tirol, Salzburg und Südtirol vor. Dieser Passus geht auf die Anfangszeit zurück, als sich die noch relativ unerfahrenen Bayern ihr sportliches und organisatorisches Rüstzeug von drüberhalb der damals noch bestehenden Grenzen holten. Was jedoch nicht heißen soll, dass zum Beispiel der alpenländische Ringkampf, das sogenannte Ranggeln oder das Fingerhakln in unseren Breitengraden nicht bekannt gewesen wäre. Von den Rekruten, die sich zur Musterung in Traunstein einzufinden hatten, weiß man, dass sie, getrieben von jugendlichem Übermut und überschüssiger Kraft den »Hogmoar«, also ihren Anführer nach altem Brauch ausranggelten. Dies belegen bereits Gerichtsakten aus der Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch in der Nachkriegszeit der 50er und 60er Jahre legte man weniger Wert auf die überkommenen Gebräuche, und es gab allgemein die Tendenz, die über viele Generationen hinweg überlieferten Kraftspiele der Vergessenheit anheim fallen zu lassen. Zu sehr hatte das »Anglikanische« der Besatzungsmächte im Alltagsleben in ganz Bayern Einfluss gewonnen und vieles an herkömmlichen Gepflogenheiten zurück gedrängt. In ganz Bayern? Mitnichten! Hier könnte man – scherzhaft gemeint – den guten, alten Asterix bemühen und im Jargon des wiederkehrenden Comic-Hefte-Vorspanns von unbeugsamen Burschen und Männern berichten, die in dem besetzten Landstrich Chiemgau entschlossenen Widerstand leisteten. Doch darüber später mehr.

Dass die Entwicklung der Brauchtumssportarten letztlich einen erfreulicheren Ausgang wie befürchtet nahm, ist der umfangreichen Chronik zu entnehmen, die die mittlerweile fast 60 Jahre andauernde Vereinsgeschichte bis auf den heutigen Tag lückenlos dokumentiert.

Sie wurde von Ehrenvorstand Ludwig Schick mit viel Zeitaufwand und akribischer Detailarbeit zusammengestellt. Dieses Vorhaben erwies sich jedoch anfangs, wie sich bald herausstellte, als schwieriges Unterfangen. Denn als er 1981 zusammen mit einer engagierten Truppe die Vorstandschaft übernahm, war außer dem vorbildlich geführten Kassenbuch wenig schriftliches Material vorhanden. Eine dürftige Mitgliederliste, die etwa 90 Mitglieder auswies, einige handschriftlichen Notizen, ein bisschen Schriftverkehr und ein paar Fotos – nicht gerade ein üppiger Fundus, auf den man einen halbwegs vernünftigen Rückblick aufbauen konnte. Trotzdem ließ er sich nicht von seinem Vorhaben abbringen, die ersten zwei Jahrzehnte des Vereins chronistisch aufarbeiten zu wollen. Zugute kam ihm dabei, dass er bereits 1963, also drei Jahre nach der Gründung, als 13-jähriger Bursch mit dem Ranggeln angefangen hatte und ihm so noch vieles aus dieser Zeit in Erinnerung geblieben war, was er jetzt abrufen konnte. Schon bald verschickte er ein Schreiben an die brauchtumsverbundene Bevölkerung, in dem er nicht nur um Mitglieder, sondern auch um Fotos, Zeitungsausschnitte usw. warb. Ehemalige Ranggler und Hakler kramten ebenfalls in ihren Unterlagen, Zeitzeugen und Zuschauer von Veranstaltungen wurden persönlich befragt. Das Ergebnis war zwar nicht gerade umwerfend, aber immerhin kam der eine oder andere Mosaikstein dazu.

Irgendwann hatte auch der Zufall die Hände im Spiel: durch einen Tipp erfuhr der Chronist von den gesammelten Zeitungsartikeln, die die damalige Berichterstatterin Anneliese Dieffenbach der Gemeinde Ruhpolding zur Verfügung gestellt hatte. Das war wie ein Wink des Himmels, denn so ersparte er sich die langwierige Suche in verschiedenen Archiven.

Aufgeteilt in zwei dicken, in Leder gebundenen Wälzern, die sich mit dem Werdegang von der Gründung im Jahr 1960 bis 1995 befassen, sowie mehreren gestaffelten, die neuere Zeit behandelnden Bänden, erzählen die so zusammengetragenen Unterlagen in eindrucksvoller Weise von dem unermüdlichen und mit Herzblut behafteten Bemühen, dieses alte, bayerische Kulturgut der Nachwelt zu erhalten. Insbesondere die zwei stattlichen »Stammbücher« in den Ausmaßen von 32 x 24 Zentimetern, fein säuberlich vom damaligen Traunsteiner Buchbinder Alfred Sigl angefertigt, lassen den Betrachter eintauchen in eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der überschäumenden Begeisterung, die im November 1960 zur Gründung der ursprünglich auf den Namen »Chiemgauer Ranglerverein« getauften Interessengemeinschaft führte.

Die Begeisterung kräftig angestachelt hatte zuvor der damalige Vorstand des Trachtenvereins D’Rauschberger-Zell«, Hans Pichler, vulgo Oberhauser-Hans. Denn die Veranstaltungen in Fritz am Sand, bei denen sich erstmals Fingerhakler und Ranggler vor einem größeren Publikum messen konnten, trafen voll ins Schwarze. Der Vater des heutigen Ruhpoldinger Bürgermeisters gilt allgemein aufgrund seiner Bemühungen, seiner guten Kontakte zu Vereinen, Verbänden und Medien und natürlich mit der Unterstützung Gleichgesinnter als Initiator des Vereins.

Ein Aufnahmeteam des Bayerischen Fernsehens mit Moderator Franz Schönhuber (er machte später auch als kantiger Parteichef der Republikaner von sich reden) filmte zugleich für das Deutsche Fernsehen die »heißen Kämpfe« im Rahmen des Waldfests, bei dem »25 muskelstarke Männer dem alten Nationalsport huldigten«. So die Zeitungsmeldung im Traunsteiner Wochenblatt.

Fast martialisch liest sich ein weiterer Kommentar über den Einmarsch: »Sie sahen wild und zerrissen aus, wie Galeerensträflinge. Während der Kämpfe wurde wohl dem Ahnungslosesten klar, dass sie wirklich nichts Besseres hätten anziehen dürfen. Diese Art von vergnüglichem »Catch as catch can« ist feinen Sachen entschieden abhold.«

Ein Jahr darauf bestritten die Ranggler, sozusagen als sportliche Feuertaufe, ihren ersten Länderkampf gegen die Mannschaften Salzburg, Nordtirol und Osttirol, dem noch viele solcher Duelle folgen sollten.

Bester Ranggler während des ersten Jahrzehnts seit der Gründung war Lorenz Plenk aus Inzell, der 1967 seine Leistungen in der Innsbrucker Olympiahalle mit dem Titel des Alpenländischen Meisters krönen konnte.

Verbindend für den erwähnenswerten Zusammenhalt im Ort war nicht nur, dass mit Sepp Posch ein Trachtler aus den Reihen der »Miesenbacher« zwanzig Jahre lang die Geschicke des Vereins führte, sondern auch diejenigen waren, die den Rangglern das gewährte Darlehen für den Kauf einer Ringermatte großzügig erließen. Letztlich übernahm die Gemeinde die gesamten Kosten, weil die Matte auch von anderen Vereinen genutzt wurde, wie aus einer etwas vergilbten, vom damaligen Bürgermeister Leonhard Schmucker unterzeichneten Vormerkung hervorgeht.

Neben vielen sportlichen Großereignissen im Ranggeln und Fingerhakln oder der Steinheber-WM während der Olympiade in München wussten die Brauchtumssportler schon immer, wie sie medienwirksam auf sich aufmerksam machen können. Groß aufgemachte Gazetten berichten von einer Protestversammlung auf der Raffner- Alm, währenddessen der geladenen Politprominenz der Unmut der Fingerhakler entgegenschlug. Stein des Anstoßes war die offenbar unbedachte Einschätzung des Ministerpräsidenten- Sohns Harald Hoegner, Fingerhakln sei keine Veranstaltung im Sinne bayerischer Kultur- und Heimatpflege. Da kam er gerade an die Richtigen… Letztlich knickte die Politik doch ein und der Zuschuss zur Hakler-Olympiade wurde gewährt.

Eine weitere kuriose Geschichte, bei der es um eine Einbrecherjagd in den USA geht, soll den kurzen Einblick in eine nicht alltägliche Vereinsgeschichte beschließen. Während ihres Aufenthalts zu den World Wristwrestling Championships (Armdrücker-WM) in Kalifornien schnappten der bayerische Teilnehmer Max Blüml und sein Betreuer Hans Pichler einen langgesuchten Kaufhausdieb. Für ihr beherztes Eingreifen mit Verfolgungsjagd bekamen die beiden den Goldenen Schlüssel mitsamt Dankesurkunde der Stadt Petaluma überreicht.

Öffentlich lag die Chronik der Brauchtumssportler bereits zweimal auf: während des 50-jährigen Jubiläums und im Rahmen der Sommerausstellung »Begegnungen« in der Alten Schule.

 

Ludwig Schick

 

22/2017