Die Anfänge des Staatl. Landschulheims Marquartstein
Vom privaten »Landerziehungsheim« zum modernen neusprachlichen Gymnasium





Im Oktober 2013 kann das Staatliche Landschulheim Marquartstein auf eine 85-jährige bewegte Geschichte zurückblicken. Denn genau am 13. Oktober 1928 gründete Hermann Harless (1887 bis 1961) mit sieben Kollegen und 16 Schülern auf der Burg Marquartstein ein Landerziehungsheim, aus dem sich das heutige Staatliche Landschulheim entwickelte. Harless war ein Schüler von Hermann Lietz, dem Gründer der ersten Landerziehungsheime in Deutschland (z. B. Ilsenburg am Harz), der neue pädagogische Leitziele setzte. Die Jugend sollte - anders als sonst üblich im Zeitalter Kaiser Wilhelms - nicht nur Gedächtnisdrill und unterwürfiger Abhängigkeit von Erwachsenen in den Schulkasernen einer Großstadt ausgesetzt sein, sondern er verlangte eine »innere Schulreform« mit einer ganzheitlichen, natürlichen und doch kulturbetonten Erziehung. Die Schüler sollten »aus eigener Selbstbestimmung in eigener Verantwortung, mit innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten und für diese innere Freiheit unter allen Umständen geschlossen eintreten«, wie es in einer Proklamation von 1913 heißt.
Dem Erziehungsprinzip entsprechend wurde der Standort der Schule aus den »verderblichen Einflüssen der Stadt« hinaus in ländliche Abgeschiedenheit auf eine romantische Burg verlegt. Das kameradschaftliche Zusammenleben zwischen Erziehern und Zöglingen in familienähnlichen Gruppen, sogenannten »Kameradschaften«, die Abwechslung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit, und die Abhärtung im Sport waren weitere Ziele. Die Bildung zum »sozialen Menschen« versprach man sich durch eine weitgehende Schülerselbstverwaltung bei der Organisation des Heimes. Es gibt auch heute noch zahlreiche andere bekannte Internate, wie zum Beispiel Salem oder Schondorf, die nach diesem Muster gegründet worden sind, wenngleich sich heute oft nur noch Reste des alten Landerziehungsgedankens finden lassen.
Wie in anderen Landerziehungsheimen waren auch in Marquartstein die Erzieher immer zugleich Lehrer. Die Koedukation (gemeinsame Erziehung von Mädchen und Buben) war selbstverständlich und externe Schüler wurden nur wenige aufgenommen. Innerhalb kürzester Zeit wuchs die Schülerzahl auf 70, etwa ein Drittel Mädchen. 1933 mussten bereits das heute nicht mehr existierende »Kapellenhaus« unter der Burg, und das sogenannte »Neue Schloss«, das auch heute noch den Kern der neuen Schule bildet, und zwei weitere Gebäude dazu gemietet werden. Noch immer aber herrschten familiäre Verhältnisse mit Hausmusik und Theaterspielen. 1935 besuchten schon über 100 Schülerinnen und Schüler die Schule, wobei die Internen zum größten Teil aus Norddeutschland kamen. In den Jahren 1940/41 konnte mit Hilfe von Elternspenden das Achenhaus mit Nebengebäude gebaut werden.
»Politisch unzuverlässig«
Ein gewaltiger Einschnitt für die weitere Entwicklung des Landschulheims war die Zeit des Nationalsozialismus. Aus Briefen und Berichten jener Zeit geht hervor, dass Hermann Harless so wie viele andere, zunächst große Hoffnungen in Hitler setzte und zu spät erkannte, wie sehr er sich getäuscht hatte. In einem Rundbrief von 1938 konnte der Schulleiter Eltern und Freunden der Schule mitteilen, dass aufgrund der »straffen Gemeinschaftserziehung der Jugend auf dem Lande in ständiger Verbindung mit Natur und ungebrochenem Volkstum« das Landerziehungsheim Marquartstein zu den wenigen Privatschulen gehörte, die selbstständig fortbestehen durften. Aber nicht lange. 1943 wurde die Schule verstaatlicht und Hermann Harless musste die Schulleitung abgeben, weil er »politisch unzuverlässig« war, wie er später schrieb. Die neue Bezeichnung für die Schule war »Deutsche Heimschule«, der Direktor ein überzeugter Nationalsozialist. In den folgenden 10 Jahren wechselten nicht nur Lehrer und Erzieher in schneller Folge, sondern auch sieben kommissarische Leiter oder Direktoren führten jeweils kurz nacheinander die Schule. Nach dem Willen des Kultusministeriums stand nun nicht mehr das Heim im Vordergrund, sondern die Schule mit entsprechend genormten Leistungsanforderungen. Auch die Situation innerhalb der Lehrer- und Erzieherschaft - auf der einen Seite die »alte Garde« mit den Landerziehungsidealen im Kopf, auf der anderen die »Neuen«, die von den alten Zöpfen nicht mehr viel wissen wollten - machte die Situation nicht einfacher.
1950 ließ das Ministerium, damals unter Dr. Dr. Alois Hundhammer den Schulleiter und viele Lehrer und Erzieher auswechseln und schaffte überdies überraschend die Koedukation ab.
Ab dieser Zeit zeigte sich aber auch, dass die Verstaatlichung der Schule große Vorteile hatte. Neben normierten Leistungsstandards und einem gut ausgebildeten Lehrer- und Erzieherpersonal war auch die materielle Grundlage gesichert. In Gärtnerei, Schreinerei, Töpferei, Elektrowerkstatt und Fotolabor etc. lebte der Werkunterricht, der bis heute als Wahlfach am Landschulheim angeboten wird, wieder auf, der Sportplatz wurde hergerichtet und für die musische Erziehung konnte mit Konzerten, Theaterbesuchen, Ausstellungen etc. viel getan werden.
Bauliche Entwicklung des Landschulheims
Der Aufschwung zeigte sich auch in der baulichen Entwicklung. Die für heutige Ansprüche katastrophalen Wohnverhältnisse auf der Burg wurden nach und nach verbessert, und 1958 fand die Einweihung des neuen Heims mit Küche, Fest- und Speisesaal sowie Unterhaus und Oberhaus statt. Der deutlichste Bruch mit der Vergangenheit war 1959 der endgültige Auszug der Heimschüler aus der Burg. Gegenüber den früheren, jedenfalls von außen betrachtet »romantischen Zeiten« war damit die »neue Sachlichkeit« eingekehrt. Dafür blieb mit den zwei Außenhäusern, dem 1959 gekauften Schöneck und dem Achenhaus, ein Teil der ehemaligen intimen Atmosphäre erhalten.
Unter Dr. Hanns Morawetz, der 1955 die Schulleitung von Dr. August Rahm übernahm, wurden auch das sogenannte Neue Laborhaus mit den Fachräumen für den naturwissenschaftlichen Unterricht gebaut, sowie das gesamte Umfeld der Schule samt Inventar entscheidend verbessert. Ein Höhepunkt war 1964 der Bau des Hallenbads. Nachdem es allerdings etwa 20 Jahre lang wegen baulicher Mängel nicht mehr benutzt werden konnte, wurde es im letzten Jahr, 2012, abgerissen. Bis September 2014 will das Staatliche Landbauamt an dieser Stelle eine Nahwärmeversorgung für das LSH bauen. Dafür sind umfangreiche Tiefbauarbeiten auf dem gesamten Gelände notwendig, weil die einzelnen Häuser der Schule an diese Zentrale angeschlossen werden müssen. Im Zuge dieser Arbeiten soll auch eine neue Telefon- und Brandanlage installiert werden.
Wandel in der Heimerziehung
Noch heute kann man ältere Lehrer des Landschulheims und Schülereltern aus jener Zeit manchmal vom pädagogischen Charisma des Dr. Morawetz und seinem positiven Einfluss auf die Heimerziehung in jener Zeit schwärmen hören. Pädagogisches Konzept war es, der Veräußerlichung des Lebens und der aufkommenden Wohlstandsgesellschaft mit ihrer Konsumhaltung entgegenzuwirken. Manche Anekdote wird erzählt, wie sich der Direktor weder bei Schülern noch Eltern ein Blatt vor den Mund nahm und sich auch nicht scheute, ihnen persönlich einen oft (nicht immer gern gehörten) Rat zum Wohle ihrer Kinder zu geben. Im Festsaal hing denn auch der Leitspruch an der Wand »Leiste Deinen Zeitgenossen, was sie bedürfen, nicht was sie loben!«
Während in den 50er und 60er Jahren die Heimerziehung noch als ein Privileg und als optimale Ausbildung in jeder Beziehung galt, wurden im Laufe der Zeit ganz andere Gründe dafür ausschlaggebend, ein Kind ins Internat zu schicken: weiter Schulweg, Auslandstätigkeit der Eltern, Erziehungsschwierigkeiten, Ehescheidungen etc. Die Hauptaufgabe der Heimerzieher bestand zunehmend darin, Kindern in Not zu helfen. Erst ab dem Schuljahr 88/89 wurden im Landschulheim erstmals auch wieder Mädchen ins Internat aufgenommen.
Schwankende Schülerzahlen
Schon nach Kriegsende war die Zahl der Schüler, bedingt durch die vielen Flüchtlinge im Achental, stetig angestiegen. 1958 waren es 385 Schüler, 10 Jahre später 431 und 1978 schon 700. Heute geht wegen der gesunkenen Geburtenrate die Zahl der Schüler wieder zurück. Während im Schuljahr 2012/2013 noch 81 Schüler die drei fünften Klassen des LSH besuchten und insgesamt knapp 700 Schüler, gab es für dieses Schuljahr nur 62 Anmeldungen für die fünften Klassen.
Bauliche Veränderungen
Lange Jahre war die unzureichende bauliche Situation der Schule häufiger Anlass zu Klage. Wegen der insgesamt gestiegenen Schülerzahl musste bereits seit 1973 das Gebäude der alten Volksschule an der Burgstraße benutzt werden. Ab 1981 war dies nicht mehr möglich, so dass kurzfristig im März 1982 ein provisorisches Nebengebäude, der »Bunker« oder »die Schuhschachtel«, wie die Schüler ihn nannten, aufgestellt wurde. Erst elf Jahre später konnte er abgerissen und durch den modernen Erweiterungsbau mit zusätzlichen Unterrichtsräumen ersetzt werden. Damals wurde auch das sogenannte Neue Schloss komplett renoviert.
1988 bekam das LSH eine neue Zweifachturnhalle. Die grundlegende, auch energetische Renovierung der Nebengebäude, Ober- und Unterhaus, Küche, Festsaal und Speisesaal schloss sich im Laufe der folgenden Jahre an. Seit dem Schuljahr 2004/2005 ist das Staatliche Landschulheim die einzige Schule in Bayern, an der Schüler neben dem regulären Schulunterricht gleichzeitig eine praktische Ausbildung zum Schreinergesellen erhalten können. Dafür entstand 2004 das neue Schreinereigebäude mit der modernsten technischen Ausstattung für einen Ausbildungsbetrieb.
Trotz und vielleicht auch wegen aller Veränderungen im Laufe der Zeit scheint die Akzeptanz des Staatlichen Landschulheims in der Bevölkerung hoch zu sein. Die enge Bindung vieler Ehemaliger an die Schule wird auch dadurch deutlich. dass zu den verschiedensten Festen immer wieder viele von ihnen kommen.
Christiane Giesen
Quellen:
Jahresberichte des Staatlichen Landschulheims Festschriften zum 60- und 80-jährigen Bestehen der Schule
41/2013