Jahrgang 2007 Nummer 38

Die alte Dorfschule

ie stand meist neben der Kirche und war der Stolz jeden Dorfes

Wie in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen hat sich in den letzten fünfzig Jahren auch in der Schule ein grundlegender Wandel vollzogen. Denken wir nur an die großen, bestens ausgestatteten Schulhäuser mit vielen Lehrern und Fachlehrkräften, mit modernem Mobiliar und Lehr- und Hilfsmitteln wie Tageslichtprojektor, Fernseher, Kopierer und Computer oder an Einrichtungen wie Mittags- und Ganztagsbetreuung. All das erwartet man heute von einer Schule. Es ist eine ganz andere Schulsituation, die unseren Großeltern noch unvorstellbar war.

Trotz der begrüßenswerten Verbesserungen wäre es ungerecht, die »alte« Schule gegenüber den modernen Schulen von heute als minderwertig abzuqualifizieren. Sie war ein ganz wichtiges Glied in der Schulentwicklungsgeschichte unseres Landes und zeichnete sich durch eine hervorragende Bildungsarbeit aus. Ihre Leistungen sind unbestritten.

100 Kinder in einem Schulraum

Dort, wo heute moderne Schulhäuser mit Turnhallen und Sportplätzen stehen, hatte früher die aus heutiger Sicht kleine Dorfschule ihren Platz, meist gleich neben der Kirche. Sie war der Stolz eines jeden Dorfes und wurde von allen Schülern besucht, also von der 1. bis zur 7. Klasse. Unterrichtet wurden sie von einem einzigen Lehrer, im besseren Fall noch von einem »Schulfräulein«, in einem oder zwei Schulräumen. Heute klagen Lehrkräfte nicht zu Unrecht über Klassen mit über 30 Kindern, damals waren es nicht selten 100 (!).

Doch wie konnten die vielen Schüler der verschiedenen Jahrgänge etwas lernen, ohne sich gegenseitig zu stören? Das Geheimrezept hieß »Stillarbeit«: Wenn sich der Lehrer einer Schülergruppe widmete, mussten die übrigen Kinder allein arbeiten. Und immer wieder halfen die Größeren den Kleineren, sie mussten mit ihnen in der Fibel lesen und ihnen den harten Griffel auf der Schiefertafel führen. In dieser Schulgemeinschaft nahm man auf minderbegabte Kinder Rücksicht, denn eine Förderschule im heutigen Sinn stand nicht zur Verfügung.

Disziplinschwierigkeiten, über die heutige Lehrer zu klagen haben, waren kaum bekannt, nicht zuletzt deswegen, weil sich die Eltern stets hinter den Lehrer stellten. Seine Autorität war unangefochten. Das Gleiche galt auch für den Herrn Pfarrer, den »Herrn Hochwürden«, der wie der Lehrer zu Respektspersonen des Dorfes gehörte.

Das Lehrerpult erhöht

Die vielen Schüler saßen recht beengt in langen, harten Schulbänken. Und was heute undenkbar wäre: Die Kinder waren nach Geschlecht getrennt: auf der einen Seite die Knaben, auf der anderen die Mädchen. Trotzdem gab es natürlich immer wieder Blickkontakte zwischen den beiden Gruppen.

Auf der kleinen Schreibfläche der Bank war nur wenig Platz. Er reichte gerade für die Schiefertafel und die Griffelschachtel. Und da es noch keinen Füllfederhalter gab, durfte ein kleines, in der Bank versenktes Tintenfass nicht fehlen, das vom Lehrer immer wieder aus einer großen Flasche nachgefüllt wurde. Geschrieben wurde mit einer spitzen Feder, mit der natürlich die Schulanfänger ihre liebe Not hatten.

Damit er auch von allen Schülern gesehen werden konnte und auch keine Zweifel an seiner Autorität aufkamen, hatte der Lehrer seinen Platz auf einem erhöhten Pult. Daneben stand eine nicht allzu große Stelltafel, die man auch umdrehen konnte. Befeuchtet wurde sie mit einem Schwamm, der in einer Schüssel mit Wasser lag.

Mit Unterrichtsmitteln war die alte Schule nicht sehr gesegnet. Ein wichtiges Hilfsmittel war die russische Zahlmaschine, auf der mit Hilfe von 100 beweglichen roten und weißen Holzkugeln alle wichtigen Rechenoperationen, die Und- und Weg-, die Mal- und Geteiltaufgaben, veranschaulicht werden konnten. Für die größeren Schüler hing an der Wand eine große Deutschlandkarte oder ein Wandbild mit der Krönung von Karl dem Großen oder der Schlacht im Teutoburger Wald.

Einheit von Kirche und Schule

Ein ungeschriebenes Gesetz war es, dass die Kinder mehrmals in der Woche vor dem Unterricht die hl. Messe in der Kirche besuchten, besonders in der Advents- und Fastenzeit. Da der Lehrer in den meisten Fällen auch den Organistendienst zu versehen hatte, war die Einheit von Kirche und Schule auch personell sichtbar. Sehr genau achtete man darauf, dass die Kinder die Lehrsätze des Katechismus und die wichtigsten Gebete fehlerfrei aufsagen konnten.

Zu den Dienstpflichten des Lehrers gehörte meist auch der Unterricht in der »Sonn-« oder »Feiertagsschule«, die bis Mitte der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein fester Bestandteil des Schulsystems war. Die Sonntagsschule begann nach dem Gottesdienst und musste von allen Schülern besucht werden, die die »Werktagsschule« bereits verlassen hatten. Der Unterricht, der zwei bis drei Stunden dauerte, sollte die in der Werktagsschule erworbenen Kenntnisse festigen. Sie war weder bei den Schülern noch bei den Lehrern sonderlich beliebt.

Stärke der alten Schule

Die alte Landschule, notwendigerweise mit vielen Mängeln behaftet, gab ihren Schülern vieles mit auf den Lebensweg, das die heutige Schule, trotz bester äußerer Bedingungen und Möglichkeiten, nicht zu vermitteln vermag. Rückblickend sind die Vorzüge der kleinen Schule, die vor vierzig Jahren den modernen Schulzentren weichen musste, nicht gering zu achten. Die Stärke der alten Schule lag vor allem im erziehlichen und mitmenschlichen Bereich. Ohne nostaglischen Überschwang lässt sich sagen: Die kleine Landschule wirkte vor allem pädagogisch auf die Schüler ein. Und was heute so sehr beklagt wird: In ihr wurde noch auf die Vermittlung von Werten wie Rücksichtnahme, Bescheidenheit, Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft, geachtet, die die Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens bilden.

Dr. Albert Bichler



38/2007