Der Traunsteiner Bergsteiger Gustl Kröner
Ein begnadeter Künstler und einer der besten Kletterer seiner Zeit






Es herrscht Eiseskälte an jenem 19. August 1933, als sie nach Mitternacht von ihrem Zelt am Fuß der Matterhorn-Nordwand aufbrechen. Am frostklirrenden Nachthimmel funkeln die Sterne. Den Bergschrund erreichen sie im Morgengrauen und Gustl der erfahrene Eisgeher übernimmt die Führung. »Das Eis ist prächtig«, sind die letzten Worte, die sein Seilkamerad Walter Stösser mitbekommt, während Gustl oberhalb der Randkluft seinen Blicken entschwindet. Meter für Meter gleitet das Hanfseil durch Stössers Hände. Nur die Pickelschläge und das gedämpfte Rauschen der ausbrechenden Eissplitter durchbrechen die Ruhe des frühen Morgens. Plötzlich Steinschlag. Zischend und krachend schlagen Felsbrocken ein, zerbersten in scharfkantige Splitter, die wie ein Hagelschauer auf die schutzlos in der Eiswand stehenden Kletterer niederprasseln. Danach herrscht gespenstische Stille. Schon hofft Stösser, dass alles, wie schon so oft, gut vorbeigegangen wäre. Doch langsam kommt das Seil herabgeglitten und im nächsten Augenblick schlägt Gustls Körper neben ihm auf. Einer der letzten Steine hatte ihn am Kopf getroffen. Er war sofort tot.
Gustl Kröner und Walter Stösser hatten die Wand über zwei Wochen lang belagert. Sorgfältig beobachteten sie den Steinschlag und studierten gewissenhaft die Vereisung der Felspartien nach jedem Wettersturz. Zweimal stiegen sie ein. Aber Steinschlag und Eislawinen zwangen sie jedes Mal zur Umkehr. Seit die Münchner Franz und Toni Schmid 1931 die Wand erstmals durchstiegen, war noch keiner Seilschaft eine Wiederholung gelungen. Mitte August besserte sich das Wetter. Es wurde kalt. Der Frost sorgte für Ruhe in der Wand. Die Verhältnisse erschienen günstig. Den plötzlichen Wärmeeinbruch in den oberen Luftschichten konnten sie nicht vorhersehen. Der Wärmeeinbruch löste den todbringenden Steinhagel aus.
»Eines Bergsteigers letzte Fahrt«
Diese Titelzeile steht über dem Bericht des Traunsteiner Wochenblatts zur Beerdigung Gustl Kröners am 26. August 1933. Von weit her waren Freunde und Seilgefährten in den Traunsteiner Waldfriedhof gekommen. Im düsteren Schatten dunkelgrüner Fichten nahmen sie Abschied von einem der besten Kletterer Deutschlands. Berühmte Bergsteiger jener Zeit standen am offenen Grab. Anderl Heckmair, Wilo Welzenbach, Fritz Bechtold, Andreas Hinterstoisser, Franz Schmid um nur einige zu nennen. Gustl Kröner war Mitglied der legendären Münchner Sektion Bayerland. Der damalige Vorstand, Dr. Walter Hartmann, erinnerte an den herausragenden Alpinisten und würdigte den begabten Vortragsredner und Verfasser vielbeachteter, alpiner Publikationen. Trotz seiner Jugend hatte sich Gustl Kröner als Kunstmaler und Buchillustrator bereits einen Namen gemacht. »Er sah seine Berge nicht nur mit den Augen des Felssportlers sondern mit der Seele des Künstlers,« schrieb der Redakteur des Traunsteiner Wochenblatts im Jahr 1933.
Gustl Kröner kam am 20. März 1908 in Traunstein auf die Welt. Sein Vater war aus Pforzheim zugezogen und hatte in der kleinen Stadt vor den Chiemgauer Bergen ein Malergeschäft eröffnet. Als Lehrling im väterlichen Betrieb scheint der junge Gustl seinen beruflichen Werdegang nicht immer mit dem nötigen Eifer verfolgt zu haben, den sich sein Vater gewünscht hätte. Gustls Leidenschaft gehörte den Bergen. Eine erste Feuerprobe bestand er am Sonntagshorn, wo sie sich »mit zusammengeknüpften Hosenträgern im Fels sicherten« wie sein Freund, der Huber Hans, später zu erzählen pflegte. Viel Zeit verbrachten die beiden Buben auf der Kampenwand und dem Hörndl, wo sie voller Bewunderung ihren Idolen – dem Merkl, dem Welzenbach oder dem Bechtold beim Klettern zuschauten. Und dann stiegen sie selbst in die schwierigsten Routen ein, anfangs desolat »gesichert« mit einem verlängerten Wäschestrick. 1932 schreibt Gustl Kröner im »Bergsteiger« im Rückblick auf seine Jugendjahre, wie er sich »voll Tatendrang und feuriger Sehnsucht nach Bergerlebnis und Romantik« in Felswände wagte, denen er damals gar nicht gewachsen war. An der Grundübelkante in der Reiteralpe schien sein Schicksal bereits besiegelt, als er nach einem Sturz ins Seil den sichernden Freund mit aus der Wand riss. Sie hatten unerhörtes Glück. Das Seil, das beide verband, verfing sich an einem Felsblock und stoppte den tödlichen 300-Meter-Absturz. »Gedemütigt, in meinem Stolz zutiefst verletzt, humpelte ich zu Tal. Ich wusste jetzt, was ich noch nicht konnte. Dieser klägliche Versuch gab mir die Richtung vor. Er führte mich vom blinden, leichtsinnigen Wagemut zu überlegtem Handeln und zum Erfolg.«
Draufgängertum und Lust am Risiko
Was der inzwischen gereifte 24-jährige Spitzenalpinist da beschrieb, gilt nur bedingt für den jungen Gustl Kröner. Bei seinen Weggefährten war sein Draufgängertum berüchtigt und seine Lust am Risiko war für manche grenzwertig. Er selbst beschreibt in einem Aufsatz im »Bergsteiger« wie er trotz aufziehendem Gewitter in den Fehrmannweg der Guglia di Brenta einstieg. »Der Regen schoss in Strömen mit Hagelkörnern vermischt auf uns herab. Krachend schlug ein Blitz am Gipfel ein. Schwefelgestank erfüllte die Luft. Aber Rückzugsgedanken gewannen trotzdem nicht die Oberhand. ,So lang’ der Turm net einfällt, lassen wir net locker’, ermunterte ich meinen Freund. Die halbe Wand lag ja schon hinter uns«. Zähneklappernd überstanden sie das Abenteuer. »Ihr fürchtet wahrlich Tod und Teufel nicht« sagte der Wirt der Tosahütte, als die zwei spät in der Nacht triefend nass in die Stube stolperten.
Ende der 1920er Jahre durchstreifte Gustl Kröner mit seinen Freunden von der Traunsteiner Klettergilde auf Fahrrädern die Alpen. Kletterausrüstung und Zelt waren auf dem »Gigg« verstaut, dem einachsigen Anhänger, den sie oft bis zu den Zeltplätzen unterhalb der Dolomitenwände hinaufzogen. Seine Tourenberichte aus dieser Zeit verzeichnen Erstbegehungen im Tennengebirge in den Loferer Steinbergen und in den Dolomiten, aber auch große Westalpenunternehmungen wie die zweite Begehung der Sentinelle Rouge am Mt. Blanc.
Im Januar 1932 stieg er mit Hans Huber durch die Watzmann-Ostwand. Hellmut Schöner schreibt in seinem Ostwandbuch »2000 Meter Fels«: Den 2. Durchstieg im Winter führten die beiden Traunsteiner in überraschend kurzer Zeit durch. Sie brachen um 6 Uhr früh in Königssee auf, gingen am Seeufer entlang – die Schifffahrt war wegen Vereisung eingestellt – und querten über das dünne Spiegeleis nach Bartholomä. Um 10 Uhr stiegen sie in die Wand ein und waren schon um 18 Uhr am Beginn des 4. Bandes. Nach einem Biwack in einer Schneehöhle brachen sie am nächsten Morgen um 8 Uhr auf und standen um 13 Uhr auf der Südspitze.
Was in dem Buch nicht drinsteht, hat mir der Huber Hans erzählt: »Bis um 2 Uhr in der Nacht hat der Gustl im Hotel Königssee auf’m Faschingsball getanzt. Er is mit an richtigen Kater in die Ostwand eing’stieg’n«.
Ein stürmischer Westalpensommer
In seinem Erinnerungsbuch schreibt Anderl Heckmair: »Die letzte Kaisertour 1930 wurde für mein bergsteigerisches Leben ausschlaggebend. In der Totenkircherl Westwand lernte ich den Traunsteiner Gustl Kröner kennen«. Bis tief in die Nacht saßen die beiden im Stripsenjochhaus. Gustl erzählte von den großen unbezwungenen Wänden, den »letzten Problemen der Alpen«. Auch das Zauberwort »Eiger Nordwand« fiel. Im Morgengrauen waren sie sich einig »eine dieser Wände muss unser werden«.
Im Juni 1931 radelten sie nach Chamonix. Drei Monate lang sollte die Leschaux-Hütte am Fuß der Grandes Jorasses ihr Zuhause werden. Aber schon der erste Versuch an der Nordwand scheiterte. Ein Gewitter verwandelte die 1200 Meter hohe, eisdurchsetzte Granitmauer in ein Inferno aus Stein- und Eisschlag. Nur mit viel Glück entkamen sie dem Chaos. »Der Versuch machte uns vorsichtiger aber nicht mutlos«, schrieb Heckmair.
Das Wetter blieb unbeständig. Auch die nächsten Versuche scheiterten. Sie fanden andere Herausforderungen: Petit Dru, Grépon-Ostwand, Brenvaflanke, Rochefort- und Péterét-Grat. Meist trafen sie die allerschlechtesten Wetterverhältnisse an. Gustl schreibt resigniert: »Es schien unser Schicksal zu sein, von einem Sturm in den anderen gejagt zu werden. Unsere Kleidung zerlumpt, zerrissen, durchnässt. Zum ersten Mal begann ich diese Titanen aus Eis und Granit zu hassen. Mich überkam eine Sehnsucht nach Sonne, Wasser und Weite«.
Sie stiegen ab nach Chamonix, schwangen sich auf ihre Räder und strampelten Richtung Mittelmeer. Welch ein Kontrast zu ihrer modrig nasskalten Leschaux-Hütte: Monte Carlo, Nizza, Cannes – pulsierendes Leben, Luxus, Palmen, Agaven, farbenbunte Blüten, Licht und Sonne. In Marseille landeten sie im Obdachlosenasyl »zwischen Huren, Matrosen und verkommenem Gesindel aus aller Welt«. Tagsüber schleppten sie zentnerschwere Getreidesäcke, um ein paar Franc zu verdienen. Schnell kam da die Sehnsucht nach den Bergen zurück. Kräftig stiegen sie in die Pedale. Nach 600 Kilometern und fünf Pässen standen sie wieder vor ihrer Grandes Jorasses Nordwand. Aber die Wand lag immer noch unter einem Eispanzer. Enttäuscht suchten sie sich ein anderes Ziel. Es lag nicht weit entfernt von ihrer Hütte: die Nordwand der Grandes Charmoz.
Die Charmoz Nordwand: Eisklettern im Grenzbereich
Über dem Mer de Glace ragt wie der Eckzahn eines Tigers die Aiguille Grandes Charmoz auf. Durch die eiserfüllte Nordwand, von Welzenbach und Merkl nur zum Teil bezwungen, wollten sie eine elegante direkte Route finden. Der Plan war, im unteren Wanddrittel zu biwakieren und am nächsten Tag den Durchstieg zu wagen. Als sie gegen 18 Uhr das mittlere Steilstück der Eiswand schon hinter sich hatten, fanden sie, dass es viel zu früh sei für ein Biwak. In der 80 Grad steilen Eisrinne, die zum Gipfel führte, war erst recht kein Platz zum biwakieren. Es wurde ein Wettlauf mit der einbrechenden Dunkelheit. Zwischen Eiswand und Fels tat sich ein Spalt auf. Sie spreizten nach oben wie sie es vom Dolomitenfels her gewohnt waren. Die Steigeisen knirschten auf dem harten Granit. Sie warfen alle Bergsteigerregeln über Bord. Sie kletterten mit höchstem Risiko, beide gleichzeitig, ohne zu sichern. Am letzten Eisüberhang zum Gipfelgrat wurde es endgültig Nacht.
»Glück haben und auf Glück vertrauen, alle pessimistischen Gedanken verbannen – nicht sinnlos, aber im entscheidenden Moment mit hemmungslosem Draufgängertum loslegen – das war bei allen meinen großen Bergfahrten der letzten Jahre die Parole«, schreibt Gustl Kröner in seinem Bericht über diese Erstbegehung, die damals unter Europas Bergsteigern großes Aufsehen erregte.
Blättert man durch die Jahresberichte der Sektion Bayerland der Jahre 1928 bis 1934, findet man Listen, in denen die Lichtbildervorträge Gustl Kröners aufgeführt sind. Er war in ganz Deutschland unterwegs: Berlin, Hamburg, Leipzig, Dresden und vielen anderen Städten. Er schreibt für die wichtigsten alpinen Publikationen vielbeachtete Artikel. Zur Illustration fertigt er Federzeichnungen an, die ein hohes künstlerisches Niveau auszeichnet.
Im Jahresband 1933/34 der Zeitschrift »Bergsteiger« schrieb Fritz Stadler Portraits über »Die großen Fels- und Eisgeher der Jetztzeit«. Da steht der Name des Traunsteiner Bergsteigers Gustl Kröner neben der Innsbrucker Kletterlegende Hias Auckenthaler, dem Erstbegeher der Zinne Nordwand, Angelo Dimai, neben Attilo Tissi, Wilo Welzenbach, Fritz Bechtold und Anderl Heckmair.
Gustl Kröner hatte sich nicht nur im Genre der Alpenmaler einen Namen gemacht. Die führende deutsche Zeitschrift für angewandte Kunst, »Die Mappe«, widmete ihm 1933 ein Sonderheft. Es enthält Ölbilder, Aquarelle und innenarchitektonische Entwürfe. Für das Herbstsemester 1933 erhielt er von der Universität Schwerin einen Ruf als Dozent für Malerei und Graphik.
Mit dem Fahrrad zum Hohen Atlas nach Marokko
Im Sommer 1932 unternahmen Gustl Kröner und Anderl Heckmair eine Expedition nach Marokko in den Hohen Atlas. Die Warnung wohlmeinender Freunde vor der drohenden Zwangsrekrutierung in die Fremdenlegion schlugen sie in den Wind. Sie schwangen sich in der Münchner Innenstadt auf ihre Drahtesel und hatten in Pasing schon mit den ersten Defekten zu kämpfen. Ein anderes Transportmittel als das Fahrrad ließ ihr Geldbeutel gar nicht zu. In Spanien mussten sie allerdings feststellen, dass wegen der anstrengenden Radlerei viel zu viel Geld fürs Essen draufging. Da schien die Eisenbahn doch billiger zu sein. Sie ließen die Räder in Barcelona zurück und reisten per Bahn weiter.
In Marokko begeisterte sich Gustl Kröner nicht nur für die Klettereien und Erstbegehungen in den Viertausendern des Hohen Atlas. Den Künstler zog es in die orientalischen Basare zu den Fakiren, Schlangenbeschwörern, den Märchenerzählern und den geheimnisvoll verschleierten Marokkanerinnen. Er hielt diese fremde Welt mit seiner Tuschfeder fest. Leider sind alle seine Zeichnungen verschollen. Mit deutschen Fremdenlegionären zogen sie durch das Nachtleben von Marakesch »in die verborgensten Winkel, verstecktesten Kneipen und Tanzlokale, wo hebräische Tänzerinnen und rassige Berbermädchen ihr Unwesen trieben«. Bei der Heimfahrt landeten sie in Tanger wegen illegalem Grenzübertritt im Knast. Sie waren heilfroh als sie sich in Spanien wieder auf ihre Fahrräder schwingen konnten, um in 250-Kilometer-Tagesetappen nach Hause zu strampeln.
Gustl Kröner war ein außergewöhnlicher Mensch. Weggefährten schildern ihn als feierfreudigen Kameraden voll Humor und Lebenslust. Fachleute sagten ihm eine große Zukunft als Maler und Illustrator voraus. In der alpinen Literatur der 1930er Jahre wird er als einer der besten Fels- und Eisgeher seiner Zeit beschrieben. Legendär waren seine Lust am Risiko, seine Unbekümmertheit und sein Wagemut. Es ist deshalb eine Ironie des Schicksals, dass ihn der Bergtod gerade dann ereilte, als er erst nach sorgfältigster Planung und wirklich mit äußerster Umsicht in eine Wand eingestiegen war.
Gustl Kröner stand kurz davor, eine Familie zu gründen. »Diese Wand noch«, soll er seiner langjährigen Verlobten Hildegard versprochen haben, »dann heiraten wir«. Danach wollte er sich auf das konzentrieren, was er als seine eigentliche Berufung empfand – auf seine Kunst. Der Stein, der ihm in der Matterhorn-Nordwand zum Verhängnis wurde, war nicht größer als eine Walnuss.
Otto Huber
Quellen:
Eigene Publikationen G. Kröner: Deutsche Alpenzeitung, Der Bergsteiger, Der Bayerländer, Jahrg. 1929 bis 1933
Jahresberichte Sektion Bayerland, Jahrg. 1928 bis 1934
A. Heckmair: Die letzten Probleme der Alpen
A. Heckmair: Mein Leben als Bergsteiger
Hans Pfann: Menschen im Hochgebirge
Zeitungsberichte aus dem Jahr 1933:
Traunsteiner Wochenblatt, Reichenhaller Tagblatt, Deutsche Alpenzeitung, Münchner Neueste Nachrichten, Der Bayerländer Heft 47
19/2014