Jahrgang 2013 Nummer 30

Der heilige Severin von Noricum

Er war Missionar und Klostergründer in der spätantiken Welt

Darstellung des Heiligen am Severinaltar in Neapel (um 1470).
Haupttor, Porta praetoria, des Legionslagers von Regensburg. Beim Bau des Bischofshofes wurde das Tor mit einbezogen. Noch heute steht der Torturm über zwei Geschoße. Die Porta praetoria ist der größte noch erhaltene römische Hochbau in Süddeutschland.
Rundbogen der Tordurchfahrt der Porta praetoria in Regensburg. In der Römerzeit war die Durchfahrt doppelspurig.
Haupttor, Porta praetoria, des Legionslagers von Regensburg. Es ist gen Norden zur Donau hin ausgerichtet. Ursprünglich war der Torturm aus Kalksteinquadern 11 Meter hoch. Erbaut 179 AD.

Aus der Zeit der Völkerwanderung ist uns eine bedeutende Heiligenbiographie erhalten, die um das Jahr 511 n. Chr. entstanden sein dürfte. Sie bildet eine einzigartige Quelle über die Epoche. In anschaulicher Darstellung schildert der Text die wechselvolle Geschichte des römischen Grenzlandes, beschreibt die sinkende römische Kultur jener Zeit und gibt die Schrecken der Alemannenstürme wieder. In frühem Kirchenlatein ist diese Erinnerungs- oder Gedenkschrift verfasst. Es handelt sich um die Vita des vornehmen und gebildeten Italikers, christlichen Asketen, Missionars und Heiligen Sankt Severinus (= zu deutsch der Strenge, geboren um 410), der in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nach Christus die beherzte Verteidigung der römischen Provinzen Rätien und Noricum (ungefähr das heutige Österreich) gegen anstürmende »Barbaren« leitete. Der Verfasser der Vita, »Das Leben des heiligen Severin«, war Eugippius¹ – zum Ende seines Lebens (gestorben nach 533) vermutlich 3. Abt des Klosters Castellum Lucullanum bei Neapel –, der als langjähriger Schüler und Gefährte den Heiligen begleitet hatte.

Marodierende Alemannenverbände erobern die römische Provinz Rätien

Nach dem Erlöschen des weströmischen Reiches am 4. September 476 – das mit der friedlichen Absetzung des letzten Kaisers Romulus Augustulus durch den germanischen Heerführer Odoaker endete –, zerfiel in der einst blühenden Provinz Rätien, die nach dem romanisierten Volk der Räter benannt ist, der noch bestehende Grenzschutz gegen die ungeordnete und unwirtliche Welt der »Barbaren«. Rätien umfasste damals unter anderen das nördliche Alpenvorland zwischen dem südöstlichen Schwarzwald, der Donau und dem Inn. Im östlichen Teil der Provinz – bei den heutigen Städten Künzing, Passau und in der angrenzenden Region Ufernorikum zwischen Donau und Alpenhauptkamm (Hauptstadt: Lauriacum) – gestalteten sich die Verhältnisse differenziert. In diesen Gebieten erfolgte eine alemannisch / germanische »Barbarisierung« nicht vollständig. Zunächst überwog noch der romanisierte Anteil in der Bevölkerung und bei den Angehörigen des Militärs, die versuchten in ihrer tradierten Lebensweise weiter zu leben. Dabei mussten sich die in diesem inselartig von Italien abgeschnittenem Landstrich lebenden Provinzialen gegen permanente Übergriffe feindlicher Germanen-, Thüringerund Alemannenverbände wehren.

Die Alemannen – auch Alamannen genannt – gehören zum westgermanischen Kulturkreis. Hingegen ist die Bedeutung ihres Namens umstritten. Wahrscheinlich germanischen Ursprungs heißt er soviel wie »Menschen allgemein« oder »alle (wehrfähigen) Männer«.

Die Alemannen – als deren mannhafter Anführer die Vita Severini uns König Gibuld nennt – drangen nach dem endgültigen Zusammenbruch des Donaulimes nach Rätien ein. Schon seit einigen Jahrzehnten hatten an der spätantiken Grenzwehr immer öfter nichtrömische Söldner – lateinisch foederati – gedient, deren Kontingente sich vor allem aus Germanen böhmischer Herkunft – den Baiovari, den »Männern aus Böhmen« – zusammensetzten. Wie es scheint, wurden sie an ihrer Expansion nicht ernsthaft von den ehemaligen Foederaten gehindert. In deren Folge unterwarfen die Alemannen das gesamte baierische Voralpenland.

Regensburg und Augsburg widerstehen den alemannischen Eroberern

Interessanterweise gibt es im mauerumwehrten Legionslager Regensburg (Castra Regina = zu deutsch Lager am Regen) und in der Provinzhauptstadt Augsburg (Augusta Vindelicum) plausible Hinweise für ein Überleben größerer Bevölkerungsgruppen. Dafür spricht in Augsburg die Kontinuität des Kultes der heiligen Afra (gestorben um 304), der frühchristlichen Märtyrerin und Schutzpatronin der Stadt. Da in der Provinzmetropole kein Militär stationiert war, zeugen die archäologischen Funde für das Weiterleben der romanisierten Zivilbevölkerung.

Im militärischen Hauptstützpunkt der rätischen Provinz in Regensburg wurde germanische Keramik aus den römischen Baracken unter dem frühmittelalterlichen Niedermünster St. Erhard gefunden. Deshalb ist es sicher, dass sich dort Detachements der einstigen germanischen Söldner des Reichs und neue Zuzügler niederließen. Leider gibt es bislang keine archäologischen Hinweise dafür, ob diese Foederaten noch unter der militärischen Zentralgewalt standen? Offenbar übernahmen sie aber nach dem Ende der Römerzeit nahtlos die Herrschaft in der strategisch wichtigen Donaustadt.

Die Lokalforschung vermutete, dass der alemannische König Gibuld seinen Herrschaftssitz in Regensburg besaß. Hierfür fehlen allerdings konkrete Beweise. Erst mit der Residenz der ersten baierischen Herzöge aus dem Geschlecht der Agilolfinger – die vom 6. bis zum Ende des 8. Jahrhunderts regierten – und dem Bischofsitz begann die zweite große Epoche von Regensburg. Mit dem Bau der frühesten Kirche des Niedermünsters für Bischof Erhard um 700 nach Christus. lässt sich das erste agilolfingische Bauwerk historisch und archäologisch nachweisen.

Sankt Severin evakuiert die Provinzialen von Künzing nach Passau und Lorch an der Enns

Offensichtlich half der hl. Severin den an der Donau und in deren Hinterland verbliebenen Romanen in ihrer argen Bedrängnis. Er stärkte den erschöpften Widerstandswillen der Provinzialen, betete mit seinen Gemeinden und richtete sie durch geistigen Zuspruch auf. Seinem couragierten Einsatz und diplomatischen Geschick verdankte es die romanische Bevölkerung zwischen Niederbayern und Niederösterreich, sich noch eine Zeit lang zu behaupten.

Explizit macht die Vita Severini die damals wirtschaftlich zerrüttete Situation deutlich. Es gab weder genügend Kleidung noch Nahrung. Ständig waren die Provinzialrömer marodierenden Banden aus dem eigenen verarmten Land und den Überfällen der Alemannen ausgesetzt, die sich auf diesem Wege Getreide, Vieh und Sklaven verschafften. Die einzige Existenzgrundlage der letzten Romanen war die Landwirtschaft und gerade sie litt aufgrund der beharrlichen Kämpfe. Folglich waren leidvolle Hungersnöte nicht selten.

Dennoch ist es denkbar, auch Zweifel zu haben, ob das so düster gezeichnete Bild vom Ende der römischen Welt tatsächlich den wahren Verhältnissen in toto entsprach? Natürlich ist die Vita Severini eine tendenziöse Schrift – weshalb sie nicht zu tadeln ist –, die das Leben und die Taten des Heiligen in möglichst strahlendem Licht erscheinen lassen will. Dafür wählte der Autor Eugippius einen außerordentlich dunklen Hintergrund als Metapher.

Zudem trat der hl. Severin – dessen Sprache auf einen »ganz und gar lateinischen Menschen hinwies« – als eloquenter Sprecher der Romanen auf und verhandelte mit den Alemannen über die Freilassung römischer Gefangener. Nach Aussage der Vita verehrte der Alemannenkönig Gibuld den Heiligen sehr, sodass er ihm versprach, seine Geiseln ohne die vorherige Zahlung eines Lösegelds freizulassen.

Des Weiteren sorgte Severin dafür, dass die Einwohner von Künzing zunächst nach Passau (Batavis) und später nach Lorch an der Enns (Lauriacum) in die römische Provinz Noricum evakuiert wurden.

Freilich blieb es den Alemannen nicht verborgen, wohin die Romanen ihre Zuflucht nehmen wollten. Sie wurden gieriger, weil sie glaubten, dass sie nun die Bevölkerung von zwei Städten durch einen perfiden Überfall ausplündern könnten. Aber der unermüdliche Knecht Gottes flößte den Römern Mut ein. Durch seine Prophezeiung gestärkt, stellten sich die Bataviner gegen die Alemannen in Schlachtordnung auf. Bei dem anschließenden Kampf wurden jene besiegt und flohen.

Anschließend sprach der Heilige zu den Romanen: »Gott hat eure Freiheit beschützt, damit ihr von hier fortgeht. Zieht mit mir nach Lauriacum hinab.« Wie er sie so antrieb, folgten ihm die meisten Bataviner. Einige indes erwiesen sich als halsstarrig. Alle, die in Passau blieben, wurden von den hereinbrechenden Thüringern niedergehauen oder in eine trostlose Gefangenschaft verschleppt. Auf diese Weise büßten sie für ihren sorglosen Leichtsinn.

Erfolgreich hatte der Diener Gottes im rätischen Batavis (Passau-Altstadt) die Räumung des Orts forciert. Die Ereignisse und das starke romanische Element in der Bevölkerung – das in der Vita anklingt – sind durch archäologisches Fundmaterial belegt. Demnach dominierte in der Altstadt von Batavis noch Keramik aus römischer Tradition. Folglich bildeten die aus dem böhmischen Raum stammenden Germanen im spätantiken Passau nur eine Minorität.

Überdies hatte in Batavis die ursprünglich strenge Gliederung der Siedlung in das Kastell und den vicus (Lagerdorf) keinen Bestand mehr. Sicherlich lebte die vom Schicksal gebeutelte Zivilbevölkerung dabei zusammen mit dem Militär hinter den schützenden Stadtmauern. Demzufolge dürfte Batavis nicht ganz ohne Einwohner geblieben sein, da sich auch der Ortsname der Stadt Pazza = Passau erhielt. Ebenso blieb die Bezeichnung des norischen Boiotro (Passau-Innstadt) rechts des Inns, von Boytra bzw. Peuter und Beuder bis heute in Beiderbach und Beiderwies, kontinuierlich bestehen.

Gründung eines Klosters durch den hl. Severin im norischen Boiotro

Im norischen Boiotro ergeben sich weitere Aspekte beim Vergleich der Überlieferung mit dem Stand der archäologischen Forschung. Dort erwähnt die Vita die Existenz einer Kirche und eine kleine Mönchsgemeinschaft, die der Heilige in loco nomine Boiotro jenseits des Inns, gegenüber von Passau, gegründet haben soll. Daraufhin brachten Archäologen die Fundamente der ältesten Kirche – unter der heutigen St. Severinkirche aus Ottonischer Zeit (um 1000 nach Christus) – in Passau- Innstadt mit dem in der Vita erwähnten Gotteshaus in Verbindung. Es stellte sich heraus, dass das danebengelegene Kastell mit ziemlicher Sicherheit bereits im 4. Jahrhundert nach Christus vom Militär geräumt worden war. Allerdings datiert ein in der Halbruine später eingerichteter Bau in die Severinszeit. Hierbei könnte es sich um Teile des von Severin gestifteten Klosters gehandelt haben. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts nach Christus brannte dieser Sakralbau nieder und auch Boiotro wurde verlassen.

Ebenfalls verschwanden die antiken Orts-, Flur- und Gewässernamen östlich von Enns bis zum Mittelalter fast gänzlich aus dem Sprachgebrauch. In den weiter westlich gelegenen Regionen war dies hingegen weniger der Fall. Beispielsweise erhielt sich die Überlieferung des Ortsnamens Quintanis – Quintzen – Künzing bis heute lückenlos².

Vermutlich verschärfte sich nach dem Tod des hl. Severin in Favianis (Mautern bei Krems/Österreich) im Jahre 482 die Situation der Romanen noch einmal dramatisch. Der Missionar hatte selbst seinen eigenen Todestag wie auch die Entvölkerung von Ufernoricum vorausgesagt: »Wisset, liebe Brüder, alle werden mit ihrer Habe aus diesen Städten auswandern.«

Wir können sicher sein, dass in Rätien die Verhältnisse schlimmer waren als im benachbarten Noricum, in dem bis 488 wenigstens die Reste einer Verwaltung und Streitmacht existierten. Deshalb klingt es glaubhaft, dass die verbliebenen Provinzialen dem ausdrücklichen Befehl des Königs von Italien germanischer Herkunft, Odoaker, im Jahre 488 Folge leisteten und nach Italien abwanderten.

Ebenso zog sich die von Severin gegründete Mönchsgemeinschaft mit den sterblichen Überresten des Heiligen bis Neapel nach Kap Misenum zurück – in dessen Bucht seit der späten Republik ein geschützter Hafen und zahllose Villen reicher Römer lagen –, wie er es ihnen zuvor befohlen hatte: »Führt meine Gebeine von dannen. Dies wird nicht mir, sondern euch nützen.« Sein Körper wurde zunächst in Castrum Lucullanum beigesetzt. Eugippius schrieb, dass der Leichnam sechs Jahre nach seiner ersten Beisetzung unverwest und erhalten gewesen sei, obwohl er nicht einbalsamiert war: »Nachdem das Grab geöffnet worden war, umfing uns ein lieblicher Duft, so dass wir vor Freude zur Erde niederstürzten. Und während wir nach Menschenart glaubten, in seiner [Severins] Grabstätte nur noch auf zerfallene Gebeine zu stoßen, fanden wir seinen Leib mit Bart und Haupthaar unversehrt.«

Im Jahre 902 bettete man die sterbliche Hülle des Heimgegangenen noch einmal um. Seit 1807 ruhen sie in der Pfarrkirche von Frattamaggiore nördlich von Neapel in Kampanien. Sankt Severinus gilt als Schutzpatron von Bayern. Sein Gedenktag – der zugleich sein Todestag ist – ist im deutschen Sprachgebiet der 8. Januar.

In Regensburg – dem Radasbona des 8. Jahrhunderts – wo die romanische Bevölkerung bereits um 476 unter die Herrschaft der sich selbstständig gemachten elbgermanischen Foederaten böhmischer Herkunft geraten war und sich mit ihnen arrangiert hatten, lebte in vielen Bereichen das antike Erbe weiter. Es trug mit zur Herausbildung des frühmittelalterlichen Baiern bei. Dementsprechend reift heute die Erkenntnis, dass das Ende der spätantiken Herrschaft in Rätien nicht von einem schroffen Gegensatz zwischen Römern und Alemannen geprägt war. Vielmehr dürfte die römische Staatsmacht in einem regional unterschiedlich abgelaufenen Prozess allmählich versickert sein.

Darüber hinaus wurde ein verbliebener Rest der römischen Verwaltung von den Vertretern der christlichen Kirche übernommen, die damit einen Teil des antiken Erbes antrat und für eine weitere Kontinuität sorgte.

Es darf somit angenommen werden, dass die zurückgebliebene romanische Bevölkerung – deren Oberschicht sich größtenteils schon lange nach Süden abgesetzt hatte – keinesfalls völlig unterging. Sie wird versucht haben, sich je nach Lage ihre soziale und kulturelle Eigenständigkeit für einen längeren oder kürzeren Zeitraum zu bewahren, bis sie in der sich neu bildenden baierischen Bevölkerung des frühen Mittelalters integriert worden war.

 

Christian Klam

 


¹Anmerkung: Sämtliche Kursiv verfassten und gekennzeichneten Textpassagen sind aus der Vita sancti Severini zitiert.
Eugippius: Das Leben des hl. Severin, in: Historiker des deutschen Altertums, hg. v. Alexander Heine, Essen & Stuttgart 1986
²Anmerkung: weitere römische Siedlungsnamen in Schwaben und Oberbayern: faux (lat.) = Schlund - Faucium: Füssen; PN + mons = Berg – Celius mons: Kellmünz; portus = Übergang – Forzheim – Pforzen/Kaufb.; pons = Brücke – Phunica – Pfünzen/Eichstätt.

 

30/2013