Der friedfertige Hase
Seine Bedeutung in der Mythologie und Literatur

Ob Hase oder Kaninchen – es sind drollige, friedliche, aber auch ängstliche, schutzbedürftige Tiere, die besonders von Kindern geliebt und als Spielund Kuscheltiere gern ins Haus genommen werden. Als »Zwerghasen« sind sie dort aller Liebling und müssen nicht fürchten, aus dem Haus verbannt zu werden, auch wenn sie schon manches Stromkabel oder Möbelstück angenagt haben.
Bei den alten Griechen galt der Hase als heilig, weil er sehr flink und sehr fruchtbar war und sich öffentlich ohne Scheu paarte. Und schon früh erkannten die Gelehrten, dass die Häsinnen, während sie trächtig sind, bereits wieder empfangen können. So nimmt es nicht wunder, dass der Hase zu den geheiligten Tieren der Liebesgöttin Aphrodite gehörte und ihr als Opfer dargebracht wurde. Seit ältesten Zeiten ist er Sinnbild der Fruchtbarkeit und der geschlechtlichen Lust, aber auch der Furcht und der gehetzten Natur, die sich überall von Feinden bedroht sieht. Da war es für das Überleben schon wichtig, dass er sich stark vermehrte.
Neben Aphrodite war er auch Artemis, der Göttin der Jagd, geweiht. Hinweise darauf, dass er gejagt wurde, gibt es bereits aus dem zweiten Jahrtausend vor Christus. Sein Fleisch galt als kulinarische Köstlichkeit und war deshalb sehr begehrt. Man glaubte auch daran, dass sein Genuss Schönheit verleihe und aphrodierende Wirkungen habe.
Dass der Hase wie andere Tiere durch das Eingreifen des Menschen manches erleiden musste, ist bekannt. So berichtet ein römischer Dichter – selbst nicht unbeeindruckt davon –, wie der kleine Hase in der Arena eines Amphitheaters ganz allein dem mächtigen Löwen gegenübergestellt wurde und dieser dann ein schlimmes Spiel mit ihm trieb. Bei der bildlichen Darstellung biblischer Themen wird er unterschiedlich gesehen. Einerseits war er Sinnbild der Unkeuschheit, so dass er oft bei Darstellungen des Sündenfalls gezeigt wird. Andererseits gibt es viele Szenen zum Leben Marias, ihrer Schwangerschaft und der Geburt Christi, wo der Hase als Symbol einer gesegneten Fruchtbarkeit zu deuten ist.
Gern wurde er neben anderen Symbolen auch zur Veranschaulichung der Trinität benutzt. Hierfür wurden drei Hasen so angeordnet, dass sie ein Dreieck bilden – ein Motiv, das auch in der Volkskunst Verwendung fand.
In der Literatur, in Fabeln, Märchen, Erzählungen und Romanen, spielt der Hase natürlich auch eine Rolle. Er erscheint als listig, pfiffig, als furchtsam, aber auch als töricht wie im Märchen vom Wettlauf mit dem Igel, wo er der Bauernschläue seines Partners nicht gewachsen ist. Und in dem von Goethe bearbeiteten Epos von »Reineke Fuchs« rangiert er auf der untersten Stufe und ist der »alberne Geck«, der nur zum Fressen taugt.
Eine ganz andere Botschaft über den Hasen verkündet da Anfang des 20. Jahrhunderts Hermann Löns, der Heidedichter, der Tiere und Pflanzen liebte und die Menschen zur Beachtung der Naturgesetze ermahnte. Sein Heidhase Mümmelmann, den er den Lesern in zwei Tiererzählungen nahebringt, wird zu einem Wesen, das den Frieden in einer utopischen Perspektive sieht:
Als es vom Dorfe Mitternacht schlug,
da wurden Mümmelmanns Seher
groß und starr; er sah die
Zukunft vor sich.
»Der Mensch ist auf die Erde
gekommen«, sprach er, »um
den Bären zu töten, den Luchs
und den Wolf, den Fuchs
und das Wiesel,
den Adler und den Habicht, den
Raben und die Krähe.
Alle Hasen, die in der Üppigkeit
der Felder und im Wohlleben
der Krautgärten die Leiber pflegen,
wird er auch vernichten.
Nur die Heidhasen, die stillen und
genügsamen, wird er übersehen,
und schließlich wird Mensch
gegen Mensch sich kehren
und sie werden sich alle ermorden.
Dann wird Frieden auf Erden sein.
Nur die Hirsche und Rehe und
die kleinen Vögel werden
auf ihr leben und die Hasen, die
Abkömmlinge von mir und meinem
Geschlecht. Du, Ludjen, mein
Schwestersohn, wirst den reinen
Schlag fortpflanzen, und dein
Geschlecht wird herrschen von
Aufgang bis Untergang. Der Hase
wird Herr der Erde sein, denn sein
ist die höchste Fruchtbarkeit und
das reinste Herz.«
Auch in Francis Jammes »Le roman du lièvre«, der ebenfalls Anfang unseres Jahrhunderts entstand und als »Hasenroman« vom Französischen ins Deutsche übersetzt wurde, wird seine Friedfertigkeit dichterisch verarbeitet. Auf der Flucht vor der Jagd begegnet er dem heiligen Franziskus: »Da plötzlich sah Langohr auf einer Wiese einen Mann nahen, und er erschrak gar nicht. Ein erstes Mal seit Urzeiten, seitdem der Mensch Fallen stellt und Bogen spannt, erlosch der Trieb zur Flucht in der Seele des Leichtfüßigen.«
Diesem Franziskus folgt der Hase. Er vertraut sich ihm an und wird zum Leitbild, zum Boten ausgewählt, der die verschiedenen Tiere ins Paradies führt, zuletzt aber doch vom Schrotkorn des Jägers getroffen wird. »Wenn du stirbst, wird aus dir dein Paradies«, hatte Franziskus gesagt. So wird auch der allegorisch gemeinte Roman von Francis Jammes, der ins Transzendente einmündet, zu einem Bekenntnis für ein friedfertiges Tier, das keinem ein Leid antun will.
Hans Feist
15/2017