Der Erste Weltkrieg in Feldpostbriefen
Trotz Zensur berichteten Traunsteiner und Chiemgauer Soldaten von Fronterlebnissen



Eine ungeheure Flut von Feldpostbriefen und -karten sicherte im 1. Weltkrieg die enge Verbindung zwischen Front und Heimat. Schon nach zwei Monaten waren bis Ende September 1914 von den drei bayerischen Postsammelstellen, die für das Frontheer zuständig waren, 20 532 Briefsäcke mit einer geschätzten Anzahl von 13,5 Millionen Briefen und Feldpostkarten abgefertigt worden. Zu diesem Zeitpunkt bewältigten 310 bayerische Postbeamte vor Ort den Feldpostdienst. Hierzu verfügten sie über 61 Motorwagen mit 21 Anhängern und über 83 Pferdefuhrwerke mit 323 Pferden.
Wechselseitig wurden über die Feldpost Grüße und Wünsche ausgetauscht, Neuigkeiten aus Familie und Dorfgemeinschaft, Fronterlebnisse, Mahnungen und Aufmunterungen. Die Angehörigen in der Heimat verlangten aus Sorge um Mann, Vater und Sohn die fortwährende Bestätigung, dass er gesund war und weiter am Kampf teilnehmen konnte oder nur leicht verwundet im Feldlazarett sich erholte. Diese wiederum wollten sich immer wieder durch die Erinnerung an die Heimat der moralischen Rechtfertigung des Kampfes vergewissern und wollten Antworten auf ihre ruhelosen Fragen nach den Geschehnissen zuhause.
»Heilige Schriften« nannte der Chieminger Dr. Danner in einer Leserzuschrift an das Traunsteiner Wochenblatt die Soldatenbriefe von der Front und rief dazu auf, sie als »Urkunden unseres Krieges, des gerechtesten und größten, der jemals in der Welt geführt wurde«, für die Nachwelt aufzubewahren: »Eine jede Redaktion würde es als eine Ehre betrachten, Briefe unserer Helden zu veröffentlichen, was aber nicht mehr gestattet ist. Bewahre jedermann die Briefe sorgsam auf, denn sie werden später ganz sicher öffentlich gesammelt und in unseren Kriegsarchiven als unvergängliche Urkunden deutschen Heldenmuts für die späteren Geschlechter hinterlegt.«(1)
Anfang Februar 1915 fassten Traunsteiner Bürger, darunter Dipl. Ing. Angerer, Stadtpfarrmesner Franz Büttner, Kaufmann Hämmerl, Zeitungsträger Sepp Köstler jun., Kaufmann Edmund Stallechner und Kommissionär Josef Baur, den Beschluss, unter dem Titel »Unseren Traunsteiner und Chiemgauer Kriegern zu Ehren« ein heimatliches Gedenkbuch zu fertigen. Ihre Aufgabe sahen sie im Sammeln, Lesen und Abschreiben von Feldpostbriefen der Chiemgauer Frontkämpfer. Verwendet werden sollten nur Berichte und Gedichte über Schlachten, Heldentaten, Abenteuer, Feierlichkeiten, Stimmungseindrücke, berufliche und militärische Verwendung, nicht aber Mitteilungen geschäftlicher oder familiärer Art. Das geplante Gedenkbuch ist nicht zustande gekommen, wohl deshalb, weil der Einberufungsbefehl auch die Initiatoren der Sammlungsidee nicht verschonte. Aber im Heimatmuseum Traunstein lagern heute rund 250 Briefabschriften, die einen authentischen Einblick in die Ereignisse des 1. Weltkriegs und die Erfahrungen seiner Akteure vermitteln.(2) Es sind bewegende Zeugnisse von Pflichtbewusstsein, Gottvertrauen, Königstreue, Opferbereitschaft und Heimatliebe, sie berichten aber auch von der Brutalität des Krieges, von Vereinsamung, Verzweiflung, Trauer, von körperlicher und seelischer Verwundung. Die Entschlossenheit zum Kampf und Sieg wechselt ab mit der Sehnsucht nach einem baldigen Frieden. Die Briefe offenbaren die Dankbarkeit der Soldaten für die aus der Heimat gesandten »Liebesgaben« und den dringenden Wunsch nach einem ununterbrochenen Kontakt mit den Angehörigen daheim.
Die Nachrichten kamen größtenteils von der Westfront, gelegentlich auch aus Russland und von der S.M.S. Nassau, die in der Nordsee vor Anker lag. Adressaten waren in der Regel die Eltern oder die Ehefrau, aber auch andere Verwandte und Freunde. Inhaltlich wiederholen sich einzelne stereotype Motive: der Dank für die erhaltene Post; die Frage, ob die eigenen Brief- und Kartensendungen angekommen sind; die Mitteilung über den Gesundheitszustand und die konkrete Bitte um bestimmte Genuss- und Gebrauchsgüter, vor allem Tabakwaren, Pfeifen, Nahrungsmittel, Taschenlampen und Wollsachen.
Die Auszüge aus den hier zitierten Soldatenbriefen beschränken sich auf die über den privaten Kontakt hinausgehenden Frontbeschreibungen: Kämpfe, Strapazen und persönlichen Eindrücke, Hoffnungen und Befürchtungen, gelegentlich auch ein außergewöhnliches Ereignis.
Der Traunsteiner Apotheker Georg Schierghofer schilderte dem Stadtpfarrmesner Franz Büttner einen Frontbesuch Wilhelm II. und zeigte sich im höchsten Maße von der Persönlichkeit des Kaisers beeindruckt. Solche Truppenbesuche stießen jedoch auch auf heimliche Kritik und Verärgerung.
Nordfrankreich, 27. Januar 1915
Wir standen kaum 150 Schritte dahinter und wohnten militärisch salutierend abseits diesem prächtigen und doch so ernsten Akte bei. Das Hurra auf den Kaiser aber habe ich noch nie so laut geschrieen. Es ist was Eigentümliches um diesen Mann. Er macht unwillkürlich einen gewaltig imponierenden Eindruck nicht nur in der Rede, sondern durch sein ganzes Äußeres und Auftreten. Alles ist Majestät. Er fordert nicht Liebe und Sympathie, wie es die Persönlichkeit unseres Bayernkönigs und des österreichischen Kaisers von sich sagen kann, sondern Ehrfurcht und unnahbare Achtung. Er ist auch als Mensch, nicht bloß als Kaiser unseres Deutschen Reiches, eine außergewöhnliche Erscheinung, eine seltsam imponierende Persönlichkeit.
Piaches, 7. Februar 1915
Wir sind hübsch weit vorn mit der Front. Am 6. Januar war der König Ludwig III. bei uns, da haben wir eine Parade gehabt. Sogar im Felde hat man keine Ruhe, da müssen's auch noch mit einem solchen Krampf daher kommen. Jetzt wird schon bald Zeit, dass der scheußliche Krieg ein Ende nimmt.
✩
Feldgottesdienste boten Gelegenheit zu religiöser Besinnung. Die erste Kriegsweihnacht 1914 war für die meisten Soldaten ein emotional stark prägendes Erlebnis.
Frankreich, 7. Dezember 1914
Heute, Montag, war Feldgottesdienst bei uns auf einer Wiese. Es war ein Kapuziner Pater da, und hat sehr schön gepredigt und uns zum Schluss die Generalabsolution und den päpstlichen Segen erteilt. Es war eine sehr erhabene Feier. Es waren da etwa 500 Mann beisammen. Eingeleitet wurde die Andacht mit dem Liede »Tauet Himmel den Gerechten«, wobei wir kräftig mitsangen, und zum Schluss sangen wir »Deinem Heiland, deinem Lehrer«. Über acht Tage wird der Pater wiederkommen und dann wird auch die heilige Kommunion ausgeteilt. Und du siehst also, liebe Mutter, dass für unser leibliches und geistliches Wohl aufs Beste gesorgt ist. Überhaupt möchte man es nicht für möglich halten und glauben, welche Umwandlung in religiöser Beziehung der Krieg hervorgebracht hat. Ein Spötter dürfte sich jetzt kaum mehr hören lassen. … Und sind auch manchmal Gefahren zu bestehen, so hoffentlich wie bisher auch mit Gottes Hilfe und des heiligen Schutzengels daran vorüber zu kommen. Darfst mir glauben, in recht kritischer Lage ein kurzes Gebet und keine Spur von Furcht. Da sieht man erst die Stärke des Gebets, die für unsereinen verrichtet werden. Und man ist wunderbar getröstet.
Comines, 26. Dezember 1914
In der heiligen Nacht war herrliches Wetter. Die Sterne leuchteten hernieder wie milde Friedensboten und der Mond spiegelte sich im Kanal. Die Stadt war in ein eigenartiges Dämmerlicht getaucht. Still war es ringsum, kein Schuss fiel. Es war wirklich eine Waffenruhe eingetreten. In der Nähe von Messines kamen sogar mehrere 16er mit den Engländern zusammen. Man feierte gemeinsam den heiligen Abend, beschenkte sich gegenseitig, drückte sich die Hände, um dann wieder in den Gräben zu verschwinden. Oh Weihnachtszeit, wie machst Du die Menschenherzen so weich und friedlich gesinnt! Mich beseelte eine innige Weihnachtsstimmung. Wie mir ums Herz war, kann ich nicht mit Worten sagen. Wenn auch der Krieger zu jeder Stunde an seine Lieben denkt, in der heiligen Nacht packt ihn die Sehnsucht nach ihnen mit doppelter Macht.
Walkalasika (Russ. Polen), 27. Dezember 1914
Über den Verlauf des Heiligen Abends diene Ihnen folgende Schilderung. Es wird Abend. Eine Totenstille herrscht auf dem Schlachtfelde. Kein Lüftchen bewegt sich und Mondschein erhellt die Flur. Dunkle Wolken treten zurück und erscheinen hellere an ihrer Stelle. Es macht den Eindruck als öffne sich der Himmel und eine Stimme ruft: »Friede auf Erden!« Ein schlichter Tannenbaum auf freiem Felde soll uns allen das Weihnachtsfest erinnern. Eine stille Feier, dabei an unsere Lieben denkend, welche fern von uns allen das Weihnachtsfest feiern, tritt ein. Weihnachtslieder erklingen und erinnern an die Heimat. Wohl an zwei Stunden sind mit dieser heiligen Handlung vergangen; alles begibt sich zur Ruhe, um im Traum Weihnachten bei seinen Lieben zu feiern. Ich werde diesen Heiligabend nie in meinem Leben vergessen. Sonst geht alles seinen gewohnten Fortgang weiter, tagsüber werden mehrere 100 Gefangene gemacht, welche sich zum größten Teil selbst ergeben.
Romagne sur les Cotes, 8. Januar 1915
Der 24. Dezember war angebrochen. Frischer Schnee lag auf dem Schlachtfelde und ein eisiger Wind blies von Osten. Reges Leben herrschte auf den Straßen, man hat fast nichts gesehen wie Fuhrwerke, beladen mit Liebesgaben und Tannenbäumen. Auch unsere Batterie wollte ein kleines Fest veranstalten, und so wurde ich mit noch drei Mann bestimmt, eine große Scheune zu räumen und einen Christbaum herzurichten. Er fiel zur Bewunderung aller aus. Im Laufe des Vormittags war vor uns noch starkes Infanteriefeuer zu hören. Auch wir sandten den Franzmännern einige eisige Weihnachtsgrüße hinüber. Im Laufe des Nachmittags verstummte es vollständig und geheimnisvolle Ruhe herrschte auf der ganzen Front. Um 10 Uhr nachts versammelten wir uns um den Christbaum, um, von den Lieben in der Heimat fern, im Feindesland Weihnachten zu feiern. Unser Hauptmann hielt eine schöne Anrede, die mit einem donnernden dreifachen »Hurra« auf die edlen Spender im Heimatlande schloss. Hierauf erscholl das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht« und zum Schluss wurden die Geschenke, die sehr groß ausfielen, verteilt.
✩
Zahlreiche Briefe geben Aufschluss über den Verlauf der Frontkämpfe, die Grabensysteme im Stellungskrieg an der Westfront, die Zerstörungen von Menschen und Landschaften und die Hilflosigkeit der Verwundeten.
Wuny, 13. Oktober 1914
Wir haben bei unserer Batterie seit 2. Oktober 9 Tote, 20 Verwundete. Leute kostet der Krieg eine Unmasse. Es kommen ganze Kompanien Verwundete an unserer Stellung vorbei. Hu – das ist ein Anblick, wenn man nach so einer Schlacht den Ort der Tätigkeit sieht. Da liegen Tote drei bis vier Tage auf dem Felde. Ich hätte es mir nicht so arg vorgestellt, der reinste Massenmord.
Frankreich 17. Oktober 1914
Es ist grausam anzusehen, wie es hier zugeht, wenn schon im grauen Morgen die Kugeln pfeifen und einen Kameraden nach dem anderen so wegreißen; der eine ist leicht, der andere ist schwer verwundet, ein anderer tot und oft gar mancher in lauter Stücke zertrümmert, selbst die Verwundeten müssen oft Tag und Nacht draußen auf freiem Felde liegen, bis ihnen jemand zu Hilfe kommt. Es ist traurig, wenn man bei Nacht jetzt so auf Posten steht und dem Jammern der Verwundeten so zuhören muss und ihnen nicht helfen kann, bis sie endlich der Tod erlöst. Wir liegen jetzt schon drei Wochen auf einem Platz, wo es oft gar manchen Kampf kostet, denn die Franzosen versuchen für immer unsere Linie zu durchbrechen … was ihnen aber noch nicht gelungen ist und auch nicht gelingen wird, denn wir sind so gut verschanzt, dass es unmöglich ist, uns aus dem Graben zu vertreiben, wo wir arbeiten oft die ganze Nacht. Nur sollst Du mal sehen, was wir hier für ein Aussehen haben, von Füßen angefangen bis über den Kopf voll Dreck. Die Gesichter voll Bart, jetzt geht uns nichts mehr ab als eine französische Laus, die auch bald kommen wird. Hunger hat ein jeder genug, denn wir bekommen bloß alle 24 Stunden was und das muss bei Nacht zugebracht werden. Das beste, was ich noch habe, ist eine Pfeife Tabak, da kann der Magen den Rauch spüren und kann sich denken, in der Küche brennt schon das Feuer, wird auch einmal etwas zu essen nachkommen. Wie glücklich seid Ihr in Eurem Heim. In Frankreich sind Dörfer und Städte in Schutt und Asche verwandelt, die Felder zusammengetreten und meist umgegraben durch unsere Schanzgräben und Granaten.
Halot, 6. November 1914
Welch ein Allerheiligenfest war das für unsere Krieger! Bei Menin fand an diesem Tage ein erbittertes Ringen statt. Das Schlachtfeld bot einen schrecklichen Anblick. Von den Engländern, die bis zuletzt in den Schützengräben aushielten, ist keiner lebend davon gekommen. Reihe an Reihe lagen sie da, viele das Gesicht in die Erde gewühlt. Aber auch die Reihen der Unsrigen wurden stark gelichtet. 3000 Tote sollen wir an diesen einen Tage gehabt haben. Im Bereich des Schlachtfeldes waren alle Häuser zusammengeschossen oder niedergebrannt. Kühe und Schweine liefen zwischen den Trümmern umher.
Peronne, 17. Januar 1915
Zwei Nächte waren wir im Schützengraben im bois favierre, dann mussten wir die Leiber im großen Laufgraben ablösen und drei Nächte zubringen. Was wir da ausgehalten hatten, ist geradezu unbeschreiblich. Immer musste die Hälfte auf Posten stehen und die übrigen fast die ganze Nacht schanzen und zwar den Graben räumen. Der Schmutz ist furchtbar. Dabei hatten wir alle nasse Füße. Der Unterstand, in dem wir einige Stunden schlafen konnten, – natürlich nie mehr als zwei Stunden auf einmal – war wie ein Eiskeller. Das Stroh war vermischt mit Schmutz und Wasser, dass es nur so patschte. Außerdem tropfte es uns unaufhörlich ins Gesicht. Meistens regnet es noch dazu. Als wir nun vorgestern um 9 Uhr abgelöst wurden, waren wir in einer sehr mangelhaften Verfassung. Es sind auch viele krank. Den furchtbarsten Marsch habe ich diese Nacht gemacht. Jeder todmüde, den schweren Tornister und eine ganz miserable Straße mit vielen Granatlöchern, in die sehr häufig einer hinein fiel, was bei der ungeheuren Last entsetzlich ist. Bei den nassen Füßen hat sie natürlich jeder offen. Nun sind wir zwei Tage hinten, haben unsere Sachen noch nicht einmal ganz gereinigt, und morgen geht es aus besonderer Ursache schon wieder vor und zwar in die Stellung bei Mametz. Ich kann eigentlich gar nicht begreifen, dass ich bei alldem noch so gut beisammen bin. Ich sehe zwar schlecht aus, habe Husten und drei Zahngeschwüre, aber sonst fühle ich mich ganz wohl, abgesehen von zeitweisen Magenschmerzen. Es hat ganz den Anschein, als ob wir nächstens die feindliche Stellung angreifen würden, was mir ganz recht wäre. Solange ich nur kann, halte ich aus, und so Gott will, geht es bis zum Ende des Feldzuges. Es ist skandalös, wenn man die Artikel liest, die über unsere Lage geschrieben werden. Vielleicht habt ihr gerade den über unser Regiment und die Stellung im bois favierre gelesen. Wer das schreibt, ist keiner von der Mannschaft, sondern ein Offizier, der weder Posten steht noch schanzt und keinen nassen Unterstand hat. Aber wir lassen uns trotzdem die Laune nicht verderben.
Labeuville, 22. Februar 1915
Die ganze Stellung wieder mit Granaten zugedeckt, wir wussten nicht mehr, wo wir hinsollten. Es war zum wahnsinnig werden, überall Hilferufe der Getroffenen, alles Rauch und Pulverdampf, sodass man fast nicht mehr atmen konnte. Vor, hinter und neben mir flogen sie weg und wie ich so gut raus kam, weiß ich nicht mehr, man war nicht mehr ganz bei Sinnen. Die Verluste waren schwer, kein Offizier war mehr da, die Kompanie führte dann ein Unteroffizier. Denn als die Artillerie das rasende Feuer einstellte, ging die Infanterie vor. Dann aber griffen wir sie mit aller Gewalt an und wir freuten uns, sie einmal endlich unter die Finger zu kriegen. Und wie schnell die bloß kehrt machten. Da haben wir ihnen ordentlich über die Gräben geleuchtet, viele Gefangene, mehrere Hundert und niedergeknallt. Wer das mit durchleben hat dürfen, war das eine ganz große Genugtuung, aber der Anblick des Schauplatzes furchtbar und grauenhaft. Die Toten liegen in den Gräben haufenweise auf- und nebeneinander, Bayern, Preussen und Franzosen. Das Elend ist unbeschreiblich; wir haben Tage durchlebt, die die Augusttage in den Schatten stellen.
Comines, 27. Februar 1915
Stellen Sie sich einmal eine Kompanie vor, die von der ersten Stellung abgelöst wird: Müde, todmatt, voll Schlaf, weil schon drei Tage nicht das Geringste geschlafen, kommen sie von der Schießscharte zurück, bei stockfinsterer Nacht tappt man im Graben entlang, der bis an die Knie voll Wasser ist, in dem wir nun drei Tage und Nächte ausgehalten haben. Dass es da nicht viel Warmes zu essen gibt, kann man sich denken. Oft gibt es gar nichts. Gott sei Dank sind die Tage jetzt rum und kommen schönere Tage. Auch sind jetzt zum größten Teil Bretter in den Gräben gelegt, damit man nicht mehr im Wasser bei der Kälte zu stehen braucht. Ich wundere mich nur, wie man das alles nur aushalten kann, ohne krank zu werden. Selbstverständlich kommen nicht alle gesund wieder retour. Viele haben erfrorene Füße und Zehen, welche dann abgenommen werden müssen.
✩
Die Reaktionen der Soldaten schwankten zwischen Siegeszuversicht, Ruhmsucht, Bayernstolz und der Hoffnung auf ein schnelles Kriegsende.
Frankreich, 18. Oktober 1914
Jetzt wär ich bald froh, wenn es bald gar wäre, ich glaub', es wird nicht mehr lange dauern. Liebste Mutter, da machst Du Dir gar keinen Begriff, wie es da zugeht. Alles um uns herum ist total zusammengeschossen und abgebrannt. Das Getreide liegt noch, alles bereit auf dem Felde. Das, was schon eingebracht worden war, haben wir gedroschen und für uns und die Pferde genommen. Die Leute haben bereits nichts mehr zum Nagen. Wo wir im Quartier liegen, haben's nur das, was wir ihnen schenken. Heu und Stroh ist alles verfüttert oder von den Herren Franzosen weggeschleppt. Was noch an Vieh hier ist, brauchen wir zu unserm Unterhalt. Wir leben von Frankreich, so lange wir was haben können, weil dann unser geliebtes Vaterland mehr geschont ist. Wenn es noch lang so anhält, bekommen's in Frankreich mit schönster Manier eine Hungersnot. Es gibt hier sehr schöne, fruchtbare Gegenden. Obst gibt es in Hülle und Fülle. Liebste Mutter, wir sind schon sehr weit herumgekommen. Wir sind nicht weit von der Nordsee entfernt. Jetzt haben wir noch eine sehr große Schlacht zu erwarten, dann wird's bald zu Ende gehen mit dem Krieg.
Westfront, 4. November 1914
Wenn sich die Preußen nicht mehr zu helfen wissen, so rufen sie die Bayern um Hilfe an. In dieser Schlacht trafen auf einen Bayern sechs Franzosen. Wir haben drei Regimenter gefangen genommen, zwei Regimenter haben wir ganz aufgerieben, der andere Teil floh. Ein Gefangener, der deutsch konnte, sagte zu uns: Wenn die Preußen auch so viel Schneid hätten wie die Bayern, so wäre Frankreich schon längst niedergehaut und der Krieg zu Ende. Wenn man schaut, haben die Preußen immer mehr Verluste als die Bayern.
Halot, 8. November 1914
Fortwährend kommen Nachrichten von äußerst schweren Kämpfen in der Umgebung von Comines. Unsere Division hat ungeheuere Verluste. Mehr als 60 Prozent sollen kampfunfähig sein. Das ist ungeheuer, wenn man bedenkt, dass die Division erst seit gut 14 Tagen im Felde steht. Besonders das 16. Infan. Reg. hat schwer gelitten. Es ist bis auf ein Drittel zusammengeschmolzen. Das Regiment musste die Württemberger ablösen, die schon drei Tage in den Gräben lagen und nicht vorwärts kamen. Unsere braven Sechzehner machten dann die Arbeit in zwei Stunden. Der erste Sturm wurde zwar abgewiesen, weil die Sachsen nicht mitstürmten. Beim zweiten Angriff wurden jedoch die Engländer vollständig aus ihren Stellungen geworfen. Die Offiziere des 16. Regt. sind fast alle tot oder verwundet. Die Bayern müssen immer dahin, wo die schwersten Aufgaben zu lösen sind. Sie haben sich aber auch in diesen Kämpfen unvergänglichen Ruhm erworben. Die Schlacht, die sich, wie es scheint, gegen Ypern hinzieht, wo die Engländer ihre Hauptstellung hatten, steht für uns vortrefflich. Aber um jeden Schritt muss blutig gerungen werden. Bei den Engländern befinden sich viele Schottländer. Das müssen wunderliche Gestalten sein! Sie tragen keine Hosen, sondern kurze Röcke, Strümpfe und Schuhe.
S.M.S. Nassau, 29. November 1914
Die Verwundung von … geht mir sehr zu Herzen. Hoffentlich siegt seine junge Natur. Eigentlich beneide ich ihn um seine Verwundung, denn er hat euch gezeigt, dass er es versteht, um des Vaterlandes und der heiligen Scholle willen dem Tode zu trotzen. Was ich bis jetzt nicht konnte. Hoffentlich kommt bald die Zeit, in der es mir gegönnt ist, euch zu zeigen, dass ich meines Namens und eines Traunsteiners würdig bin. Viele meiner einstigen Kameraden hatten dasselbe Streben und haben dabei einen ehrenvollen Tod gefunden, der ihnen in Friedenszeit versagt geblieben wäre. Dafür werden die ehernen Namen am schlichten Kriegerdenkmal ein zeitlebens beredtes Zeugnis ablegen vor Eltern, Geschwistern, Bräuten, Kindern und Kindeskindern.
✩
Sichtbar waren Tod und Verwundungen. Die Brutalität des Frontkampfes führte aber auch zu seelischen Reaktionen: Mitleidsgefühle und Rachegelüste gegenüber dem Feind, Gleichgültigkeit und Angstzustände.
Metz, 1. September 1914
Wir sind jetzt wieder von Frankreich herausgekommen, weil wir mit unserer Arbeit fertig sind. In Gravelotte hatten die Franzosen eine Brücke gesprengt und diese mussten wir machen, sind nun fertig und warten in Metz auf weiteren Befehl. Während der Arbeit überfielen uns die Bewohner, wurden aber zurückgetrieben. Solche Ortschaften, in denen von Zivil auf unser Militär geschossen wird, werden einfach zusammengeschossen oder an allen Ecken und Enden angezündet. Und das mit Recht; z. B. ein Fall in der Nähe von Luneville. Dort marschierte ein Bataillon Infanterie durch, eine Kompanie ließen sie ungeniert durch, verabreichten ihnen sogar Wasser, als dann aber die drei anderen Kompanien kamen, wurde auf dieselben von den Kellern und allen Fenstern auf die ahnungslos dahinmarschierenden Soldaten geschossen. Wer kann da noch Erbarmen haben? Wer unter die Büchse kommt, ob Mann, Weib oder Kind, wird in solchen Fällen niedergeknallt. Es gibt auch gute Leute darunter – aber wenig. Diesen wird kein Haar gekrümmt. Es hat niemand eine Ahnung, wie schrecklich es in dem Krieg ist.
Frankreich, 8. September 1914
Mein kleiner Junge!
Du hast ein hübsches Leben; es geht Dir gut und bist gesund. Danke Gott und Deinen Eltern, denn erst hier kann man so recht beurteilen, was Leben heißt. Schon den zweiten Tag liegen wir in diesem Graben, eine Granate schlägt ein Meter vor uns, die andere zwei Meter hinter uns ein. Wir liegen zu zehnt auf einem Haufen und wir können uns nicht verteidigen. Das ist hart; man muss den Tod erwarten. Es schüttelt uns vor Frost, obwohl es fürchterlich heiß ist. Wir beten zu Gott, er möge uns schützen. Ob wir morgen noch am Leben sind. Seit einigen Tagen haben wir wieder Zuaven als Gegner vor uns. Da gibt es kein Gefangennehmen; einen Schlag mit dem Kolben, oder der Kicker muss ihm den Garaus machen. Die Kerle schonen uns auch nicht; wenn sie einen Verwundeten erwischen, wird er auch erstochen. Das müssen sie aber teuer bezahlen!
Montmedy, 5. Oktober 1914
Die werden noch lange an die Deutschen denken, hauptsächlich an die Bayern. Bayern, wenn sie hören, dann fällt ihnen so schon das Herz in die Hosen. Wenn Ihr Gefangene drunten habt, so gebt keinem was, die sollen krepieren, ob sie was dafür können oder nicht. Unseren Gefangenen soll es auch nicht besser gehen. Weißt du, wie die Weiber schauen, manche wäre recht zutraulich, aber kein Deutscher Soldat gibt sich mit diesem Gesindel ab. Die Rache hat Vorhand!
Beuleuls bei Arras, 9. Februar 1915
Nachts kommen wir in den Schützengraben. Ist aber auch sehr gefährlich, denn wir haben jedes Mal Verluste durch Infanteriefeuer oder durch Artillerie. Gestern hatten wir wieder zwei Tote und sechs Verwundete. Neulich habe ich in einer Münchner Zeitung von einem unserer Siege gelesen, sie haben aber vergessen zu schreiben, wie viele bei uns gefallen sind. Die Sache war so: Die französische Artillerie feuerte auf die Stellung der 7. Kompanie vom 3. Regiment neben uns und hatte Erfolge. Plötzlich ging die französische Infanterie zum Sturm vor. Die Unsrigen wurden überfallen und elend abgemurkst, sogar den Verwundeten wurden Arme und Köpfe abgehauen. Dieser Spaß kostete uns über 500 Mann. Aber was dann folgte, war unbeschreiblich. Wir nahmen blutige Rache. Es kostete ihnen mehr als das Dreifache, und der Graben war wieder in unserem Besitz.
Westfront, 3. März 1915
Wir haben eine harte Zeit schon hinter uns; Hunger und Durst und Hitze des Tages. Noch viel härter aber ist es für unsere Feinde gewesen und noch, man denke sich nur, die Ernte vernichtet, die meisten Civilisten sind hinter die Front ihrer Truppen geflohen. Die Häuser sind zusammengeschossen, viele Ortschaften, die ich gesehen, bilden nur einen Trümmerhaufen. Das Vieh lief herrenlos im Felde umher und es ging durch Geschosse kaputt. Mann und Vater ist im Feld und vielleicht gefallen. Arme Frau und Kinder suchen Schutz bei ihren Truppen und was fanden sie? Doppeltes Leid, keine Nahrungsmittel, keinen Platz zum Ruhen. Sie liefen mit ihren Truppen fort in der Unmasse von Soldaten, darunter Halbwilde aus allen Erdteilen.
Neuville, 4. März 1915
Von Neuville geht es durch einen Laufgraben vor in die erste Linie. Man möchte fast die Drehkrankheit kriegen vor lauter Herumlaufen um Schulterwehren. Der Weg durch den Laufgraben dauert circa eineinhalb Stunden. Ist man endlich glücklich vorn in der ersten Linie angelangt, richtet man sich im Schützengraben bei seinem Schussloch so gut ein, als es eben möglich ist. Dann beginnt schwerer Wachdienst. Man muss nämlich denken, dass die feindlichen Schützengräben stellenweise nur 80 bis 100 Meter von den unseren entfernt sind. Ein wenig Unaufmerksamkeit kann da viele Leute das Leben kosten. So war es kürzlich bei einem benachbarten Regiment. Die Leute schliefen größtenteils bei Nacht, als plötzlich die Rothosen, vermischt mit der Hauptbande der Engländer, eine Sprengung vornahmen und in den Graben eindrangen. Eine kleinere Abteilung wurde gefangen, der Schützengraben war verloren. Als am anderen Tag die Wiedereroberung versucht und vorgenommen wurde, kostete es eine hübsche Anzahl von Leuten das Leben. Die Verlustliste für den Verlust und die Wiedereroberung des Grabens weist 548 Mann auf, darunter 189 Mann tot, die übrigen verwundet und einzelne gefangen. Dafür waren aber unsere Leute so wild, dass sie lieber jede andere Waffe als das Gewehr benützten. Mit Beilpickeln, Messern und Seitengewehr wurde gearbeitet und auf diese Weise der Gegner fürchterlich zusammengeschlagen. Meist mit eingeschlagenem Schädel, so lagen sie grauenhaft da. In einem einzigen Loch lagen über 40 tote Franzmänner und Engländer. Eine tüchtige, aber blutige Rache.
Vogesen, den 29. April 15
Schon gleich die ersten Tage, als wir hier waren, schlug in eine unserer Hütten eine Granate ein und tötete 19 Mann und 17 wurden schwer verwundet. Wir saßen damals kreuzfidel und lustig am Abend in unseren Hütten, kümmerten uns weiter nicht um die in der Nähe einschlagenden Granaten und kein Mensch dachte an etwas Schlimmes, und doch mussten noch so viele ihr Leben lassen und manche sind für ihr Leben lang zum Krüppel geworden in einem Augenblick, wo man am allerwenigsten daran gedacht hätte. Es war eine grausige Arbeit, bis wir aus der zerschossenen Hütte unter den Trümmern die meistens grässlich verstümmelten Toten und Verletzten hervorholten, bis die einzelnen zerfetzten Körperteile einiger Kameraden zusammengebracht waren. Es ist dieses Unglück nicht das erste derartige gewesen, welches unsere Kompagnie traf und wir haben schon viel Grausiges gesehen und erlebt, aber diesmal war der Kontakt zu groß und das Unglück kam wie der Blitz aus heiterem Himmel. … Anders jedoch ist es, wenn man Monate lang im Schützengraben liegt, wenn man Stunden, ja ganze Tage lang, wie es hauptsächlich im Februar, während der großen Winterschlacht in der Champagne der Fall war, im dichtesten Granatenregen steht, wenn man zusehen muss, wie ein Kamerad nach dem anderen von diesen Dingern zerrissen wird und man sich selbst nicht im geringsten dagegen wehren kann und nur untätig warten muss, bis einen selbst das gleiche Schicksal ereilt. Wenn man Tag und Nacht oft nicht zur Ruhe kommt, obendrein noch durch und durch nass, wie es nicht selten der Fall war, frierend und ohne Essen, weil es nicht hergebracht werden kann. Da wird man müde, abgespannt und energielos, dass man kaum noch fähig ist, sich zu beherrschen. Starke, mutige Männer haben gezittert wie alte Frauen. Ich hab gesehen, wie ein Offizier mit Eisernem Kreuz (welches jetzt zwar jeder Offizier hat, auch die feigen, damals aber noch seltener war) in seinem Unterstand in einem Winkel auf dem Boden zusammengekauert hockte und weinte wie ein kleiner Bube.
✩
Die im Traunsteiner Heimatmuseum aufbewahrten Feldpostbriefe stammen ausnahmslos aus den beiden ersten Kriegsjahren. Im Pfarrarchiv Kienberg befinden sich einige wenige Soldatenbriefe aus der späteren Kriegszeit. Auch sie schildern das Frontgeschehen und die illusorischen Hoffnungen auf baldigen Frieden.
Russland, 11. Oktober 1916
Sehr geehrter Herr Pfarrer,
bereits vier Monate sind verflossen, seit ich zuhause war, und mit den größten Hoffnungen auf ein baldiges Ende zog ich wieder an die Front. Und wie stehen wir jetzt? Die Friedensaussichten werden immer düsterer und stärker als je holen unsere Feinde zu wuchtigen Schlägen aus, uns zu vernichten. Niemals wird es jedoch gelingen, die starken Mauern der Mittelmächte zu erschüttern. Wir befinden uns nur noch an gleicher Stelle. Seit Anfang März weichen wir keinen Schritt zurück, trotz wiederholter Anstrengung der Russen. Wir sind fest eingebaut und unsere Stellungen gleichen mächtigen Festungswällen. Der Winter wird uns wohl wieder mehrfache Angriffe der Russen bringen. Wenn Sümpfe und Seen zugefroren, gestaltet sich das Sumpfgelände weit günstiger. Der Frost hat bereits seit einigen Tagen eingesetzt und in einigen Wochen sind wir vielleicht schon eingeschneit. Der Winter haust hier schrecklich. Wir hatten immer noch Hoffnung, abgelöst zu werden vor der schlechten Jahreszeit, jedoch vergebens. Wir fügen uns ins harte Schicksal.
Im Felde, 25. Dezember 1917
Während der 6 Monaten in der Westfront hatte ich Glück. Die Kugeln und die Granatsplitter der feindlichen Artillerie verschonten mich. Pech dagegen hatte ich, als unser Rgt. nach Rumänien hinunter kam, wo ich schon am zweiten Tag nach meiner Ankunft eine gefährliche Verwundung durch einen Schuss am Oberschenkel erhielt. Es stellte sich sofort Wundfieber ein und Vergiftungsfolgen vom Einschuss kamen deutlich zu Tage. Das Geschoss war wirklich vergiftet, meinte der Arzt. Unser Bataillon hatte in den ersten zwei Tagen 106 Tote und eine Masse Verwundete. Nun kam ich nach München in ein Vereinslazarett, das zugleich eine Privatklinik war, und von einem äußerst geschickten Arzt, dem auch der Tod aus dem Wege ging, geleitet wurde. Der Fuß wurde sofort, als ich ankam und untersucht wurde, aufgeschnitten, und da ich gesundes Blut hatte, konnte von einer Amputation des Oberschenkels abgesehen werden. … Fünf volle Wochen konnte ich keinen Schritt stehen und die Schwestern mussten mich hegen und pflegen wie ein kleines Kind. Es kam mich recht hart an, Sie dürfen mir glauben, ich hatte so etwas noch nicht erlebt. Nach (weiteren) vier Wochen wurde ich als geheilt entlassen und dem Inf. Leib Rgt. zugeteilt. Zwei Monate später wurde ich schon wieder als kriegsverwendbar befunden und am 1. Oktober dieses Jahres kam ich wieder ins Feld an die Westfront. Wir sind in der Champagne, zunächst noch hinter der Front. – Zu Neujahr kommen wir wieder vor, auch soll zur Zeit wieder eine Schlacht in Aussicht stehen. Gott sei Lob und Dank. Gesund bin ich immer trotz der anstrengenden Dienste, Strapazen und Entbehrungen des Krieges. Junge Leute mit 24 bis 25 Jahren sah ich oft austreten auf dem Marsche, sie sind keine Strapazen und Entbehrung gewöhnt. Hoffentlich geht der Krieg bald zu Ende, aber nicht die Menschen machen Frieden, nein, die Not wird Frieden machen, wenn sie den höchsten Gipfel erreicht hat. … – Vorige Woche meldeten sich bei uns 40 Mann von der Artillerie auf einmal beim Arzt um eine Brotzulage. Alle mussten das Hemd ausziehen und der Arzt untersuchte, wie ein jeder genährt war. Dem einen wurde die Zulage bewilligt, dem anderen nicht. Die Woche hindurch gibt es zwei- oder dreimal kein Gemüse zum Mittagessen, weil die Pferde Kartoffeln erhalten jetzt, laut einer Generalkommando- Verfügung muss der Mann sich 200 Gramm Kartoffel gefallen lassen, um diese Tiere noch einigermaßen in Stand zu halten. Die Pferde sind wirklich zu bedauern, Prügel und Arbeit den ganzen Tag genug, das Futter äußerst knapp, sie fallen oft mitten auf der Straße um und verenden. Das sind die Verhältnisse im Felde hier draußen, von denen zuhause oft keiner eine Ahnung hat. Eine Schlacht steht auch in kurzer Zeit wieder bevor, wo wir eingesetzt werden. – Nun hoffentlich bringt das Jahr 18 den Frieden, wir hoffen immer, dass bis März oder April doch der Friedensengel seine Fittiche ausbreitet über alle Lande. In einer Hinsicht ist der Krieg ganz recht, er ist nur eine Zuchtrute für die Völker, die Obrigkeit ist nur das Werkzeug Gottes, womit die Nationen gezüchtigt werden. Leute sind bei uns darunter, vor denen auch der Teufel ein Grausen bekommt. Man sollte wirklich nicht glauben, dass Kirche und Staat mit all seinen Bildungsanstalten, Schulen, Zöglingsheimen, Fürsorgeanstalten und was noch alles, solche Elemente zeitigt, ich könnte noch vieles hinzusetzen, will es aber dabei bewenden lassen. Hochwürden, nochmals Glück auf zum Neuen Jahr!
✩
Die Soldatenbriefe unterlagen grundsätzlich der Kontrolle der Militärverwaltung, die ihre Zensurmaßnahmen mit der Wahrung militärischer Geheimnisse begründete. Sie allein gab die offiziellen Nachrichten über den Kriegsverlauf heraus und autorisierte auch sonstige Presseveröffentlichungen. Die in den ersten Kriegsjahren in den Traunsteiner Zeitungen zitierten Auszüge aus Soldatenbriefen entsprachen daher den Zielen der Kriegspropaganda, wenn sie von Heldentaten Chiemgauer Frontkämpfer und der Verleihung von Tapferkeitsmedaillen, insbesondere des Eisernen Kreuzes, berichteten. Die gelegentliche Schilderung von Tod und Verwüstung diente dem propagandistischen Gedanken, dass solche Grausamkeiten der Heimat erspart bleiben und daher die Anstrengungen an der Front und daheim durchgehalten werden müssen.
Die Feldpostbriefe zeigen die Verunsicherung mancher Frontkämpfer. Sie wussten nicht, was und wie viel sie über die Situation an der Front berichten durften, ohne dass die Zensurbehörde ihre Schreiben einbehielt oder den Verfasser gar des Verrats militärischer Geheimnisse beschuldigte. Die meisten Briefschreiber freilich mussten ihren Gefühlen Luft verschaffen und gaben ihre Eindrücke offen und anschaulich wieder. Vereinzelt mahnten sie sogar, den offiziellen Zeitungsberichten nicht zu trauen, und machten damit deutlich, dass die Wirklichkeit des Krieges nicht in einseitiger Siegeseuphorie, sondern in Tod und Verderben zu finden war und ist.
Gerd Evers
1: Traunsteiner Wochenblatt vom 1. September 1914
2: Der Hinweis auf die einmalige Sammlung der Soldatenbriefe ist Herrn Helmut Kölbl zu verdanken
37/2014