Jahrgang 2014 Nummer 9

Der Eismann Ötzi auf dem Seziertisch

Eine Ausstellung in München präsentiert den neuesten Forschungsstand

Rekonstruktion des Ötzi aus Silikon von den Brüdern Kennis & Kennis aus den Niederlanden.
In dieser Felsmulde wurde die Mumie entdeckt.

Auch zwanzig Jahre nach seiner Entdeckung gibt Ötzi, die Eismumie aus Südtirol, den Wissenschaftlern noch Rätsel auf. Experten aus aller Welt sind dem 5000 Jahre alten Gletschermann zwar mit den modernsten Untersuchungsmethoden auf den Leib gerückt, aber ein Ende ist noch nicht abzusehen. Die ersten Forschungen befassten sich mit Ötzis äußeren Lebensverhältnissen, seinem Alter, der zeitlichen Einordnung, seiner Ausrüstung und Kleidung. Nachdem sich gezeigt hatte, dass man aus seinem Körpergewebe auch die für die Weitergabe des Erbguts verantwortliche DNS extrahieren konnte, traten die Untersuchungen in ein neues Stadium. Nun war es möglich, die Gletschermumie auch auf mögliche Anomalien und Erkrankungen zu testen, sodass wir heute ein erstaunlich genaues Bild von Ötzis Gesamtzustand besitzen.

Eine Bilanz über den aktuellen Stand der Forschung zieht die Ausstellung »Ötzi 2.0 - Neues von der Eismumie«, die bis Ende August in der Archäologischen Staatssammlung in München zu sehen ist. Sie entstand in Kooperation mit dem Südtiroler Archäologiemuseum Bozen, in dessen Kühlkammer mit der prominenten Mumie die Besucher dank einer Live-Webcam einen Blick werfen können.

Als Ötzi lebte, hatte man in Europa gerade Kupfer als neuen Werkstoff entdeckt und der Mensch war in der Lage, Waffen und Werkzeuge aus Bronze herzustellen. Damals existierten weder die Cheopspyramide in Ägypten noch Stonehenge in Britannien. Es ist nicht nur das hohe Alter von 5000 Jahren, das die Gletschermumie für die Wissenschaft so wertvoll macht, sondern die Art ihrer Konservierung. Im Gegensatz zu den ägyptischen Mumien ist sie ohne menschliches Zutun, als sogenannte Feuchtmumie, konserviert worden, das bedeutet, dass in ihren Zellen noch Restflüssigkeit gespeichert und das Körpergewebe so elastisch ist, dass hoch differenzierte Untersuchungen möglich sind.

An der endoskopischen Untersuchung der Mumie beteiligten sich Fachleute der verschiedensten Disziplinen. Ihre Arbeit wird von einem eigenen Institut in Bozen koordiniert. Dort gehen Anträge von Forschungsteams aus aller Herren Länder ein. Für Ötzis endoskopische Untersuchung mussten spezielle Präzisionsgeräte aus Titan entwickelt werden. Zur Entnahme von Proben aus den inneren Organen klappten die Mediziner am Rücken Hautfenster auf, um die Instrumente punktgenau an jene Stellen zu bringen, von denen sie Gewebestückchen entnehmen wollten. Weil die Methoden ständig verfeinert werden, ergaben sich laufend neue Fragestellungen. Zu den Verfahren, die bisher angewendet wurden, gehören eine Genomanalyse, eine Stereolithographie (dreidimensionale Darstellung) des Skeletts und die Isotopenanalyse von Zähnen, Nägeln und Haaren. Mit dem letztgenannten Verfahren ist es möglich, gleichsam wie in einem Film das ganze Leben eines Toten zu rekonstruieren.

Ötzi war, als er aus dem Leben gerissen wurde, etwa 50 Jahre alt und zählte wohl zu den Ältesten seiner Gemeinschaft. Er war bekleidet mit einem Lendenschurz aus Ziegenhaut, Leggins aus Schaffell, einem Mantel aus Ziegenfell, Schuhen aus Hirschleder und einer Bärenfellmütze. Er war 1,60 Meter groß, hatte braune Augen, Schuhgröße 38 und wog an die 50 Kilogramm. Also alles andere als ein Muskelprotz. Obwohl er, wie man annehmen muss, ein Leben ganz in der freien Natur führte, wies sein Körper deutliche Degenerationserscheinungen auf, die wir üblicherweise als Zivilisationskrankheiten bezeichnen: Arthrose an den Sprunggelenken, verkalkte Blutgefäße, Karies. Die Lunge war schwarz, was natürlich nicht auf Tabakrauch, sondern auf seinen Aufenthalt am offenen Feuer zurückzuführen ist. Seine braunen Haare, die er offen trug, wiesen einen hohen Arsengehalt auf – ein Indiz, dass er etwas mit der Verarbeitung von Erzen bzw. der Gewinnung von Kupfer zu tun hatte.

Die Untersuchung des Darminhalts ergab, dass Ötzi wenige Stunden vor seinem Tod noch eine Mahlzeit aus Einkorn, Steinbockfleisch und Gemüse zu sich genommen hat, das Getreide möglicherweise in Form von Brot. Die Mahlzeit war auf offenem Feuer zubereitet worden, wie Holzkohlestückchen und Mineralien verraten. Außerdem fanden sich im Darminhalt Eier des Peitschenwurms, eines noch heute weltweit verbreiteten Schmarotzers. Die Pollenkörner im Darm stammen von Baumarten, die auf einen typischen Mischwald deuten; so kommt die Hopfenbuche nur südlich der Alpen vor, und zwar im Vinschgau. Dort dürfte sich Ötzi noch zwölf Stunden vor seinem Tod aufgehalten haben.

Die Umstände von Ötzis Tod sind nach wie vor unklar. Tatsache ist lediglich, dass er an einer Schussverletzung gestorben ist. Das beweist die Spitze eines Pfeils, die bei Computertomographischen Aufnahmen in der linken Schultergegend entdeckt wurde. Sie hinterließ ein etwa 2 cm großes Loch im Schulterblatt und verletzte die Arterie unter dem Schlüsselbein. Daran ist Ötzi innerhalb weniger Minuten verblutet. Vorher muss er noch versucht haben, reflexartig den Pfeil aus der Wunde zu ziehen, dabei löste sich die Spitze vom Schaft. Ziemlich zeitgleich dürfte Ötzi nach einem Hämatom im Gehirn und Frakturen des Schädelknochens zu schließen einen Schlag auf den Kopf erhalten haben, eventuell zog er sich diese Verletzungen auch beim Sturz zu. Ungeklärt ist ferner die Herkunft einer erst wenige Tage alten tiefen Schnittwunde an seiner rechten Hand, möglicherweise Folge eines Nahkampfes?

Sein aufwändig gearbeitetes Kupferbeil und der Dolch mit einer Silexklinge kennzeichnen Ötzi nach Ansicht der Experten als Angehörigen der Krieger- und Führungsschicht seiner Zeit. Man könnte an einen Dorfvorsteher oder Herdenbesitzer denken, andere vermuten in ihm einen Händler oder Erzsucher. Wieder andere sehen in Ötzi einen von seiner Sippe Ausgestoßenen oder einen Schamanen, ohne dafür überzeugende Beweise zu haben. Letztlich müssen das alles Hypothesen bleiben - ebenso wie die Frage nach der Ursache seines gewaltsamen Todes.


Julius Bittmann


Literatur: Angelika Fleckinger: »Ötzi, der Mann aus dem Eis«, Folio Verlag, Wien-Bozen, 2011

 

9/2014