Jahrgang 2007 Nummer 7

Der Bartgeier ist wieder zurückgekehrt

Alte Vorurteile gegen den Greifvogel sind unbegründet

Das struppige, schwarze Federbüschel unter seinem Schnabel hat dem Bartgeier seinen Namen eingetragen. Aber seinen zweiten Namen »Lämmergeier« trägt er zu Unrecht, denn der dem Bartgeier nachgesagte Raub von Lämmern gehört in das Reich der Phantasie. Trotzdem stellte man dem Vogel jahrhundertelang unter dieser falschen Beschuldigung nach. Obwohl er ein reiner Aasvertilger ist, war er als angriffslustiger Räuber verschrien, der angeblich weder vor Jägern und Hunden, noch vor Kindern zurückschreckte. Sein rötliches Brustgefieder sollte vom Blut seiner getöteten Opfer stammen.

Tatsache ist, dass die Alpen zur damaligen Zeit nur wenig begangen waren und die Bevölkerung kaum etwas Zuverlässiges über die Lebensweise des Bartgeiers wusste. Zudem fehlte auch das optische Gerät, um auf größere Entfernung Angriffe auf Wild oder Lämmer von Attacken eines Steinadlers unterscheiden zu können. Auch die angeborene Neugier des Bartgeiers wurde falsch gedeutet, seine Annäherung an Menschen oder an Weidetiere als möglicher Angriff empfunden verständlich, denn wer erschrickt nicht, wenn urplötzlich ein riesiger Vogel bis auf wenige Meter heranfliegt! Und so rankten sich immer mehr Sagen und Mythen um den Bartgeier, der schließlich das bedauerliche Opfer einer Rufmordkampagne wurde.

Seit drei Jahrzehnten laufen Bemühungen, den Bart- oder Lämmergeier wieder in den Alpen anzusiedeln. An dem Gemeinschaftsprojekt sind die Zoologische Gesellschaft Frankfurt, der Nationalpark Hohe Tauern, die Universität Wien und der WWF Österreich beteiligt. Alle Zoologischen Gärten wurden um ihre Mitarbeit gebeten, und mit ihrer Hilfe stellte man mehrere Zuchtpaare zusammen. Im Krumltal, einem Seitental des Rauristales im Bundesland Salzburg, wurden schließlich die ersten Bartgeier freigelassen. Anfang der Neunziger Jahre folgte auch die Schweiz diesem Beispiel.

Vieles war am Anfang unklar: Würden die Bartgeier im Freiland genügend Futter finden? Würde es zu einer Durchmischung der ausgesetzten Tiere im Alpenraum kommen? Und würde die Akzeptanz in der Bevölkerung entgegen immer noch vorhandenen Vorurteilen eine dauerhafte Ansiedlung überhaupt ermöglichen? Die ausgesetzten Jungtiere erwiesen sich als wahre Überlebenskünstler, schon nach wenigen Tagen ließen sie die am Freilassungsplatz angebotene Nahrung stehen, um sich selbst ihr Futter zu suchen.

Heute nach fast 30 Jahren kann man sagen, das es gelungen ist, den Bartgeier in den einst von ihm bewohnten Gebieten in den Alpen wieder anzusiedeln, wo er gegenwärtig dabei ist, eine neue Population zu begründen. Ein Schwerpunkt liegt in den Hohen Tauern, im Fuscher- und Gasteiner Tal. Aus Tirol gibt es Sichtungen von Bratgeiern in den Stubaier Alpen, im Ötztal und im Pitztal, aus Osttirol im Defreggental und im Virgental. Nach dem heutigen Stand kann man von insgesamt 115 verschiedenen Bartgeiern in den Alpen einschließlich der Schweiz und Italien ausgehen.

Mit einer maximalen Körperlänge von 150 Zentimetern und einer Flügelspannweite von 2,80 Metern ist der Bartgeier der größte Taggreifvogel (»Raubvogel«) der Alten Welt. Sein massiger, gestreckter Körper trägt auf dem kurzen Hals einen großen, vorn abgeplatteten Kopf. Die Flügel sind sehr lang und spitzig, der Schwanz stufig und keilförmig, der Schnabel kräftig, gegen die Spitze zu aufgeschwungen und mit einem scharfen Haken herabgekrümmt. Seine Füße sind kurz, die Zehen sehr schwach, die Nägel stark, aber wenig gekrümmt und stumpf. Kopf und Hals sind vollständig mit Federn bedeckt. Oberkopf und Kopfseiten sind gelblich-weiß, Hinterkopf und Hinterhals rostgelb, der Rücken schwarz mit weißlichen Schaftstrichen, Flügel und Steuerfedern schwarz. In der Jugend ist der Bartgeier schwarzbraun, die Unterseite ist hell rostbraun, Kopf und Hals sind schwarz.

Bartgeier leben vorwiegend einzeln, nur selten in kleinen Gruppen und können hervorragend fliegen. Da ihnen das Auffliegen vom Boden nur schlecht gelingt, setzen sie sich mit Vorliebe auf vorstehende Felsen. Ihre Angewohnheit, Knochen aus großer Höhe herabfallen zu lassen, um sie zu zerbrechen, hat ihnen bei den Römern den Namen »Ossifraga« (»Knochenbrecher«) eingetragen. Mit ihrer ungewöhnlich langen Zunge sind sie in der Lage, das Mark aus den zertrümmerten Röhrenknochen herauszulecken. Die Bartgeier nisten auf steilen Felswänden unter überhängendem Gestein. Das Weibchen legt im Januar oder Februar ein – selten zwei – grau und braun gefleckte Eier. Die Brutzeit beträgt 55 Tage. Wenn sich ein Mensch dem Horst nähert, lassen sich die Eltern leicht verscheuchen und verteidigen ihr Junges nicht. Bartgeier erreichen in Gefangenschaft ein Alter bis zu 50 Jahren, im Freiland dürften sie einige Jahre früher sterben.

Welche Gefahren Bartgeier heutzutage ausgesetzt sind, konnte man im Dezember 2005 an einem Bartgeierweibchen sehen, das vollkommen unterkühlt und stark abgemagert in der Nähe von Hallein entdeckt wurde. Der Vogel ließ sich problemlos einfangen und in den Salzburger Zoo bringen. Es stellte sich heraus, dass er sich um Anfang Juni in der Nähe es Großglockners freigelassene Bartgeierweibchen Doraja handelte. Zuletzt war es Ende November zwei Mal im Ortsgebiet von Berchtesgaden aufgetaucht, einmal hatte es sich sogar ein Kirchendach als Sitzplatz gewählt. Nach der ersten Pflege im Zoo wurde das Tier in die zentrale österreichische Zuchtstation Haringsee überstellt und umfasend untersucht. Dabei wurde eine hochgradige Bleivergiftung diagnostiziert. Offensichtlich hatte Doraja über die Nahrung Bleisplitter aufgenommen, wie durch Untersuchungen des Gewölles festgestellt wurde. Diese Splitter gelangten vermutlich über das Fressen von Teilen eines angeschossenen und nicht aufgefundenen Wildes oder durch die Aufnahme von mit Bleisplittern durchsetzten Aas in den Körper. Über einen Monat war das Tier trotz intensiver Pflege flugunfähig und verlor viele Federn. Im Freiland hätte es keine Überlebenschance gehabt. Ein halbes Jahr später erreichte Dorja ihre volle Vitalität und wurde, bestückt mit einem Satellitensender, wieder freigelassen. Der Sender soll Aufschluss über den Erfolg der Rehabilitation und über ihre weiteren Wanderrouten geben.

Die Koordinationsstelle für das Bartgeier – Wiederansiedlungsprojekt befindet sich an der Universität Wien. Sie sammelt alle Sichtungen von Bartgeiern im Bereich der Alpen. Dort können auch weitere Informationen und Meldevordrucke für Beobachtungen angefordert werden. (A-1210 Wien, Veterinärplatz 1, Tel. 0664-820 30 55).

Julius Bittmann



7/2007