Jahrgang 2017 Nummer 1

Der Auszug der Protestanten aus Berchtesgaden

Die Wallfahrtskirche Kunterweg erinnert an ein schmerzliches Ereignis

Stiftspropst Cajetan Anton von Nothafft.

»Durch die Fürbitte der Unbefleckten Jungfrau und Gottesgebärerin ist der verderbliche Irrglaube aus dieser Kirche ausgetrieben worden«. So steht es auf dem Deckenfresko der Wallfahrtskirche Maria Himmelfahrt zu Kunterweg bei Ramsau im Berchtesgadener Land. Allerdings in lateinischer Sprache, sodass es die meisten Kirchenbesucher nicht verstehen. Der selbstbewusste Satz bezieht sich auf die Ausweisung der etwa eintausend Protestanten aus der Fürstpropstei Berchtesgaden im Jahre 1732 durch den damaligen Stiftspropst Cajetan Anton von Nothafft, den man am Fresko der Kapelle sehen kann. Er ist umgeben von Engeln und pausbackigen Putten, während unter seinen Füßen Exulanten kauern, auf die zwei Blitze niederzucken.

Natürlich ist mit dem verderblichen Irrglauben auf der Bildinschrift die protestantische Lehre gemeint. Diese Bezeichnung sowie die gesamte Ikonographie des Bildes, die an die Darstellung des Engelsturzes durch St. Michael erinnert, wirken für uns heute unverständlich und skandalös. Und außerdem: Wie kann man die Vertreibung unschuldiger Menschen nur wegen ihres Glaubens in Zusammenhang bringen mit der Fürsprache der Gottesmutter Maria? Doch vor 300 Jahren gab es in einem römisch-katholischen Land keinen Platz für religiöse Abweichler. Toleranz war ein Fremdwort. Allerdings konnte sich Fürstpropst Cajetan Anton von Nothafft mit seiner Aktion auf den Beschluss des Augsburger Religionsfriedens von 1555 berufen, der den Landesherren, auch den geistlichen Fürsten, das Recht zugesprochen hatte, das Bekenntnis ihrer Untertanen zu bestimmen gemäß dem Grundsatz »Cuius regio, eius religio« (»Wessen das Land, dessen die Religion«).

Die Fürstpropstei Berchtesgaden war der kleinste geistliche Staat in ganz Bayern, hatte aber Sitz und Stimme im Reichstag, und er besaß die Forsthoheit und das Schürfrecht auf Salz und Metall. An der Spitze stand der von den Chorherren auf Lebenszeit gewählte Fürstpropst. Er vereinte in seiner Person die höchste weltliche und geistliche Macht. Die wichtigsten Einnahmequellen waren die Salzgewinnung und der Salzhandel sowie das Holzhandwerk für Hausrat und Spielzeug, die sogenannte Berchtesgadener War'. Die Einwohnerzahl betrug zu keiner Zeit mehr als zehntausend.

Ähnlich wie im benachbarten Erzbistum Salzburg breitete sich auch im Berchtesgadener Land die Lehre Luthers im Geheimen aus, der sogenannten Kryptoprotestantismus. Erste Nachrichten über geheime Zusammenkünfte und protestantische Schriften stammen aus den ersten Jahren des 16. Jahrhunderts. Ausgangspunkt dürfte das Salzbergwerk in Dürrnberg im Salzburgischen gewesen sein. Dort waren protestantische Bergleute aus Sachsen angesiedelt worden. Weitere Kontakte zum Luthertum entstanden durch Kaufleute, die beim Salz- und Schnitzwarenhandel in protestantische Städte wie Augsburg, Regensburg und Nürnberg kamen. Daheim trafen sich die Sektierer heimlich zu Gebet, Gesang und Bibellesung. Deutsche Bibeln, Gebet- und Erbauungsbücher vererbten sich von Generation zu Generation und wurden wie Kostbarkeiten gehütet.

Nach dem Bericht der Chronik trat im Jahre 1521 der evangelische Prediger Jakob Strauss öffentlich in Berchtesgaden auf, begleitet vom Gesellpriester (Kaplan) Christoph Söll, der aus Berchtesgaden stammte. Die Predigten behandelten den Widerspruch zwischen der Bibel und der katholischen Kirche. Vieles, was heute Papst und Kleriker lehrten, stehe nach den Worten der Prediger nicht in den Evangelien – wie die Lehre vom Ablass und vom Fegefeuer, von der Ohrenbeichte und von der Heiligenverehrung. Außerdem sei das luxuriöse Leben vieler Bischöfe und Prälateni ein Skandal angesichts der einfachen Lebensweise von Jesus und der Apostel. Solche Reden mussten bei den Menschen in den geistlichen Fürstentümern wie Berchtesgaden und Salzburg offene Ohren finden, denn sie erlebten täglich hautnah, wie die hohen geistlichen Herren in Saus und Braus von der mühevollen Arbeit und den Abgaben ihrer Untertanen lebten.

Zu ersten Ausweisungen von Protestanten kam es im Jahre 1572. In einigen Häusern waren verbotene Bücher gefunden worden. Die Besitzer wurden verwarnt, wenn sie sich nicht bekehrten, mussten sie das Land verlassen. Später wird von Glaubensprüfungen und dem Beschwören des Glaubensbekenntnisses berichtet. An die Eltern erging die Anweisung, darauf zu achten, dass die Kinder regelmäßig in die Christenlehre gingen. Trotzdem nahm der Besuch des katholischen Gottesdienstes ab. Die neue Lehre breitete sich über die Au, Scheffau, Schellenberg und Gern bis nach Bischofswiesen, ja sogar bis Schönau und Ramsau aus.

Seit dem Augsburger Religionsfrieden hatte der Landesherr das Recht, alle Untertanen aus seinem Land auszuweisen, die nicht bereit waren, die Religion des Landesherrn anzunehmen. Umgekehrt stand aber auch den Untertanen das Recht der Auswanderung aus Glaubensgründen zu. Das letztgenannte Recht war jedoch eine zweischneidige und vor allem eine teure Angelegenheit, die sich nur finanziell Begüterte, also Adelige oder Handwerker leisten konnten. Die meisten Berchtesgadener waren aber Leibeigene, die sich erst für fünf Gulden aus der Leibeigenschaft loskaufen mussten. Vor ihnen stand in der Fremde eine völlig unsichere Zukunft. Zur Vermittlung bei der Suche nach einer neuen Heimat und zur Hilfe bei der Gründung einer neuen Existenz hatten die evangelischen Fürsten ein Hilfswerk für Auswanderungswillige, das Corpus Evangelicorum mit Sitz in Regensburg, ins Leben gerufen.

Im Jahre 1731 erfolgte die Auswanderung von insgesamt 20 000 Salzburger Protestanten unter dem Fürsterzbischof Leopold von Firmian, denen es gelang, in Preußen und Kurhannover Aufnahme zu finden. Einige ließen sich sogar auf Vermittlung der englischen Krone in Nordamerika im Bundesstaat Georgia nieder.

Angeregt durch das Salzburger Beispiel bemühten sich nun auch die Berchtesgadener, in ein protestantisches Land auszuwandern. Eine Delegation zog heimlich nach Regensburg und erkundigte sich dort nach Exilmöglichkeiten. Sie erhielten die Auskunft, es gebe mehrere protestantische Länder, die Exulanten aufnehmen wollten. Zuvor müssten sie jedoch eine Ausreisegenehmigung ihres zuständigen Landesherrn haben. Sie sollten sich in Berchtesgaden beim katholischen Pfarrer als Protestanten outen und um die Ausreise bitten. Daraufhin bekannten sich an die 2000 Personen zum neuen Glauben. Der Pfarrer schickte sie zum Kanzler, dem Vertreter des Fürstpropstes, sie wurden aber nicht vorgelassen. Erst eine Beschwerde beim Corpus Evangelicorum in Regensburg brachte Erfolg. Es gab aber ein Problem: Sie sollten – so der Kanzler – nach Ungarn ausreisen, in Deutschland fürchtete die Regierung eine Konkurrenz für die Berchtesgadener Schnitzwaren. Diese Einschränkung stieß auf den erbitterten Widerstand der Ausreisewilligen und wurde schließlich fallengelassen. Sie mussten sich lediglich verpflichten, sich nicht in der Handelsstadt Nürnberg niederzulassen, denn Nürnberg war der größte Abnehmer der Spielwaren aus Berchtesgaden.

Der soeben erst zum neuen Fürstpropst gewählte Cajetan Anton von Nothafft wertete das Verlangen seiner protestantischen Untertanen, die Fürstpropstei zu verlassen, als Aufruhr und Landesverrat und erließ am 26. Oktober 1732 das sogenannte Emigrationspatent mit der Anordnung, die Aufrührer hätten innerhalb von drei Monaten das Land zu verlassen. Wegen des nahen Winters wurde die Frist dann bis April 1733 verlängert. Bis dahin unterlagen die Exulanten verschiedenen Schikanen: Sie durften keine Patenschaften übernehmen, bei Katholiken nichts einkaufen, ihre Toten nicht am katholischen Friedhof beerdigen und erhielten nicht die Krankenkommunion.

Am 18. April 1733 schlug die Stunde des Abschieds. Als erste verließen die Bischofswiesener ihre Heimat und wanderten zu Fuß über die bayerische Grenze nach Norden. Anfang Juni erreichten sie Berlin, wo sie gemustert und nach Ostpreußen weitergeschickt wurden. Die Auswanderer aus Au, Scheffau und Maria Gern folgten eine Woche später. Sie zogen hinunter nach Hallein, von hier ging es per Schiff auf Salzach, Inn und Donau bis Regensburg und dann auf Schusters Rappen nach Hannoversch-Münden; hier wurden sie auf mehrere Gruppen verteilt und zogen weiter nach Göttingen, Northeim, Einbek und andere Orte. Kurhessen ließ zum Gedenken an die Exulanten eine Silbermünze prägen; sie zeigt auf der Vorderseite das Porträt des Kurfürsten, auf der Rückseite eine Auswanderergruppe mit Berchtesgaden und dem Watzmann im Hintergrund.

Viele Exulanten brachten es in ihrer neuen Heimat dank ihrer Fertigkeiten in der Holzbearbeitung zu Wohlstand und Ansehen, während die Wirtschaftskraft in der Fürstpropstei Berchtesgaden durch den Aderlass von mehr als 10 Prozent emigrierter Handwerkerfamilien spürbar zurückging. Spätere Ausreiseersuchen noch zurückgebliebener Protestanten fanden beim Fürstpropst kein Gehör, er ließ die Pässe sperren und intensivierte die Zwangsbekehrungen durch die Franziskaner. Im Jahre 1788 – so vermeldet eine Chronik – »war jeder Schatten von verdächtigem Glauben aus dem Berchtesgadener Land verschwunden«.


Julius Bittamnn


Literatur: Herbert Schindler »Berchtesgadener
Land und Rupertiwinkel«. – Alfred Spiegel-Schmidt: »Reformation und Emigration im Berchtesgadener
Land« in www. Berchtesgaden-evangelisch.de/geschichte.php.

 

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