Jahrgang 2022 Nummer 46

Den Ruhpoldinger Soldaten ein Denkmal gesetzt

Evi Schweiger hält die Erinnerung an Gefallene und Vermisste wach

Mit diesem Foto ihres Vaters ging Evi Schweiger im Kaukasus auf die Suche.
Zellerbauern-Familie verlor drei Söhne „für Volk und Vaterland“.
Die Tuba spielte später sein Neffe Nikolaus Daburger bei den »Miesenbachern«.
Weltmeister Hans Speckbacher, gefallen auf Kreta.

Wie schnell sich Geschichte wiederholt, vor allem die Kriegsgeschichte der Menschheit, führt uns der durch nichts zu rechtfertigende, militärische Überfall auf die Ukraine wieder einmal auf scheußlichste Weise vor Augen. Wie viele Mütter, Frauen, Kinder werden um ihre Söhne, Ehemänner, Väter trauern, bis endlich die Kriegsmaschinerie irgendwann zum Stoppen kommt? Wann wird der angeblich so intelligente Homo sapiens endlich begreifen, dass mit Krieg kein Blumentopf zu gewinnen ist? Nazi-Deutschland wäre das beste Beispiel dafür.

Das Leid, das derzeit in den umkämpften Gebieten um sich greift, rüttelt auch bei uns – selbst noch achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – traumatische Erinnerungen wach. Eine Ruhpoldingerin, bei der die Bilder aus der Ukraine wieder alte Wunden aufreißen, weil sie als Kind hautnah miterleben musste, wie ihr Vater nicht mehr vom Krieg zurückkam, ist die heute 82-jährige Evi Schweiger. Das Schicksal gefallener und vermisster Soldaten aus ihrem Heimatort ging ihr schon von Jugend an so zu Herzen, dass sie bald anfing, Sterbebilder und Informationen über ihren Kriegseinsatz zu sammeln. Sie besuchte Hinterbliebene, fragte Angehörige und stöberte mit deren Erlaubnis in privaten Unterlagen und Fotoalben. Da viele von ihnen die alte Sütterlin-Schrift nicht mehr entziffern konnten, entschlüsselte Evi Schweiger im Verlauf der Jahre etwa 3000 Feldpostbriefe auf deren oft herzerweichenden Inhalt. Hilfreich bei ihren Recherchen zu den Grablegen erwiesen sich zudem der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes sowie die Anlaufstelle des Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.

Beklemmendes Aufklärungswerk in Ordner gepackt

Das Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Sisyphus-Arbeit – die zugleich ihre Art war, das eigene Trauma zu verarbeiten – hat sie in mehrere dicke Ordner gepackt. Auch den Ruhpoldingern, die zur Kriegsmarine eingezogen wurden, widmete sie ein Kapitel. Das gesamte Material ist mittlerweile von Mitarbeitern des Historischen Vereins, deren Zweite Vorsitzende sie ist, für die Nachwelt digital festgehalten worden. Alles,was sie während ihrer Nachforschungen erfahren konnte, hielt sie minutiös fest und ordnete es dem jeweiligen Soldaten zu. Es ist ein beklemmendes Aufklärungswerk geworden. So erfährt man nicht nur persönliche Angaben zur Abstammung (bei eingesessenen Höfen mit Hausnamen), weiter zum Beruf, dem Dienstgrad, der Heimat-Kaserne, militärischen Auszeichnungen und dergleichen, sondern durch Einträge in den noch greifbaren Wehrpässen auch Vermerke über strategische Truppenbewegungen, die nicht immer die Zustimmung der Soldaten trafen.

So beklagt sich der Dickergschwendter-Sohn von Brand, Georg Schweiger, Jahrgang 1903, im Brief vom 26. Januar 1942 an seine Schwester unter anderem darüber, »…dass wir überhaupt nicht für den russischen Winter ausgerüstet sind.« Kritisch fügt er hinzu: »Hätten sie uns bis zum Frühjahr in Polen gelassen, wären nicht so viele Soldaten an der Front gestorben.« Wenig später wurde auch er schwer verwundet. Georg Schweiger starb am 1. März im Lazarett in Jarzewo in Russland den „Heldentod“.

Außer den russischen Kriegsschauplätzen (Kessel von Stalingrad) lesen sich die Länder und Schlachtfelder, in denen die „Vaterlandsverteidiger“ ihr oftmals blutjunges Leben lassen mussten, wie ein nachträglicher Erdkunde-Unterricht. Jugoslawien, Polen, Slowakei, Serbien, Tschechei, Rumänien, Kaukasus, Bessarabien (Moldau), Ukraine, Kreta, Frankreich, Lybien (Tobruk), Tunesien (Afrika-Feldzug). Dramatisch nimmt sich auch die Liste der dokumentierten Todesursachen aus. Um nur einige zu nennen: Bauchschuss, Kopfschuss, Granatsplitter, Gasvergiftung, Maschinengewehrsalve, Oberschenkel-Durchschuss.

Das Ausbluten einer ganzen Generation Männer

Beim Durchblättern der alphabetisch angelegten Einzelschicksale überkommt einen tiefes Mitgefühl und zugleich ohnmächtiger Zorn darüber, dass dieses unsinnige Abschlachten überhaupt geschehen konnte. Wobei es manche Familien besonders hart traf wie den Zellerbauern-Hof der Pointner-Leute, die gleich drei ihrer Söhne für Führer und Volk opfern mussten. Als erster gefallener Soldat aus dem Ort ist der Hansenbauer-Sohn Anton Hinterreiter vermerkt. Er starb am 17. September 1939, 23-jährig in Ostpolen. Ein trauriger Rekord! Ein bekannter Rekordhalter seiner Zeit war Hans Speckbacher. Zusammen mit seinem Bruder Adam zählte er zur deutschen Spitze im nordischen Wintersport. Er gehörte der Reichenhaller Wehrmachtsstaffel an, die 1937 in Zakopane den Weltmeistertitel holte. Speckbacher fiel imAlter von 26 Jahren auf der Insel Kreta. Andere wiederum kamen in der Heimat zu Tode, wie Josef Praxenthaler, Langerbauern-Sohn, der auf der Fahrt zum Regiment in Schweinfurt tödlich verunglückte, oder der erst 17-jährige Stefan Weiß, der, tragisch genug, kurz vor Kriegsende in Traunstein einem Fliegerangriff zum Opfer fiel. Und so reiht sich ein Schicksal an das andere; untermauert durch unheilvolle Briefnachrichten von der Front mit dem tausendfach wiederholten Standard-Text, der die schreckliche Gewissheit offenbart: Sehr geehrte Frau…..., schweren Herzens habe ich die traurige Aufgabe ihnen mitzuteilen, dass unser lieberKamerad, ihr Ehemann usw. usw.

Dem Vater im Kaukasus auf der Spur

Auch für Evi Schweiger schloss sich der Kreis ihrer aufwändigen Nachforschungen. Ihr Vater Georg Beilhack, der aus Reit im Winkl stammt, ist im Januar 1945 im polnischen Kattowitz gefallen. Sie war gerade mal vier Jahre alt, als die Familie die schreckliche Nachricht erfuhr. In späteren Jahren wollte sie herausfinden, in welchen Kampfgebieten er während des Krieges eingesetzt war. Wenn sie schon ihren Vater so früh verloren hatte, wollte sie ihm wenigstens gedanklich nahe sein. Ihrer Meinung nach ginge das am besten, indem sie seinen Spuren in Richtung Kaukasus folgte. Denn durch Erzählungen ihrer Mutter wusste sie, dass er 1942 auf der georgischen Seite des Elbrus-Gebirges stationiert war. Als Hinweis diente ein Schwarzweiß-Foto, auf dem ihr Vater in einem imposanten Berggelände abgebildet ist. Im Hintergrund zeichnet sich ein markantes, schnee- und gletscherbedecktes Bergmassiv ab. Wie sich später herausstellte, handelt es sich um den 4858 Meter hohen Tetnuldi in der Provinz Svanetien. Durch Zufall (oder war es Schicksalsfügung) konnte sie 2015 spontan an einer Bildungsreise nach Armenien und Georgien teilnehmen. Es wurde eine Tour mit erfolgreichem Ausgang. Ein ortskundiger, 97-jähriger Jäger führte sie genau an die gesuchte Stelle, an der vor achtzig Jahren ihr Vater fotografiert worden war. Beiläufig erzählte er ihr in erstaunlich gutem Deutsch, dass er ebenfalls in diesem Gebiet eingesetzt war, allerdings auf der gegnerischen Seite.

In dem Moment ist ihr klar geworden, warumihr »betagter Guide« so zielsicher auf den gesuchten Punkt hinsteuerte; er kannte in dieser Gegend wohl jeden Baum. Überwältigt von den erlebten Emotionen und einer tiefen Dankbarkeit kehrte sie zu ihrer Reisegruppe zurück. In dem beruhigenden Wissen, ihrem Vater in der Ferne nochmal ganz nah gewesen zu sein.

 

Ludwig Schick

 

46/2022