Jahrgang 2007 Nummer 38

Das Leben der ersten Christengemeinden

Von einer unbedeutenden Sekte in Palästina zur großen Weltreligion

Christliches Ehepaar, römisches Fresko.

Christliches Ehepaar, römisches Fresko.
Der heilige Markus verfasste das vermutlich älteste Evangelium, Ravenna, 5. Jahrhundert.

Der heilige Markus verfasste das vermutlich älteste Evangelium, Ravenna, 5. Jahrhundert.
Wenn der »Schiekei«, wie unser Religionsprofessor Michael Müllner am Gymnasium in Traunstein vor nunmehr 50 Jahren genannt wurde, auf das frühe Christentum zu sprechen kam, pflegte er immer zu sagen: »Schaugt’s Buam, das kann nur der liebe Gott selbst bewirkt haben, dass aus einer so unscheinbaren jüdischen Gruppe in Jerusalem unsere weltweite katholische Kirche mit dem Heiligen Vater an der Spitze geworden ist!« Und er tippte auf der großen Landkarte im Klassenzimmer mit dem Zeigestab zunächst auf das winzige Palästina und dann auf die einzelnen Erdteile, um das gewaltige Wachstum der christlichen Kirche im Laufe der Jahrhunderte zu veranschaulichen.

Nach der Apostelgeschichte waren die Gläubigen in der ersten Christengemeinde ein Herz und eine Seele. »Es gab keinen unter ihnen, der Not litt. Denn alle, die Grundstücke oder Häuser besaßen, verkauften ihren Besitz, und vom Erlös wurde jedem davon soviel zugeteilt, wie er nötig hatte« (Apg. 4, 32-35). Und an anderer Stelle: »Sie verharrten einmütig in der Lehre der Apostel, in der Gemeinschaft des Brotbrechens und im Gebete«. Mag sein, dass der Verfasser der Apostelgeschichte die Verhältnisse im Rückblick etwas zu ideal ausmalt. Doch kann man sich gut vorstellen, dass die junge Gemeinde voll Schwung und Enthusiasmus war, weil sie sich von der Überzeugung des nahen Endes der Welt leiten ließ, wie es manche Aussprüche von Jesus andeuteten.

Die Gebetsstunden wurden noch im Tempel von Jerusalem gehalten, aber ihren eigentlichen Gottesdienst feierten die Apostel in Privathäusern. Mit der eucharistischen Feier zum Andenken an Jesus waren Agapen oder Liebesmähler verbunden.

In der Frage, wieweit die jüdischen Gesetze für die neue Gemeinschaft weitergelten sollten, gingen die Ansichten bald auseinander. Die Gruppe um Jakobus hielt streng am Gesetz einschließlich der Beschneidung fest. In Jesus sahen sie eine durch Wundertaten beglaubigte Prophetengestalt und waren in den Augen der jüdischen Behörden eine Art pharisäische Splittergruppe, die nicht behelligt wurde. Der Kreis um Petrus befürwortete ebenfalls das jüdische Gesetz, wollte es aber für Neubekehrte nicht als Zwang verstanden wissen. Die dritte Gruppe, die Hellenisten, zu denen der erste Martyrer Stefanus gehörte, machte sich von der jüdischen Tradition frei und legte damit die Grundlage für die Theologie von Paulus. Sie betrachteten Jesus als leidenden und wieder auferstandenen Erlösergott, die Taufe als Mysteriensakrament, das letzte Abendmahl als hellenistisches Kultmahl. Nach dem Tode von Stephanus zerstreute sich diese Gruppe sofort in die griechischen Weltstädte außerhalb Palästinas. In Antiochia, der damaligen syrischen Hauptstadt, tauchte zum ersten Mal der Name »Christen« auf, der an die Stelle der bisherigen Bezeichungen »die Brüder« und »die Nazaräer« trat.

In Syrien hatte der erbitterte Christengegner Paulus sein Damaskuserlebnis und begab sich von hier auf seine Missionsreisen. Seine Briefe sind eine hervorragende Quelle für das Leben in den von ihm gegründeten Gemeinden. Ein Schlüsselbegriff für Paulus ist der Begriff »Pneuma«, der Sammelname für die religiösen Erfahrungen der Urchristen. Diese irrationale Macht äußert sich in der Gabe der Heilung, in prophetischer Sprache und im Zungenreden, aber ebenso in sehr nüchternen Eigenschaften wie Organisationstalent, Rednergabe und Sorge für den Nächsten. Spektakulären Erscheinungen gegenüber ist Paulus eher skeptisch, wie sich am Beispiel der Zungenrede, der sogenannten Glossolalie zeigt. Dieses Reden in verzücktem, geisterfüllten Zustand gleicht einem unartikulierten Stammeln, das erst ein Ausleger für die Gemeinde »übersetzen« muss. Paulus, der von sich sagt, er habe mehr als andere die Zungenrede praktiziert, schätzt sie für die Gemeinde gering ein und möchte lieber ohne sie auskommen.

Die christliche Botschaft verbreitete sich erstaunlich schnell in allen Teilen des römischen Weltreichs. Einen wichtigen Grund für dieses Wachstum erblickt der Heidelberger Neutestamentler Gert Theißen darin, dass sich die Christen als das neue Volk Gottes verstanden, das eine übernationale Gemeinschaft sein wollte. Sie machten keine Unterschiede zwischen Armen und Reichen, Frauen und Männern, Freien und Sklaven, Griechen, Römern und Juden. Nicht die Geburt war entscheidend für sie, sondern die Taufe, mit der sie das Bürgerrecht für den Eintritt in das Reich Gottes erwarben.

Paulus hatte wie Jesus in seiner Verkündigung auf das nahe bevorstehende Ende der Welt hingewiesen. Auch die Urchristen lebten ganz in dieser Endzeitstimmung. Die um das Jahr 90 geschriebene Geheime Offenbarung des heiligen Johannes, die Apokalypse, endet mit dem offenbar aus der damaligen Liturgie stammenden Ruf in aramäischer Sprache: »Maran atha – Komm’, Herr!« Aber die Hoffnung der frühen Christengemeinden erfüllte sich nicht, der Jüngste Tag mit dem Gericht über Gute und Böse und der Anbruch eines neuen Äons ließen bis heute auf sich warten, auch wenn manche sektiererischen Bewegungen immer wieder einmal den Weltuntergang prophezeit haben.

Julius Bittmann

Literaturhinweis: Gert Theißen: »Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Urchristentums«, Gütersloher Verlagshaus, 624 Seiten. 39,95 Euro.



38/2007