Jahrgang 2007 Nummer 51

Das Kindl mit dem goldrichtigen Haar

Ein Wundermärchen zur Weihnachtszeit

Es war vor langer, langer Zeit ein Mann, dem waren drei Söhne geblieben, nachdem seine Frau sich hatte zur ewigen Ruhe niedergelegt. Die drei Söhne hießen Baltus, Feltus und Piltus. So seltsam wie sie hießen waren sie auch. Baltus, der Fischer, war ein Tunichtgut, Feltus, der Jäger, ein Taugenichts. Und Piltus, der Jüngste, war ein Tagträumer.

Der Vater war seinem Ältesten, Baltus, und dem Mittleren, Feltus, mehr zugetan als Piltus, dem Jüngsten. Der war nämlich gar nichts, nicht Fischer, nicht Jäger, sondern nur ein Tagträumer. Mochte Baltus, der Fischer auch ein Tunichtgut sein – hin und da gingen ihm ein paar Brachsen oder Aitel ins Netz. Mochte Feltus, der Jäger auch ein Taugenichts sein, bisweilen gelang ihm ein Schuss, der das Herz eines Rehbocks traf.

Piltus aber, der Jüngste, träumte in den Tag hinein. Er saß am Bachufer und sah, wie die Fische sprangen und das Sonnenlicht sie foppte. Er lagerte am Waldrand und wartete, bis sich ein Reh zeigte, um auf der Waldwiese zu äsen. Piltus rührte sich nicht, um das Tier nicht zu verscheuchen. »Du könntest ein Sammler werden«, schlug der Vater einmal vor. »Dann bringst du Pilze und Beeren heim und trägst so deinen Teil zu unserem Leben bei.« Piltus hörte kaum, was der Vater sagte. Er war schon wieder in einen Traum versunken.

Als es mit dem Vater zu Ende gehen wollte, rief dieser seine drei Söhne zu sich und wies ihnen eine Truhe unweit seines Bettes an. »Drei Tage nach meinem Tod«, sagte er, schon in den letzten Zügen, »schließt ihr die Truhe mit dem Schlüssel der Dachbodentür auf. Ihr werdet finden, was euer Ziel sein soll im Leben, in Gestalt dreier hölzerner, schön gekleideter Kindl. Ein jedes trägt einen Stein an einem Bändchen um den Hals. Das mit dem roten Stein gehört Baltus. Das mit dem grünen Stein soll Feltus haben. Und das mit dem weißen Stein kann Piltus nehmen. Gegen den Stein tauscht ihr beim ältesten Goldschmied der Stadt hinter dem Schroffen Felsen das ein, was ein jedes der drei Kindl nötig hat…« Weiter war der Vater mit seiner Rede nicht gekommen. Er neigte den Kopf zur Seite und verschied. Nach drei Tagen – die Söhne hatten um ihren Vater geweint und getrauert und ihn auf dem Kirchhof begraben – schloss Baltus, der Fischer, die Truhe auf, dessen Deckel Feltus, der Jäger aufhielt, um Piltus, dem Jüngsten zu gewähren, die drei Kindlein heraus zu holen und auf den Tisch zu stellen. Die Sonne drängte in dem Augenblick, da die drei Kindl auf dem Tisch standen, mit hellen Strahlen durch das Fenster und ließ die Steine, die die Kindl an einem Bändchen um den Hals trugen, aufblitzen. Am hellsten schimmerte der rote Stein, kräftig auch der grüne, nur matt aber leuchtete der weiße Stein. Jedes Kindl trug ein Kleid aus in sich gemustertem Goldbrokat, durchwirkt von silbernen Fäden. Die aus dem Kleid hervortretenden Beine und Arme und auch der Kopf der Figuren waren aus fleischfarben gefasstem Holz. Aus ihren wasserblauen, gläsernen Augen trat ein mildes Lächeln.

Die drei Jungen schauten ihre Erbstücke an, und da fiel ihnen allen dreien auf einmal ein, was der Vater am Schluss seiner Rede am Sterbebett gesagt hatte: »Gegen den Stein tauscht ihr beim ältesten Goldschmied der Stadt hinter dem Schroffen Felsen das ein, was ein jedes der drei Kindl nötig hat.« Das war, so dachten sie gleichzeitig, nichts anderes als das Haupthaar. Denn jedes der drei Kindlein war kahlköpfig. »Also gehen wir zu dem Goldschmied«, sagten sie nach einer kleinen Weile wie aus einem Mund und zogen mit ihren Steinen am Bändchen in die Stadt hinter dem Schroffen Felsen.

Der Goldschmied, ein buckliger Greis mit Hornbrille und schlohweißem Bart, mochte die drei Burschen bereits erwartet haben. Er fackelte nicht lange und ließ sich von seinen drei Kunden die Steine vorlegen. Den roten Stein tauschte der Alte gegen eine glänzende Allongeperücke en miniature ein. »Die müsste deinem Kindlein passen«, sagte er zu Baltus, dem Fischer. »Tunichtguten passt so etwas. Sie tun gerne groß. Solche Perücken trägt man bei Hofe oder bei Gericht. Dein Kindl wird damit aussehen wie ein fein herausgeputzter Prinz.« – Den grünen Stein nahm der Alte und gab dafür eine kleine Flachsperücke her. »Taugenichtsen setzt man so etwas auf. Sie zeigen damit, dass sie nicht viel mehr wert sind als ein Büschel roher Leinfäden. Dein Kindl wird damit einem kleinen Tölpel ähneln.«

Den weißen Stein ließ der Goldschmied an dem Bändchen baumeln, hielt ihn dann gegen das Licht, bis er schließlich befand, dass es ihm nicht im Traum einfiele, ihn gegen irgend etwas einzutauschen, das das Haupt des dritten Kindls bedecken könnte. »Der Stein ist so gut wie nichts wert«, sagte der Goldschmied. »Genauso wenig wie Tagträume«, murmelte er in seinen Bart. »Nimm deinen weißen Stein wieder«, sagte er zu Piltus. »Und sieh zu, mein Lieber, wie du zu dem kommst, was dein Kindl nötig hat.«

Die drei Burschen kehrten, die beiden älteren froh, der jüngste betrübt, nach Hause zurück. Baltus setzte seinem Kindl die Allongeperücke auf – und es sah aus wie ein fein herausgeputzter Prinz. Feltus stülpte seinem Kindl das Flachshaarbüschel über – und es sah aus wie ein kleiner Tölpel. Piltus aber, der den weißen Stein am Bändchen hin und her zog, besah sich ratlos sein glatzköpfiges Kindl. Wie er dastand, fielen ihm die Lider auf die Augen, und er begann zu träumen. Ihm erschien das Jesuskind als blond gelockter Knabe in einem langen, weißen Gewand, ein mildes Lächeln auf den Lippen. Die taten sich auf und mit süßen Worten entlockten sie dem Tagträumer den wertlosen weißen Stein, der sich vom Bändchen löste. »Was sind schon Perücken gegen goldrichtiges Haar«, sagte das Jesuskind. Und verschwand.

Aus dem Tagtraum erwacht, besah Piltus sich sein Kindlein. Es trug richtiges Haar auf dem Kopf, lockig und flockig, wie keiner ein Haupthaar je gesehen hatte. Sachte wagte es Piltus, den Haaransatz zu untersuchen. Jedes einzelne Haar wuchs aus des Kindls Kopf heraus, wie es aus dem Kopf von Baltus, dem Fischer und Feltus, dem Jäger und Piltus, ihrem jüngsten Bruder eben herauswuchs. Nur üppiger und glänzender und flauschiger.

Piltus rief seine Brüder herbei. Keiner von ihnen konnte leugnen, dass Piltus es war, der das schönste Kindl besaß. Der weiße Stein fehlte an dem Bändchen, Piltus hatte es allein in der Hand. Er legte es, ohne Schmuckstein, seinem Kindl um den Hals. In diesem Augenblick umstrahlte das Kindl mit dem goldrichtigen Haar eine flackernde Glorie. Das Kindl erhob den rechten Arm zum Segen. So blieb es von da an stehen: ein Jesusknabe im silberfadendurchwirkten Goldbrokatkleid, das den Segen gibt.

Aus nah und fern kamen die Menschen, um es zu sehen, es zu berühren und zu bestaunen. Denn das goldrichtige Haar des Kindls von Piltus, dem Tragträumer, hörte nicht auf, aus dem Kopf zu wachsen und zu wuchern, und es musste, wie jedes Menschenhaar, von Zeit zu Zeit, wenn es gar zu lang und beinahe schon unansehnlich geworden war, geschnitten und gebürstet werden.

Von den Locken, die beim Schneiden und den einzelnen goldrichtigen Härchen, die beim Frisieren zu Boden fielen, nahm man sich welche als Andenken mit. Armen Leuten, die damit betend nach Hause gingen, wurden sie zu purem Gold. Piltus erntete dafür Lob und Dank und immer höheres Ansehen. In seinem Glanz, dem Glanz des Tagträumers, sonnten sich auch Baltus, der Tunichtgut und Feltus, der Taugenichts. So hatten die Brüder ihr Auskommen, als Fischer, der hin und wieder ein Schwänzlein aus dem Fluss angelte, als Jäger, der gelegentlich ein Wild erlegte und als Sammler, so wie der Vater der drei Söhne es sich für seinen Jüngsten gewünscht hatte. Nicht Pilze und nicht Beeren sammelte der, sondern Locken vom goldrichtigen Haar des Christkinds.

Hans Gärtner



51/2007