Jahrgang 2003 Nummer 40

Das Ernte(dank)fest – gestern und heute

Auch bei schlechter Ernte überall volle Regale

Glückliche Heimkehr von der Ernte. Ansichtskarte um 1900

Glückliche Heimkehr von der Ernte. Ansichtskarte um 1900
Der Supersommer dieses Jahres hat alle Rekorde gebrochen. Viele Menschen waren vom mediterranen Klima begeistert, erfrischten sich im kühlen Nass oder im schattigen Biergarten. Dass unserer Natur durch die extrem hohen Temperaturen und die langandauernde Trockenheit schwere Schäden zugefügt wurden, ist hinreichend bekannt. Vor allem bei den Ernteerträgen haben sich Einbußen in bisher kaum bekannten Größenordnungen ergeben, die den Bauern schwer zu schaffen machen.

Den Normalverbraucher berührt das kaum. Vielleicht muss er im Supermarkt für das Brot und für die Kartoffeln ein paar Cent drauflegen – mehr passiert nicht. Die Abfolge von Saat und Ernte ist ihm kaum noch vertraut. Früher war das ganz anders. Im Mittelalter und auch in der nachfolgenden Zeit reichten die Nahrungsmittel oft nicht aus, so dass die Menschen, besonders die der unteren Schichten, hungern mussten, erkrankten oder gar starben.

So war damals die Getreideernte eine sehr wichtige Zeit im landwirtschaftlichen Jahr. Zu einem erheblichen Teil hing die Versorgung der Menschen schließlich von ihrem Gelingen ab. Da es noch keine Maschinen gab, mussten viele Hände mit anpacken, die Familie des Bauern, die Knechte, Mägde und Tagelöhner. Mähen, Binden, Beladen der Fuhrwerke – das war Schwerstarbeit vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein.

Kein Wunder, dass es so viele Bräuche darüber gab, denen man heute höchstens noch im Rahmen folkloristischer Veranstaltungen begegnen kann. So war es im 19. und wohl auch noch Anfang des 20. Jahrhunderts gute Sitte, mit geschmückten Sensen aufs Feld hinauszuziehen und unter Einhaltung eines bestimmten Zeremoniells anzufangen. Beliebt war es, den Bauern beziehungsweise den Gutsherrn auf dem Feld an einem Arm festzubinden, wovon er sich durch Bier, Schnaps oder ein Lösegeld schnell wieder befreien konnte. Die letzte Garbe wurde öfters als Opfer auf dem Feld stehen gelassen oder als Puppe in Menschen- oder Tiergestalt gebunden und mit ins Dorf genommen. An beschützende oder strafende Feldgeister wurde also, wenn vielleicht auch nur symbolisch, noch gedacht. Zum Abschluss wurde gern eine aus Ähren und Stroh geflochtene Erntekrone oder ein mit farbigen Bändern geschmückter Erntekranz in den Bauern- oder Gutshof gebracht. Als Gegenleistung der Herrschaft gab es dann ein gemeinsames Essen, oft aber auch ein Fest mit einem üppigen Mahl und ausgelassenem Tanz. Saure Wochen, frohe Feste!

Auch wenn die Menschen neben der Freude an den volkstümlichen Bräuchen wohl schon immer das Bedürfnis hatten, Gott für die Früchte des Feldes zu danken und schon in der Reformationszeit gottesdienstliche Feiern bezeugt sind, so ist es eine Tatsache, dass das weltliche Erntefest bis in die neuere Zeit hinein im Mittelpunkt stand. Erst 1773 wird in Preußen der regelmäßige Erntedanktag eingeführt, der zunächst auf Michaelis (29. September) und dann auf den Sonntag danach gelegt wurde. Dieser Regelung schlossen sich dann auch die anderen protestantischen Kirchen an. Die katholische Kirche im deutschsprachigen Raum hat sich 1972 ebenfalls für den ersten Sonntag im Oktober entschieden. Die Gemeinden der beiden Kirchen haben aber freie Hand, auch einen anderen Termin auszuwählen. Auf jeden Fall werden in diesem Jahr die Altäre der Gotteshäuser am Erntedankfest wieder reich mit den Früchten des Feldes und Gartens geschmückt sein, die dann an Bedürftige verschenkt werden. In machen Orten gibt es auch noch einen Erntedankzug, meist dann, wenn am gleichen Tag auch das Kirchweihfest gefeiert wird.

Das bekannteste Erntedankfest im außerdeutschen Sprachraum ist der in den Vereinigten Staaten von Amerika seit 1621 begangene Thanksgiving Day, bei dem es sich nicht um ein kirchliches, sondern um ein weltliches Fest handelt. Es wird am vierten Donnerstag im November gefeiert und hat sich neben Weihnachten zum größten Familienfest des Jahres entwickelt.

Erntedankfest – ein Tag, um zu danken und auch nachzudenken. Während wir im Überfluss leben, leiden vor allem in den Entwicklungsländern mehr als 800 Millionen Menschen an Unter- und Mangelernährung. Viele der auf diese Art Geschwächten, vor allem Kinder, sterben. Dabei wäre genug für alle da. Und weiter: Gehen wir mit der uns anvertrauten Natur verantwortungsbewusst um? Die durch die Klimaveränderungen vermehrt auftretenden Naturkatastrophen und die Lebensmittelskandale der letzten Jahre geben deutliche Antworten, die sehr ernst genommen werden müssen und bei jedem zur Gewissenserforschung und Positionsbestimmung führen sollten.

HF



40/2003